28. Oktober 2017

Mathis der Maler – Rasmus Baumann.
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen.

19:30 Uhr, Parkett links, Tür 1, Reihe 4, Platz 110



„Was ist Kunst dem Menschen in Ausweglosigkeit? Beziehungsweise dem Künstler? Existenzielle Äußerung des Menschseins in unmenschlicher Zeit? Triebfeder einer Existenz ohne Perspektive?“ – die einleitenden Gedanken, welche ich nach meinem ersten Besuch an diesem Hause, zur Produktion „Der Kaiser von Atlantis“ (Link) an der kleinen Bühne des MiR festhielt, lassen sich in verblüffender Deckungsgleichheit auch auf das heute einen Steinwurf Erlebte übertragen. Bezog sich die Fragestellung seinerzeit insbesondere auf die Umstände der Entstehung, so trifft sie auf Hindemiths Oper gleich in doppelter Weise zu. Schrieb Ullmann sein Werk als Häftling in Theresienstadt, fällt die Entstehung von „Mathis der Maler“ in die Anfänge des Regime-Terrors gut zehn Jahre zuvor – die Bücherverbrennung im dritten Bild als erschreckender Widerhall der Geschehnisse 1933. Zum anderen stellt Hindemiths Arbeit aber auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Stellenwert des Künstlers und seiner Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Zersetzung, im Angesicht von Krieg, Hunger und Not dar. Wenn man so will die letzte Konsequenz in der langen Tradition von Künstleropern wie dem Tannhäuser, den Meistersingern oder Pfitzners Palestrina.

Das Theater Gelsenkirchen beweist nach dem eindringlichen Kammerspiel Ullmanns, dass es auch ein Riesenwerk wie Hindemiths Mathis zu stemmen in der Lage ist, und das in bestechender musikalischer wie szenischer Qualität. Orchester, Chor und Ensemble hinterlassen einen durchweg starken, homogenen Eindruck. Der Sänger der Hauptpartie besitzt einen eher lyrischen Bariton, was dem Mathis eine deutlich weichere Färbung gibt, als ich sie vor Jahren in der Hamburger Inszenierung durch das imposant-ehrfurchtgebietende Organ eines Falk Struckmann vermittelt bekam. Yamina Maamar als Ursula hat einen leicht herben Einschlag, an den ich mich etwas gewöhnen musste, aber abgesehen davon füllt sie die Rolle darstellerisch wie stimmlich sehr intensiv aus. Tobias Haaks überzeugt mit strahlendem Tenor, Bele Kumberger als seine Tochter zart und verletzlich. Martin Homrich verkörpert den zerrissenen Fürsten mit all seinen Facetten – Autorität und Last der Macht, politische Verpflichtung sowie privater Glaube und persönliche Wünsche.

Die Regie siedelt den Konflikt zwischen den Konfessionen sowie zwischen einfachem Volk und Adel in einer Art überzeitlichen Gegenwart an. Mathis wird als avantgardistischer Künstler gezeichnet, dessen Werk von den „Schwarzröcken“ – in diesem Fall kunstsinnige Vernissage-Gänger statt Kleriker – in betont kritischer Pose bestaunt wird. Sein größter Fan und Mäzen, der Kardinal und Landesfürst, hat eine ganze Schatzkammer voll Exponate aus allen Epochen, da darf der neueste Mathis natürlich nicht fehlen. Wenig verwunderlich, dass angesichts des aktuellen Kriegs gegen Ketzer und Bauern die Staatskasse leer ist und die Erschließung neuer Geldquellen höchste Dringlichkeit besitzt.

Diese Situation suchen die Protestanten wiederum für ihre Ziele zu nutzen, indem sie, bzw. Luther selbst brieflich, dem Kardinal eine Vernunftehe mit Ursula, der Tochter eines reichen Bürgers und Neugläubigen, schmackhaft zu machen versuchen. Während sich an dieser Konstellation der politische Zündstoff des Stückes entzündet, ist Mathis’ Konflikt ein persönlicher. Gleich zu Beginn der Oper fragt er sich selbst, ob sein Schaffen genug sei im Angesicht der Auseinandersetzungen seiner Zeit. Der Bauernführer Hans Schwalb wird ihm wenig später die Frage erneut direkt stellen (interessanterweise mit der gleichen Gesangslinie), als er und seine Tochter bei dem Künstler Schutz vor ihren Verfolgern suchen. Diese Frage ist es, die Mathis in der Folge Partei ergreifen lässt für die Schwachen, ob geknechtete Bauern oder die durch eben jene bedrohte Gräfin Helfenstein, aber letztendlich, nach der großen Vision im zweitletzten Bild, doch wieder auf seine Kunst zurückwirft.

Die Inszenierung funktioniert auf allen Ebenen ausgesprochen gut. Das modulare Bühnenbild mit seinen frei verschiebbaren Wandelementen ermöglicht schnelle Wechsel zwischen den oft beinahe nahtlos ineinander übergehenden Bildern. So wird in Windeseile aus dem überschaubaren Atelier Mathis’ eine repräsentative Halle am Hofe Albrechts von Brandenburg. Die einzelnen Kompartimente zitieren wiederum in ihrem Stil die Architektur des Mittelalters, Rundbögen, verputzte Gewölbe und schaffen einen Kontrast zu den Kostümen aktueller Couleur: Mathis im weißen Anzug mit Fliege, leicht dandyhaft, seine Ausnahmestellung betonend; der Kardinal beim offiziellen Anlass mit Bischofshut und prächtiger Robe, aber auch verspiegelter Sonnenbrille, ansonsten in edlem Zwirn wie seine Entourage, bis er schließlich nach seinem Sinneswandel Pullunder und Käppi als Büßergewand wählt. Hans Schwalb martialisch mit Bomberjacke, Tarnhose und Armeestiefeln, das Bauernheer ein zusammengewürfelter Haufen, eine zeitgenössische Miliz. Die Soldaten der Staatsgewalt hingegen betont unkonkret, ausgestattet mit Protektoren und Helmen aus dem Sportbereich, ihre Führer geschmackvoll gekleidet mit Trenchcoat, auch wenn ihr Auftreten und Handeln wenig Geschmackvolles hat.

Brutalität und Gewalt durchziehen die Oper, in diesem Zusammenhang gebührt dem Regieteam großes Lob für die Visualisierung dieser Szenen. Die Erfahrung zeigt, dass allzu plattes Realismusstreben hier häufig kontraproduktiv wirkt, in diese Falle tappt man in Gelsenkirchen nicht. Drei Beispiele: Das Aufeinandertreffen zwischen Katholiken und Protestanten gipfelt in einer Tortenschlacht, was einerseits illustriert, wie kindisch der Glaubenszwist ist, es den Beteiligten andererseits ermöglicht, sehr physisch zu Werke zu gehen. Die Folter und Ermordung des Grafen durch den Bauernmob wird zwar sehr realistisch dargestellt, allerdings sorgt die Verwendung von schwarzer statt roter Farbe für das Blut für ein gewisses abstraktes Moment. Bei der Vergewaltigung seiner Frau übernimmt eine weibliche Darstellerin die Rolle des Schänders, was deutlich macht, dass Gewalt und Missbrauch geschlechtsunabhängig von den Menschen Besitz ergriffen haben.

Die Personenregie offenbart einen überaus genauen Blick auf den Text, etwa wenn gleich von Anfang ein eine Beziehung zwischen Mathis und Ursula gezeigt wird oder auch wie herrlich die Ironie unterstützt wird, wenn von der seltsamen Reliquienvermehrung die Rede ist: das „Heiligste“ wird von zwei kaugummikauenden Presenterinnen überaus weltlich in Szene gesetzt – Erlösung aus dem Teleshop. Die große Vision Mathis’ besticht durch überbordende Ideenfülle und Intensität: Das naive Bild der betenden Engel, Ursula gleichsam als Heilige (die Farbe Blau/Marienfigur) und Hure (Lackstiefel unter dem Gewand), generell alle „verzerrten“ Figuren, angefangen bei Schwalb, der als bizarrer General wiederkehrt bis hin zum grell-grotesken Personal der Hölle, die sich aus dem Bühnenschlund auftut. Einfach starke Bilder.

Und mit einem starken Bild endet auch diese Produktion: der Schlagbaum ins Nichts. Regina, nunmehr Aktivistin („Stop War“), wird direkt, nachdem sie ihn passiert hat, inhaftiert, abgeführt. Dann folgt Mathis. Er hat sein Päckchen gepackt, der Künstler geht in eine ungewisse Zukunft – Ullmann wurde in Ausschwitz ermordet, Hindemith verließ seine Heimat als Emigrant.


Mathis der Maler – Paul Hindemith
Musikalische Leitung – Rasmus Baumann
Inszenierung – Michael Schulz
Bühne – Heike Scheele
Kostüme – Renée Listerdal
Licht – Patrick Fuchs
Dramaturgie – Gabriele Wiesmüller
Chor – Alexander Eberle

Mathis, ein Maler am Hof Albrechts – Urban Malmberg
Albrecht von Brandenburg – Martin Homrich
Riedinger – Luciano Batinić
Ursula, Riedingers Tochter – Yamina Maamar
Hans Schwalb – Tobias Haaks
Regina, Schwalbs Tochter – Bele Kumberger
Wolfgang Capito – Edward Lee
Lorenz von Pommersfelden – Joachim Gabriel Maaß
Gräfin Helfenstein – Almuth Herbst
Truchseß von Waldenburg – Jacoub Eisa
Sylvester von Schaumburg – Tobias Glagau
Der Pfeifer des Grafen – Apostolos Kanaris

Opern- und Extrachor des Musiktheater im Revier
Statisterie des Musiktheater im Revier
Neue Philharmonie Westfalen

25. Oktober 2017

The Cleveland Orchestra – Franz Welser-Möst.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 13 E, Reihe 3, Platz 13



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 6 a-Moll


Das flotte, zackige Dirigat Welser-Mösts hat mich ziemlich überrascht, weil ich den Mann irgendwie mit eher breiten Tempi abgespeichert hatte – wohlgemerkt nicht im Zusammenhang mit Mahler. Hat mir sehr zugesagt, gleich der erste Satz startet energisch und drängend, wie es sein soll. Auch die wehmütig-zerrissene Stimmung des Andante – heute an zweiter Stelle stehend – wurde sehr intim eingefangen. Im Scherzo, insbesondere aber im Finale, ließ Welser-Möst, ungeachtet der fortwährenden Steigerungs- und Auflösungswellen an der Grenze des orchestral Leistbaren, nie Zweifel an der Klarheit der monumentalen Konzeption Mahlers aufkommen und trieb sein Orchester gleichzeitig zu einem äußerst mitreißenden Kampf der Kräfte an. Momente der Kontemplation wiederum, wie die Passagen mit Herdenglocken und Glockenschlägen aus der Ferne, welche rechts und links im hinteren Zugangsbereich zur Bühne realisiert wurden und für einen akustisch bemerkenswert stimmigen Effekt sorgten, gestaltete der Dirigent mit der gebührenden Sensibilität.

Zwei Einschränkungen sorgten allerdings dafür, dass mir persönlich das letzte Quäntchen Mahler-Rausch versagt blieb: Ohne Welser-Mösts Konzeption an sich in Frage stellen zu wollen (über Kleinigkeiten lässt sich natürlich immer streiten – so ging ich beispielsweise mit der Artikulation eines bestimmten Streichermotivs im Andante und dem damit verbundenen Ausdruck nicht ganz mit), bin ich doch bei aller Wertschätzung für Präzision und Kontrolle ein Freund davon, die abgründigen Extreme bei Mahler auf der letzten Rille zu fahren. Derb reicht da manchmal nicht, das kann dann ruhig ins Vulgäre umschlagen. Kontraste nicht allein im Tempo und der Dynamik, sondern immer auch im Klangbild. Und diese Einschätzung geht mit Einschränkung Nummer zwei einher: Die Gäste aus Cleveland sind ein Spitzenorchester, liefern aber nicht immer unbedingt die Klangfarben, welche mir für Mahler vorschweben. Es ist schwer, das an einzelnen Orchestergruppen festzumachen, aber der Vergleich mit anderen Weltklasse-Klangkörpern in diesem Saal fällt rein subjektiv nicht zu Gunsten der Amerikaner aus.

Dennoch bin ich mehr als froh und dankbar, diese sinfonische Tour de Force in solch vollendeter Darbietung erlebt zu haben. Für Mahler nur das Beste – Geschmäcker hin oder her.

21. Oktober 2017

Les Troyens – John Fiore.
Semperoper Dresden.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Tür F, Reihe 5, Platz 23



Berlioz gehört ja zu meinen absoluten Lieblingen. Die ganze Figur des scharfzüngigen Feuerkopfs und experimentierfreudigen Orchesterinnovators fasziniert mich seit eh und je – und dann erst seine Werke! Ob Requiem, Fausts Verdammnis oder die unausweichliche Symphonie Fantastique, ob Harolds gebratschte Italiensehnsucht, der irisierende Streicher- und Harfen-Glitzer der Fee aus Romeo und Julia oder der bald lähmend düstere, bald machtvolle Bläsersatz der Grande symphonie funèbre et triomphale – Ein Komponist der feinen wie der großen Geste, ein Komponist der Kontraste. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass seine größte, zumindest ambitionierteste, zeitlich ausgedehnteste Beschäftigung mit dem Musiktheater meine Reiselust weckt, wenn es an solch exquisitem Hause gegeben wird.

Ich schreibe absichtlich „ambitionierteste“ und nicht „beste“ Arbeit, weil ich mir nach dem dritten Liveerlebnis dieses Werkes immer noch nicht ganz sicher bin, wie und wo genau ich es in mein Berlioz’sches Schwärmportfolio einzuordnen habe. Die Berliner Produktion ließ mich seinerzeit erst begeistert (Link), dann reserviert (Link) zurück, und auch heute bleibt ein ambivalentes Gefühl zurück. Die Partitur enthält fraglos jene Schön- und Kühnheiten, für die ich Berlioz so liebe, macht es dem Hörer angesichts ihrer Länge und Komplexität nicht gerade leicht, von diesem nach jenen wenigen und seltenen Begegnungen vollumfänglich erfasst und somit auch geschätzt zu werden. So verließ ich nach fünf Stunden die Semperoper mit der Frage, ob da an diesem Abend nicht doch mehr drin gewesen wäre.

Bei der Spurensuche diesbezüglich möchte ich mich in erster Linie auf die Inszenierung stürzen, da die musikalische Umsetzung ohne Zweifel kaum Anlass zur Beanstandung bot – im Gegenteil, aber dazu später mehr. Willkommen in Troja, oder besser gesagt, willkommen in Dresden, denn die seit zehn Jahren belagerte und nun nach dem scheinbaren Abzug der Griechen in Feierlaune befindliche Stadt ist in dieser Produktion die Elbmetropole Ende des 19. Jahrhunderts (Im Programmheft ist vom "Fin de siècle" die Rede, aber die preußische Pickelhaube hat bei Herrn Falaschi noch nicht Einzug gehalten). Die Feierlichkeiten zum trügerischen Frieden finden demnach auf dem Opernplatz statt, eine große Architekturzeichnung der Semperoper dominiert das Bühnenbild. Eine vielleicht erst mal befremdlich anmutende „Aktualisierung“, bei der sich Frau Steier und ihr Team aber sicher etwas gedacht haben werden. Nicht unspannend, das Problem nur: welche Absicht auch immer sich dahinter verbirgt – sie erschloss sich mir im weiteren Verlauf der Inszenierung leider nicht. Ich möchte gern glauben, dass mehr als ein lokaler Bezug hergestellt werden sollte, bleibe jedoch ratlos. Troja kann überall sein? Dafür brauche ich dann keine sächsischen Uniformen aus dem Militärmuseum, sorgsam ondulierte Schnurr- und Backenbärte bei den Herren sowie in der Mode der Zeit gekleidete Damen. Das Militär hat bei den Trojanern die Hosen an, schon klar, aber auch dafür ist diese örtliche und zeitliche Eingrenzung nicht relevant.

Abgesehen von jener Irritation muss man es den Verantwortlichen aber lassen, dass sie mit der gleichen Detailversessenheit der Maske und Kostüme ebenso die Personenregie bedacht haben, so dass es gerade bei der Fülle an Massenszenen mit Choristen und Statisten viel zu entdecken gibt. So ist das Volk nicht allein trunken des Sieges, sondern gibt sich frohgemut allerlei alkoholischen wie kulinarischen Genüssen hin – Der König selbst (Priamus hier folgerichtig als Albert von Sachsen) macht den Anstich, die Gulaschkanone dampft, Würstchen finden hungrige Abnehmer. Optisch ansprechend und räumlich clever gelöst ist die Szene, in der einzelne Tribünensegmente, einem kleinen Ballett gleich, über die Bühne dirigiert werden – eines für das Volk, eines für den Klerus und eines für den Hofstaat. Viele der Choristen scheinen kleine Rollen einstudiert zu haben, an jeder Ecke spielen sich Mini-Szenen ab, so dass man im Gewusel mitunter gar nicht alles mitbekommt.

Der König ist ein Stoffel, der erst von seiner Gattin ermahnt werden muss, beim Erscheinen der Witwe Hektors Haltung anzunehmen, Aeneas versucht den Halbwaisen mit einem Luftballon aufzuheitern und durch eine Partie Stein-Schere-Papier auf andere Gedanken zu bringen. Die Mutter verliert beim Anblick eines Säuglings vollends die Fassung und muss gewaltsam von dem fremden Kind getrennt werden. Die Tragik der Szene wird andererseits durchaus gebrochen, beispielsweise wenn der Soldat der derangierten Witwe verschämt ein Würstchen anbietet. Manche Grausamkeit wird wiederum mit einem Hyperrealismus zelebriert, so etwa bei der Präsentation Laokoons, dessen entstellter Leib direkt der Pathologie entnommen scheint, oder wenn Cassandra einer Trojanerin in der Gewalt der Griechen mit einem Hieb den Bauch aufschlitzt, dem daraufhin ein ordentliches Bündel blutiges Gekröse entspringt.

Die Schreckensvisionen der besagten Seherin tauchen die Bühne jeweils in ein gespenstisches, gelbes Licht; während Cassandra versucht, Einfluss auf ihre Mitbürger zu gewinnen, bewegen sich diese in Zeitlupe, unbeeindruckt, verlachen sie. Bei dem vergeblichen Versuch, ihren Verlobten zur Flucht zu bewegen, ist ihr verstorbener Sohn als Gespenst allgegenwärtig. Letztlich kann sie weder ihren Liebsten retten noch verhindern, dass das Pferd der Griechen in die Stadt gebracht wird – in dieser Inszenierung ist es eine Kopie des Reiterstandbildes auf dem Opernplatz. Warum auch immer, mehr als einen Gag konnte ich darin nicht erkennen. Das trojanische Pferd ist ein Fremdkörper, eine scheinbare Opfergabe der Griechen – das Reiterstandbild ist ein Teil Dresdens, somit Trojas. Egal.

Der theoretische Hauptcharakter Énée bleibt erst mal unauffällig. Er ist ein Tunichtgut, der sich mit Damenbesuch auf seinem Zimmerchen vergnügt, während die Griechen die Stadt in Schutt und Asche legen. Die unstrittige Zentralfigur der ersten beiden Akte stellt hingegen Cassandra dar. Aus meiner Sicht hat Berlioz für sie auch die beste Musik des Trojaner-Teils der Oper geschaffen, namentlich ihre Überzeugungsversuche, besonders ergreifend in der Dialogszene mit ihrem Verlobten Chorèbe, bevor sie schließlich in wahnhaftem Eifer zum Massenselbstmord der Trojanerinnen aufruft. An vielen Details der Instrumentation wird deutlich, wie effekt- und wirkungsvoll Berlioz für das Theater komponierte, etwa anhand des langsam aus Fernorchesterweiten anschwellenden Triumphmarsches oder der Erscheinung des toten Hektors – erst düstere, leise Klänge der Vorahnung, dann ein greller Beckenschlagblitz aus dem Nichts.

Nach der Pause geht es in Karthago ähnlich aufwändig weiter, wir erleben das emsige Treiben der Tyrer, ihrerseits eine Art Studie des vorrevolutionären Russlands – orthodoxe Priester, Trachten, Flechtfrisuren. Hammer und Sichel im Gebrauch künden vom Arbeiter- und Bauernstaat. In diese Idylle stranden die Dresdner Militärs, Pardon, die Trojaner. Zweifel daran, wie zwingend diese Bemäntelung der beteiligten Parteien ist, wohin sie führt, mehren sich. Aller Akribie der Personenregie – die Dresdner/Trojaner richten sich in Karthago häuslich ein, hissen ein Semperoperbanner und befeuern die Gulaschkanone nach erfolgreichem Feldzug gegen die nubischen Aggressoren – steht doch überraschend wenig Idee gegenüber.

Sicher, ein ganz wesentlicher Eingriff der Regie besteht darin zu zeigen, wie sich die Krieger nicht allein an Bier und Würstchen, sondern auch an den karthagischen Frauen gütlich tun, und das in bester Besatzungsmachtmanier. Das ist ja auch nicht dumm, kommt den Frauen in diesem Werk doch eine, wenn nicht die zentrale Rolle zu, als Einzelpersonen (Cassandra/Dido) wie im Kollektiv. Um allein auf diesen Umstand hinzuweisen, hätte es aber nicht dieser Pseudo-Aktualisierung bedurft, die eher in die Irre führt. Das Leid, welches Krieg – und Krieger – gerade bei der weiblichen Bevölkerung verursachen, ist ein leider allgemeiner, ja ewiger Gegenstand menschlicher Geschichte. Ich weiß nicht, was dieser falsche Realismus dem hinzufügt. Die Unterredung der beiden Trojaner über die Vorzüge des Müßiggangs in der Fremde in einer Vergewaltigung gipfeln zu lassen, legt den Finger in die richtige Wunde – den ganzen Kostümfundus-Mummenschanz braucht es da gar nicht (Bezeichnenderweise rief gerade diese Szene den Unmut einiger Besucher hervor – das alte Thema: man möchte sich die selbst geschaffene Illusion belangloser Oberflächlichkeit, bemäntelt als „Schönheit“, im Theater nicht zerstören lassen).

Vollends entglitt die Kostüm-Charade dann bei der Abwendung des Überfalls auf Karthago. Die Nubier als Krummsäbel schwingende Klischeearaber, denen in Karl-May-Festspiel-Qualität der Garaus gemacht wird. Während des nachfolgenden Zwiegesprächs zwischen dem Minister und Didos Schwester ist es schwer, bei aller ausinszenierten Leichenfledderei und minutiösen Abtransports der Gefallenen überhaupt noch etwas vom Inhalt der Unterhaltung mitzubekommen. Zur Walzerseligkeit der Liebesmusik von Dido und Aeneas treiben trojanische Wachen das karthagische Volk über die Bühne – gelangweilte Krieger sind eine Zeitbombe, ich hab's begriffen. Vorher schon. Die Ballettszenen scheinen gekürzt, dafür gibt es ein paar Artisten – Szenenapplaus, natürlich.

Der letzte Akt schließlich wartet mit weiteren Ärgernissen – warum müssen die Trojaner an solch leiser Stelle an den Segeln ihrer Requisiten-Schiffchen rumfummeln? – aber auch mit der stärksten Szene des Abends auf: die Idee, die verstorbene Cassandra und ihren Sohn der verzweifelten Dido als tröstende Geister an die Seite zu stellen, ist ebenso zwingend wie ergreifend. Ansonsten endet die Inszenierung unbefriedigend – der Sockel des Reiterstandbild-Zitats muss als Scheiterhaufen herhalten, Dido bekommt noch ein neues dekoratives Kleid und geht mit Aeneas´ Waffenrock in den Tod.

Kommen wir nach so viel Ambivalenz des Szenischen zur erfreulich homogenen und erwartet hohen Qualität der musikalischen Umsetzung. Konfrontiert mit einem doch eher überschaubaren Orchestergraben, geriet die üppige Besetzung zur räumlichen Herausforderung – Teile des Blechs, an einer Stelle gar des Chores, wurden daher ins Proszenium ausgelagert. John Fiore hatte die Klangmassen dennoch bestens im Griff, sorgte für Momente kolossaler Energieentladungen, hatte aber eben gleichermaßen das feine, zarte der Partitur im Blick. Die Staatskapelle Dresden, abgesehen von minimalen Schönheitsfehlern im Blech, mit einer bärenstarken Leistung. Die Chöre druckvoll, ekstatisch.

Aus der Sängerriege stachen die beiden großen Damenpartien nicht allein aufgrund ihrer Anteile und Bedeutung wegen heraus. Zum einen Jennifer Holloway als Cassandra, die mich heute am meisten beeindruckt hat – feinstes Mezzo-Timbre mit einer gehörigen Portion Feuer und – trotz der tragischen Anlage der Rolle – Erotik, zudem eine Sängerin mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz. Zusammen mit dem wunderbar weich-samtigen Bariton Christoph Pohls, lyrisch und voller Schmelz, bildete sie für meine Ohren das Paar des Abends, in jedem Fall die besten Stimmen der beiden Troja-Akte. Das eigentliche Traumpaar (oder Albtraumpaar, angesichts des Ausgangs ihrer Beziehung) Dido und Aeneas, konnte mich zuerst nicht in gleichem Maße fesseln, da ihre Verkörperer stimmlich doch aus etwas anderem Holz geschnitzt schienen. Bryan Register besitzt einen warmen, angenehm edlen Tenor ohne Schärfe, aber gleichzeitig auch ohne die letzte heldische Strahlkraft, was sich insbesondere bei Spitzentönen bemerkbar machte. Christa Mayers Stimme ist im Gegenzug zu Frau Holloway weniger von sinnlicher Leidenschaft geprägt, ihre Dido hat etwas mütterlich-gütiges, ich höre hier weniger vom Feuer der Liebe, als es die Partie vielleicht verlangt – halt mehr Brangäne als Isolde. Mayers Stunde schlägt jedoch dann, wenn der trojanische Thronflüchtling längst über alle Berge ist. Die Verzweiflung, Wut und tiefe Traurigkeit der Königin in ihrem nicht enden wollenden Abschied von ihrer Liebe, sich und der Welt, kann man intensiver, nuancenreicher wohl kaum transportieren – überragend. Aus einer Fülle weiterer sängerischer Glanzlichter möchte ich Simeon Esper hervorheben, der mit dem Lied des Hylas seinen fein-edlen Tenor erstrahlen ließ.

Am Ende gelange ich wieder zu Berlioz und der Frage, ob diese Oper einmal einen ähnlichen Stellenwert bei mir innehaben wird, wie so viele andere seiner Werke. Ich bewundere auch hier den Instrumentationsmagier. Die zweite Geistererscheinung toppt die erste noch an Ungeheuerlichkeit – Flageolett, höchste Höhen gegen tiefsten Bassgrund. Klingt so einfach, das Ergebnis lässt die Nackenhaare tanzen. Ebenso zeigt sich wieder der Schöpfer von Kühnheiten – die Intervalle direkt vor dem Liebesduett machen mich in bestem Sinne fertig. Und dann sind da diese unglaublichen Schönheiten, scheinbar aus dem Nichts, beispielsweise wenn jene unfassbar anrührenden Holzbläserfiguren, vor allem die der Flöten, Dido auf ihrem letzten Weg begleiten. Überhaupt Dido – was für ein unerhört endloses Ende. Die Trojaner sind ein Werk, das nicht leicht zu knacken ist, soviel habe ich gelernt. Aber ich möchte es gern weiter versuchen.

PS: Es mag vielleicht banal klingen, aber mir ist erst heute die verblüffende Ähnlichkeit im Grundkonflikt aufgegangen, welche die Trojaner mit der fast zeitgleich entstandenen Afrikanerin/Vasco de Gama von Meyerbeer teilt – hier wie dort dreht sich alles um eine Exotische Königin, die einem fremden Eroberer Asyl gewährt, sein Herz an ihn verliert und schließlich ihren Leben selbst ein Ende setzt, nachdem er sie verlassen hat. Zweimal Grand opéra – zweimal ganz große Oper.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – John Fiore
Inszenierung – Lydia Steier
Bühnenbild – Stefan Heyne
Kostüme – Gianluca Falaschi
Licht - Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Leitung Kinderchor – Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie – Anna Melcher

Énée – Bryan Register
Chorèbe – Christoph Pohl
Panthée – Ashley Holland
Narbal – Evan Hughes
Iopas – Joel Prieto
Ascagne – Emily Dorn
Cassandre – Jennifer Holloway
Didon – Christa Mayer
Anna – Agnieszka Rehlis
Hylas / Hélénus – Simeon Esper
Priam – Chao Deng
Der Schatten Hectors / Mercure – Alexandros Stavrakakis
1. trojanischer Soldat / ein griechischer Führer – Jirí Rajniš
2. trojanischer Soldat / Soldat – Mathhias Henneberg
Hécube – Ute Selbig
Polyxène – Roxana Incontrera
Andromaque – Angela Schlabinger

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden

Artisten
Damen, Herren und Kinder der Komparserie

10. Oktober 2017

Royal Concertgebouw Orchestra – Peter Eötvös.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Ebene 15 R, Reihe 1, Platz 5



Arnold Schönberg – Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34
Béla Bartók – Tanzsuite in sechs Sätzen Sz 77
Igor Strawinsky – Sinfonie in drei Sätzen

(Pause)

Peter Eötvös – Multiversum

(Iveta Apkalna – Orgel, László Fassang – Hammondorgel)


Eine weitere Folge der mittlerweile bei mir sehr beliebten Serie „Spitzenorchester abseits ausgetretener Pfade“, heute: der niederländische Premium-Klangkörper präsentiert Klassiker der Moderne und eine Uraufführung. Geleitet von Peter Eötvös, Dirigent und Komponist in Personalunion, welcher der Premiere seiner neuen Schöpfung somit praktischerweise vom Pult aus beiwohnen durfte.

Den Dirigenten Eötvös einzuschätzen fiel mir nicht leicht, da ich bei drei der vier Werke, die er zwar ohne Taktstock aber mit Partitur anging, keinerlei Interpretationsvergleiche ziehen kann. Einzig Strawinskys Sinfonie habe ich bereits ein paar Mal gehört und hier hätte ich mir tatsächlich deutlich mehr Kante in der Artikulation gewünscht, das Ganze im Ausdruck aggressiver, maschineller, die durch die perkussiven Akkorde des Klaviers angetriebene „Verfolgungsjagd“ des ersten Satzes atemloser, die Sacre-artigen Schläge brutaler. So war mir das alles zu rund, zu gefällig. Auf der anderen Seite konnte ich auch mit dieser Interpretation gut leben, nur dass „gut“ eben nicht die Kategorie ist, die ich bei solch höchstkarätigen Gästen erwarte.

Denn das Royal Concertgebouw Orchestra klingt schon mal per se nicht gut, sondern grandios. Und man kann es nicht oft genug sagen: für solche Orchester wurde diese Halle, diese Akustik entworfen. Eigentlich vom Beeindruckungsfaktor eine Neuauflage des Konzerts vor fast sieben Jahren in der Laeiszhalle (Link), nur was die Übertragung dieser Qualität betrifft eine ganz neue Dimension. Der typische, herbe Streicherklang, den ich nur zu gut von diversen (DECCA-)Einspielungen kenne und schätze, welcher mir damals offenbar fehlte, entfaltet sich in der Elbphilharmonie auf das Zarteste, Wärmste. Und was ist das bitte für ein makelloses Flageolett?

Krasse Klangfarben und -Wirkungen wohin man lauscht, veredelt durch die magische Transparenz der Akustik. Das Aufrauschen der Harfe geht nicht im Tutti unter, wie in vielen anderen Sälen, sondern funkelt klar ortbar entgegen. Das Gleiche gilt für die Beiträge von Klavier und Celesta. Die Holzbläser sind wieder sehr präsent, als hätte ihr Spiel keine Distanz zu überbrücken. Klitzekleine Einschränkung meiner Eloge: Die Hörner im Strawinsky haben mir nicht wirklich gefallen, irgendwie nicht so harmonisch und druckvoll, etwas flatterig. Generell scheint der Block (15 R) eine mehr als brauchbare Platzalternative zu sein, sofern man mit der schon recht steilen Perspektive auf die Bühne leben kann.

Noch kurz zu den beiden Erstbegegnungen vor der Pause: Die schönbergsche Filmmusik ohne Filmvorlage funktioniert für mich einwandfrei und hält eine Menge post-mahlerischer Klangfinessen bereit. Mich persönlich hätte allerdings schon sehr interessiert, wie Schönberg jenseits Beklemmung evozierender Topoi (Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe) etwa an emotional anders gelagerte filmische Standartsituationen – Liebesszene oder freudiges Wiedersehen zum Beispiel – mit seinen kompositorischen Mitteln herangegangen wäre.

Die Bartók-Suite ist ob ihres rhythmischen Drängens sowie melodisch unbehauenen und doch kunstvoll instrumentierten Charakters gleich beim ersten Hören ein Werk, das mitreißt. Gegen Ende ergibt sich die ein oder andere Parallele zu Kodalys Tänzen aus Galanta – was bei dem gemeinsamen Hobby beider Komponisten nicht weiter verwundern sollte. Insgesamt verhält es sich bei diesem Stück wie mit den meisten aus der Feder Bartóks – ich erkenne die Meisterschaft des Werkes, aber seine Sprache erreicht mich nur bedingt.

Nach der Pause dann Eötvös’ Multiversum. Noch bevor der erste Ton erklingt, springt die ungewöhnliche Anordnung der Besetzung auf der Bühne ins Auge: die Streicher links, das Holz nicht mittig, sondern ihnen gegenüber auf der rechten Seite. Das Blech dreifach geteilt zu je einem Duo Trompete und Posaune, die wiederum halblinks, mittig und halbrechts Platz nehmen. Zwei Hörner links, zwei rechts, dazu zwei Saxophone mittig, die eine Tuba flankieren. Dreimal Schlagwerk, jeweils augenscheinlich mehr oder weniger identisch, ebenfalls räumlich voneinander getrennt, dazu noch eine extra Batterie Pauken für sich stehend. Die drei solistischen Instrumente Orgel (Spieltisch), Celesta sowie Hammondorgel um das Pult angeordnet, die Hammondorgel mit Lautsprecherverstärkung auf Ebene 15, etwa schräg gegenüber der großen Orgel.

Die Musik selbst ist wenig fasslich, kommt weitgehend ohne Konturen bzw. klar auszumachende rhythmische Strukturen aus (einzige Ausnahme, die mir im Gedächtnis blieb, ist eine akzentuierte Streicherpassage, welche einen solistischen Moment der Celesta begleitet), vielmehr ist es ein stetiges Werden und Vergehen von Klängen, Klangmalerei, wobei die angesprochene Aufteilung der Musiker für akustische Wechselwirkungen genutzt wird – das multiple Schlagwerk sorgt durch gestaffelte Einsätze für Echoeffekte, die beiden Orgeln werden klanglich gegenübergestellt etc.. Motivische Arbeit als solche konnte ich nicht erkennen, entweder ist der melodische und harmonische Aufbau wirklich recht einfach oder aber viel zu kompliziert für mich.

Das Ergebnis sind zum Teil beeindruckende Klangeruptionen, aber unter dem Strich hat das Stück mehr von einem Akustiktest denn die Faszination eines unbekannten Werkes, das ich gern gleich ein weiteres Mal hören wollen würde. Aber vielleicht müsste ich Eötvös’ einfach nur eine zweite Chance geben. Daß es mir als latentem Neue-Musik-Muffel mit zeitgenössischen Werken durchaus anders gehen kann, hat Thomas Larcher in diesem Haus bereits zweimal eindrucksvoll bewiesen. Leider verblasst unter diesem Eindruck die erstklassige Leistung des Orchesters sowie der Solisten ein wenig, zumal das Concertgebouw Orchester durch die extravagante Sitzordnung leider keine Zugabe als Rausschmeißer geben konnte. Uraufführung gut und schön, aber man hätte die beiden Programmhälften definitiv tauschen sollen, dann wäre nach dem fulminanten Strawinsky noch die Möglichkeit dazu gewesen. Gern etwas aus der klassischen Moderne, um im Duktus zu bleiben, aber auch da gäbe es ja bekanntlich genug Optionen.

Ansonsten das alte Lied: Besucher, die mitten in der Aufführung gehen (zum Glück noch im Rahmen, aber Respektlosigkeit bleibt Respektlosigkeit), verhaltener Applaus, fluchtartig lichtet sich manche Reihe beim Schlußbeifall. So denkt man wieder an den einen oder anderen Musikliebhaber, dem das Konzert wahrscheinlich mehr gegeben hätte, wie man den diversen tapferen Bravos entnehmen konnte.

Kommentar an der Haltestelle Baumwall, während man auf die U-Bahn wartet: „Also ich höre gern Schumann, oder Bach ... oder die Moldau – das, was jeder kennt ... “ In diesem Sinne: Auf zu neuen Horizonten und Universen.

8. Oktober 2017

NDR Elbphilharmonie Orchester – Thomas Hengelbrock.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Ebene 15, Bereich M, Reihe 2, Platz 7



Witold Lutosławski – Musique funèbre
Wolfgang Amadeus Mozart – Requiem d-Moll KV 626
Zugabe: 

Johann Sebastian Bach – „Du, o schönes Weltgebäude“ 
BWV 301 und „Komm oh Tod, du Schlafes Bruder“ aus 
„Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ BWV 56

(NDR Elbphilharmonie Orchester,
Balthasar-Neumann-Chor und -Solisten,
Anna Lucia Richter – Sopran, Wiebke Lehmkuhl – Alt,
Lothar Odinius – Tenor, Tareq Nazmi – Bass)



Lutosławskis Trauermusik als „modernes“ Entree zu einem Totenmessen-Klassiker – da war doch was. Richtig, Tate hat es bereits 2014 in Hamburg vorgemacht, als die Eröffnung der Elbphilharmonie noch in den Sternen stand, seinerzeit mit dem Brahms-Requiem (Link). Was nicht suggerieren soll, dass die Symphoniker Hamburg, damals noch Hamburger Symphoniker, diesen Programm-Kniff erfunden hätten. Interessant eher, dass die Aufführung eines allseits bekannten Trauer-Opus offenbar gern als Anlass genommen wird, doch auch mal das Lutosławski-Stück zu präsentieren. So schrecklich oft ist der Pole ja sonst nicht im Konzertsaal anzutreffen. Was sehr schade ist, wie ich nach dem heutigen Abend wieder feststellen konnte.

Das etwa 15-minütige Werk für Streicher mag vor Tritoni und Dissonanzen nur so zu strotzen – Stichwort Clusterbildung – für mich klingt diese Musik, obwohl ich sie nicht gut kenne, äußerst vertraut und nah. Im Mittelteil, nachdem alles zur Ruhe kommt und leises Pizzicato einen neuen Abschnitt einleitet, sehe ich im Gesang der Violinen, begleitet von den Celli und Bratschen, während die Bässe ehrfürchtig schweigen, eine faszinierende Parallele zu Hindemith, genauer zur Mathis-Sinfonie. Die Streicherflächen der Grablegung, aber auch eine bestimmte Passage aus dem dritten Satz, der Versuchung des hl. Antonius, kommen mir in den Sinn. Nicht, dass Lutosławski hier Hindemith zitieren würde, aber die Stelle strahlt diese gleiche entkörperlichte, überirdische Schönheit gepaart mit tiefer Wehmut aus. Wahrscheinlich gibt es darüber hinaus viel naheliegendere Verbindungen zu Bartok, dem Lutosławski das Stück schließlich gewidmet hat, nur bin ich in dessen Œuvre leider nicht so firm.

Mit Mozart hingegen ist natürlich jeder vertraut. Sollte man zumindest meinen. Also ich ohnehin bekanntermaßen weniger – aus Gründen. Dennoch war es auch und gerade für mich besonders erfreulich, dass in der Einführung, nachdem wie üblich die Melange aus Legendenbildung und Anekdotenhalbwissen-Bingo, welche traditionell das Requiem umweht, nur noch einmal kurz umrissen und abgefertigt wurde, Herr Heile ein weitaus interessanteres Thema anschnitt: Mozart und seine Inspirationsquellen. Auch Mozart hat – wie alle Großen – geklaut, aber dabei – wie alle Großen – Neues hinzugefügt, weiterentwickelt. Eigentlich wenig überraschend, aber es gibt sicher nicht wenige Verklärer, die den Göttlichen gern als Gestirn, das sich einzig um sich selbst dreht, sehen würden. Mumpitz. Händel, Bach, Haydn – zur Abwechslung mal der Michael – haben alle spannende Sachen abgeliefert, so spannend, dass Mozart deren Aneignung und Veredelung im Betracht zog. Auch eine interessante Einschätzung: Mozart sei eher Vervollkommner bzw. Vollender denn Erfinder gewesen – im Gegensatz zu Haydn (jetzt aber der Joseph). Apropos Vollendung: jene des Requiems sei übrigens weniger aufgrund künstlerischer Weitsicht, sondern mehr aus der Sorge Constanzes um die bereits eingesackte Anzahlung und noch fehlende Schlussraten für die Messe angeschoben worden. Solche Anekdoten finde ich dann doch amüsant.

Das heutige Programmheft beherbergte die Besetzung des Orchesters als Faltblatt nebst Mini-Interview zum Thema historische Aufführungspraxis. Ich persönlich kann mich wirklich stundenlang mit der Entwicklung der Instrumente beschäftigen – auf Wikipedia, nicht im Konzertsaal. Konvex gebogene Bögen, ventillose Trompeten, Barockposaunen, kleinere Pauken, von mir aus. Ok, es ist klar, dass Mozart in Straussbesetzung diese Art von Musik in Sachen Transparenz nicht unbedingt nach vorne bringt, aber das ganze Gewese um (pseudo-)alte Instrumente bleibt mir bis auf Ausnahmen schleierhaft. Oder anders ausgedrückt: nicht uninteressant, aber im Ergebnis selten luststeigernd. Geschichtsunterricht halt. Ich bin sehr gern nach Gotha gefahren, um mir die alte Bühnentechnik mit ihren von Geisterhand wechselnden Papp-Scherenwänden in Aktion anzusehen, aber ich bin heilfroh, dass es an den Theatern heute auch in Barockopern mehr als die Option gibt, Bäume durch Säulen auszutauschen. Was sicher kein Plädoyer für ein anderes, viel schlimmeres „Pseudo“ sein soll, den (Pseudo-)Realismus im Theater. Aber ich schweife ab.

Viel wichtiger als irgendwelche Nasenhaarbögen und Posaunen mit oder ohne Schnüffelstück ist im Konzert immer noch der Einsatz der Musiker, nicht zuletzt des Dirigenten. Gefiel mir der Lutosławski unter Hengelbrock noch ausgesprochen gut, ja erwies sich als packend und intensiv, brachte er mit dem Requiem das Kunststück fertig, eines der wenigen Stücke Mozarts, für das ich so etwas wie leise Sympathie, mitunter gar Bewunderung hege, so blutleer und trocken in die makellose Akustik der Elbphilharmonie zu versenden, dass es auch dieses Mal ein Kampf auf Leben und Tod mit dem Sandmännchen wurde.

Gleich der Beginn – warum so hastig? Man kann auch schreiten, ohne zu schleppen und trotzdem den natürlichen Atem bewahren. Das Dies irae – gehetzt, verstolpert. Das Lacrimosa – seltsam aseptisch, dazu mit irritierend punktierten Betonungen. Dabei verfolgt der Mann vom Grundsatz her doch eigentlich vielversprechende ästhetische Ansätze: klare dynamische Kontraste, eine zum Teil äußerst knackige, fast aggressive Gangart in den schnellen Passagen (Rex tremendae majestatis) – wenn ich doch nur sein Timing nachvollziehen könnte. Da bringt mir auch der Hinweis aus dem Programmheft nicht viel, dass man mit Barockbögen deutlich agiler unterwegs sein kann, wenn das Ergebnis ohne die entsprechende Präzision an meinen Ohren vorbeischrammelt. Wo wir wieder beim Klang sind: dafür dämpfen diese tollen historisch verbürgten Bögen den Streicherklang dermaßen, dass er in der tendenziell ohnehin streicherfressenden Akustik des Saales, von Bläsern und Choristen übertönt, ein Schattendasein fristen muss.

Am Ende entschädigte zumindest die unverhoffte Zugabe ein wenig. Bach als zarter Klangtest für Ohren und Halle. Gerade der Schlusschoral der Kreuzstab-Kantate, a cappella durch den Balthasar-Neumann-Chor dargeboten, vermittelte auf den letzten Metern des Konzerts jenen feinen, schwebenden Charakter, der wohl bereits den ganzen Abend intendiert war – leicht, aber nicht leichtgewichtig. Und schloss gleichzeitig den Kreis zur Einführung: das Aufgreifen eines musikalischen Gedankens für ein neues Werk, hier mit dem Sonderfall, dass „Urheber“ und „Entlehner“ ein und dieselbe Person sind.

3. Oktober 2017

Parsifal – Kent Nagano.
Staatsoper Hamburg.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 12, Platz 17



Nachdem ich es aufgrund elbphilharmonischer und sonstiger Engpässe im Kalender erst zum letzten Aufführungstermin in der Premierenspielzeit dieser Neuinszenierung geschafft habe, oszillieren zwei Befindlichkeiten auf dem Heimweg in mir: Wie dumm, nicht jede Gelegenheit wahrgenommen zu haben, solch eine Schatzkammer voll inszenatorischer Auseinandersetzung mit meiner Lieblingsoper (Lieblingsbühnenweihfestspiel hat aufgrund mangelnder Bühnenweihfestspieldichte im Musiktheaterbetrieb einen eher ernüchternden Klang) durchstöbern zu dürfen. Und gleichzeitig wie tröstlich, ja bevorfreudigend, dass diese Produktion in Zukunft (das will ich doch schwer hoffen!) die Repertoirepläne dieses Hauses bereichern wird. „Aber der Wilson-Parsifal war doch so schön!“ Ja, war er. Und ganz ohne Tiefgang sicher auch nicht, aber, um es mal überspitzt festzuhalten: ästhetisch rumstehen war gestern, ab heute geht es ans Eingemachte.

Der Dank für diese besondere Erfahrung gebührt zweifellos Achim Freyer, der das Gesamtkunstwerk seinerseits als Gesamtkunstwerker durchleuchtet. Aufgrund der Vielzahl der Eindrücke nehme ich diesmal mit einer ungefilterten stichwortartigen Sammlung derselben vorlieb.

1. Aufzug

Die Abwesenheit der Farbe; Licht als stimmungsgebendes Element – Grün (Wasser), Rot (Blut, Wunde); Der Gral als Kind mit Babykopf, faszinierend, aber auch verstörend, nicht fasslich; das Leuchten der Gralsritter-Lampen wird rot aufgeladen

Eine dienliche Inszenierung – z.B. wird der Inhalt von Gurnemanz Erzählungen bildlich umgesetzt (Amfortas Versagen, Klingsors Selbstentmannung ... (der Schirm!))

Die Berufe der Gralsritter; Der Schwan als rotes Tuch plus ein paar Federn, die herunterrieseln

Die Geste bei der Erkenntnis des Todes der Mutter – nicht Wissen, Trauern, Verzweiflung. Stilisiertes, Theaterarbeit, nicht Realismus

Musikalisch: mehr Oratorium denn religiöser Rausch, im Kultus fein, doch mir fehlt der Sog, das Unerbittliche – Nagano ist mir zu objektiv


2. Aufzug

Der Tod ist auch hier zu Gast

Klingsor: Klingsors Spiegelungen, Tablet und Knallbonbons, Tand, der Zauberer, der vergrämte Popanz, abgewiesen

Blumenmädchen, Ballons, bunte Kugeln, Projektionen, Leuchtelemente, Rundungen, Versuchungen, kindlich – Klingsor mit den Ballons, bis (über)erotisch, Gummipuppenassoziationen, Pornografie? Lustdienerinnen, Verderberinnen; Was ist Sünde?

Parsifal liegt in Kundrys Schoß / Kundry bettet sich in Parsifals Schoß

Der Speer, abstrakt, Blut, Wunden, Kampf, Krieg, die Ritter, die von Parsifal verwundet werden; Klingsors Wunde unter der übergroßen Krawatte – das Feigenblatt des Versagens


3. Aufzug

Es schneit

Alles da: Krone, Fußwaschung und Salbung ...

Ist der Tod ein Gralsritter?

Wieder eindringliche Gesten – Unwissenheit, Verzweiflung (Herzeleide), Labung (Kundry)

Karfreitagszauber: die musikalische und textliche Bezugnahme auf die Blumenmädchen wird von Freyer genial aufgegriffen – bunte Kreise, Projektionen, von Parsifal und Kundry zum Schwingen gebracht

Am Ende löst sich die Spirale auf; gibt es ein Entrinnen? Worte fliegen herein:„Mensch, Hoffen, Licht, Tod, Ruhe, Erlösung“ ... „Anfang“ bleibt stehen;

Die Decke – ein Spiegel, Spiegelungen, Glanz, Erlösung /Auflösung


Fazit: ungeachtet der unbestreitbaren musikalischen Güte dieses Abends bleibt die Inszenierung der alles bestimmende Faktor einer Produktion, welche das Unmögliche möglich zu machen scheint: eine stringente Erzählung mit einfachsten, ja geradezu archaischen Bildern, die gleichzeitig jene Offenheit der Rezeption zulässt, welche dieses rätselhafte, wunderbar-widersprüchliche Werk bei jedem Erleben aufs Neue mit Ahnungen auf Antworten belohnt, deren Fragen jeden (mit-)fühlenden Menschen berühren sollten.


Richard Wagner – Parsifal
Musikalische Leitung – Kent Nagano
Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht – Achim Freyer
Lichtgestaltung – Sebastian Alphons
Video – Jokob Klaffs / Hugo Reis
Dramaturgie – Klaus-Peter Kehr
Chor – Eberhard Friedrich
Mitarbeit Regie – Sebastian Bauer
Mitarbeit Bühnenbild – Moritz Nitsche
Mitarbeit Kostüm – Petra Weikert
Spielleitung – Tim Jentzen
Produktionsassistenz – Eike Mann
Musikalische Assistenz – Volker Krafft

Amfortas – Wolfgang Koch
Titurel – Tigran Martirossian
Gurnemanz – Kwangchul Youn
Parsifal – Andreas Schager
Klingsor – Vladimir Baykov
Kundry – Claudia Mahnke
1. Gralsritter – Jürgen Sacher
2. Gralsritter – Denis Velev
Knappen – Alexandra Steiner, Ruzana Grigorian, Sergei Ababkin, Sascha Emanuel Kramer
Blumenmädchen (1. Gruppe) – Athanasia Zöhrer, Hellen Kwon, Dorottya Láng
Blumenmädchen (2. Gruppe) – Alexandra Steiner, Gabriele Rossmanith, Nedezhda Karyazina
Stimme aus der Höhe – Katja Pieweck