23. März 2014

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 7, Platz 14



Witold Lutosławski – Musique Funèbre

(Pause)

Johannes Brahms – Ein Deutsches Requiem (Christian Gerhaher (Bariton), Chen Reiss (Sopran), Philharmonia Chorus London)



Nach der noch in bester Erinnerung verweilenden Darbietung seiner vierten Sinfonie (Link) brachten die Hamburger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten heute also ein weiteres Werk Lutosławskis, gewissermaßen als kleinen Trauer-Bruder des großen Brahms-Requiems, zur vorpausigen (Erst-)Begegnung. Mit der Klammer möchte ich mal keck von mir auf andere schließen: Ich nehme nämlich an, daß die Musique Funèbre nicht nur für mich eine Neuentdeckung darstellte – die sich, wie seinerzeit die Sinfonie, mit Herrn Tate und seinem Orchester der besten Vermittler versichert sein durfte, die überhaupt zu denken sind.

Was ich mit diesen gedrechselten Einleitungsworten zum Ausdruck bringen möchte: Es ist schön, immer wieder „alte“ Neuheiten bzw. neue Altheiten für sich auszugraben, noch schöner wird dies Unterfangen allerdings mit den richtigen Schatzgräbern an der Seite. Und die Hamburger Symphoniker haben diesen faszinierenden Transfer mittlerweile perfektioniert. Von den ersten zarten Klängen des Solocello bis zu seiner verhauchend abschließenden Wiederkehr entsponn sich das Werk als Demonstration eines Streicherklanges, der an Intensität kaum zu übertreffen ist. Wobei sich wieder einmal zeigt, das Intensität keinesfalls an schiere Lautstärke gekoppelt sein muß. Anders: Mit solch einem Streicherklang – ob leise oder laut – läßt sich eine Welt aus den Angeln heben, und sei es auch nur für die Dauer einer Trauermusik.

Wenn mich heute jemand fragte, wie ich mir den perfekten Violinenklang vorstelle, wäre die Antwort: ziemlich genau so, wie ich ihn heute vernommen habe. Warm, voll, seidig, aber eben auch kräftig und schneidend. Dieses bittersüße Paradox, daß bei Fortissimo-Ausbrüchen ein zum Niederknien schöner Schall gleichzeitig unerbittlich bis ins Mark trifft. Reinhauen muß es! Profund gebettet von sonor grollenden Bässen, veredelt von samtig näselnden Celli, konnte heute streichertechnisch einfach nichts schief gehen, um es mal gelinde auszudrücken.

Nach der Einleitung und heftigen Steigerung folgt im Lutosławski ein Abschnitt, der von den Violinen dominiert wird, sehr gesanglich, hat mich etwas an Hindemith erinnert, und auch da dachte ich mir: ja, so und nicht anders, klar und farbig, nie matt oder leer – ebenso für Hindemith geeignet. Na, die Mathis-Sinfonie oder Die Harmonie der Welt, das wär doch auch was ... Aber ich komme wieder mal vom Thema ab. Lutosławski ist das Stichwort. Unabhängig vom grandiosen Vortrag unter einfühlsamer Leitung konnte das Werk auf Anhieb überzeugen. Zwölftonreihe hin oder her, das ist einfach beseelte Musik.

Gleiches gilt sicher auch für das Brahms-Requiem, obwohl ich gestehen muß, daß ich nie so ganz damit warm geworden bin. Ich liebe den ruhig fließenden Puls des Beginns, den zweiten Satz mit der ganzen Härte seines unentrinnbaren Ernstes einerseits („Denn alles Fleisch ...“) und dem genialen Übergang zum scheu verklärten „Das Gras ist vergangen ...“ mit seiner entrückt schönen Begleitung (Holzbläser bzw. Streicher) andererseits, und auch in den folgenden Sätzen gibt es immer wieder Passagen und Momente, die mich berühren, mitreißen, erschüttern. Dennoch überwiegt über die gesamte Dauer des Werkes gesehen eher der Respekt vor der vielschichtigen Faktur als ein bedingungsloses Eintauchen in diese musikalische Sprache, deren kontrollierter Furor und akademischer Gestus mir insgesamt doch fremd bleibt.

Daran konnte auch die vorzügliche Leistung der Mitwirkenden nur bedingt etwas ändern. Und trotzdem habe ich viel Anregendes auch aus diesem Teil des Konzertes mitgenommen. Anfangs hatte ich leichte Probleme, mich in das doch recht langsame Grundtempo Tates hineinzufinden, aber spätestens beim ersten markanten Tempowechsel wurde der ganze Schwung unmittelbar spürbar, den ein plötzliches Forcieren auf ruhigem Grund freizusetzen vermag. Diesen Effekt des Sogwirkung erzielenden Anziehens im Tempo, konnte man in der Folge noch mehrfach genießen, was dem Werk, bzw. seiner strukturellen Fasslichkeit sehr gut tat. Darüber hinaus blieb Tate mit den eher breiten Tempi seiner Linie treu, noch die feinsten Feinheiten aus einem Werk herauszuholen. Nichts wird einfach nur abgespult, kein wichtiges Detail läuft Gefahr, nicht bedacht und somit überhört zu werden – es ist einfach eine Wonne, Herrn Tate beim Gestalten in Echtzeit zu erleben. Aber darauf war ich ja bereits mehrfach an anderer Stelle genauer eingegangen, z.B.: (Link).

Nicht minder als die – hier wieder einmal erstklassige – Orchesterleistung gebührt in einem Requiem natürlich dem Chor und den Solisten besondere Beachtung. Auch wenn ich kein wirklicher Chorexperte bin, hat mich die Londoner Truppe absolut überzeugt, genauer gesagt auch hier wiederum die durch Tate gesteuerte Abstimmung zwischen Feinheiten und Schmackes-Momenten. Und dann bliebe da noch die luxuriöse solistische Besetzung mit Frau Reiss und Herrn Gerhaher. Während ich der israelischen Sopranistin bereits einige Male im Hamburger Konzertleben begegnet bin, sei es zusammen mit den Hamburger Symphonikern oder bei Liederabenden (Link und Link), kannte ich Herrn Gerharhers wunderbare Stimme bislang nur von Aufnahmen. Umso beeindruckender zu erleben, welch stimmliche und physische Präsenz von diesem Sänger in Natura ausgeht.

Eine schöne, wohltimbrierte Stimme ist das Eine – spannend wird es aber immer dann, wenn eben mehr hinzukommt. Ohrenzeuge zu werden, wie bei der Anklage der gedankenlosen Menschen der Sänger wahrhaftig zum Prediger wird, der jedes Wort mit Feuereifer an seine Gemeinde richtet, oder mit welcher Energie Gerhaher das Erscheinen der Posaune kom... nein, eben nicht bloß kommentiert, sondern viel mehr. Mit Inbrunst – leider fast schon ein abgegriffener Begriff – verkündet. Es ist immer das Gleiche. Die Noten allein sagen es nicht, es braucht einen Sänger der nicht nur singt, sondern – weniger pathetisch ausgedrückt – Inhalte glaubhaft vermitteln kann.

Vielleicht könnte sich Frau Reiss – ohne Zweifel im Zenit ihrer technischen und klanglichen Mittel stehend – in Bezug auf diese schwer zu beschreibende Übertragung des (scheinbar?) Persönlichen, das Herz Bloßlegenden, noch eine kleine Scheibe bei ihrem Kollegen abschneiden. Aber ich möchte heute nicht das Haar in der Suppe suchen. Vielmehr möchte ich mich bei allen Beteiligten für dieses außergewöhnliche Konzert bedanken und verbleibe in freudiger Erwartung weiterer Sternstunden durch die Hamburger Symphoniker.