Posts mit dem Label Berlioz werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Berlioz werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

4. Juni 2025

London Symphony Orchestra – Pappano.
Elbphilharmonie Hamburg

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Hector Berlioz – Ouverture du Corsaire op. 21
Pierre Boulez – Mémoriale / ... explosante-fixe ... originel
Pierre Boulez – Livre pour cordes

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Épisode de la vie d’un artiste op. 14

Zugabe: Gabriel Fauré – Pavane op. 50


Ich würde mich ja gern mal mit jemandem unterhalten, der sagt: „Also Boulez ist mein absoluter Lieblingskomponist!“ Mir erschließt sich durchaus ein gewisser Reiz dieser Musik, aber der bewusste Verzicht auf Melodik und vor allem auf ein Harmoniegefüge, in dem greifbare Tonalität eine Rolle spielt, machen es mir schwer, die nötige Konzentration aufzubringen und unmöglich, von dieser Musik berührt zu werden. Aber vielleicht ist das eben gar nicht der Sinn der Übung, daher mein Interesse daran, was wohl ein ausgemachter Boulez-Fan aus seinen Werken ziehen mag. Faszination an der Komplexität? An den Feinheiten der Klangkombinationen?

Ich persönlich konnte dem differenzierten Klanggewebe insgesamt, der mannigfaltigen Behandlung der tonangebenden Querflöte oder einzelnen akustischen Wirkungen, wie den seltsam unwirklichen Einsätzen des Horns, definitiv etwas abgewinnen – aber warum sollte man sich als Komponist derart selbst beschneiden? Wo das erste Werk mit seiner kleinen, aber vielseitigen Besetzung noch zumindest jene interessanten Klangwirkungen bietet, verliert mich das zweite Stück für Streichorchester vollends, zumal mir der Einsatz der Streicher hier alles andere als innovativ vorkommt. Aber auch da könnte mich der Boulez-Experte sicher eines Besseren belehren. Die intellektuelle Herausforderung hat sicher einen großen Anteil daran, warum ich mich gern und intensiv mit Musik auseinandersetze, ohne die emotionale Komponente bleibt eine Beschäftigung jedoch für mich mehr oder weniger reiz- und fruchtlos.

Dann doch lieber Reize in Hülle und Fülle sowie körbeweise Früchte in allen Geschmacksrichtungen aus der kompositorischen Lese des geliebten Hector Berlioz! Was habe ich mich darauf gefreut, die Sinfonie endlich wieder einmal live zu erleben. Und gleich eingangs mit der Korsaren-Ouvertüre lässt Pappano keinen Zweifel daran, dass das Werk des französischen Powerplayers hier und heute bei ihm und dem Londoner Ausnahmeorchester in den besten Händen liegt. Explosiv, spritzig, federnd, mit dem gebührenden Schmelz in den entsprechenden Passagen – raue See und Wildromantik, wie sie für einen Freund der Kontraste auf allen Ebenen wie mich nicht elektrisierender hätte ausfallen können. 

Und nach der Pause greifen Dirigent und Klangkörper diesen Elan mit der Episode aus dem rauschhaft-berauschenden Künstlerleben nahtlos auf und liefern eine Symphonie fantastique ab, die mich nach dem Furor des Hexensabbats mit einem teuflisch zufriedenen Grinsen in den allgemeinen Begeisterungssturm einstimmen lässt. Das London Symphony Orchestra trägt mit seiner Mischung aus technischer Perfektion und klanglicher Finesse einen großen Anteil daran, obgleich Pappanos Konzept vom ersten bis zum letzten Takt heute einfach unfehlbar scheint. 

Ob das Stürmen, Drängen und Sehnen des ersten, der Taumel und die Eleganz des zweiten, die Mahler und Co. vorwegnehmende Innigkeit und Tiefe der Außenwelt/Innenwelt-Illustration des dritten, das Unaufhaltsame des vierten oder das Archaische, scheinbar Chaotische und doch gleichzeitig so unfassbar kinnladensprengend Virtuose des fünften Satzes – es hat an diesem Abend einfach alles gepasst. Ich vergöttere dieses Stück und bin sehr froh, es heute so erlebt haben zu dürfen, wie ich es mir in den schönsten (Fieber-)Träumen erhofft hatte. Und das ganz ohne Opium, wohlgemerkt.

26. August 2019

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg –
Kent Nagano. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich K, Reihe 5, Platz 18



Felix Mendelssohn Bartholdy – Die erste Walpurgisnacht op. 60

(Pause)

Hector Berlioz – Te Deum op. 22



Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Hamburger Alsterspatzen
Chor der KlangVerwaltung
Franz-Schubert-Chor Hamburg
Hamburger Bachchor St. Petri
Jugendkantorei Volksdorf
Kinder- und Jugendsingschule St. Michaelis
Kinderkantorei Bergstedt und Volksdorf
Cappella Vocale Blankenese
Compagnia Vocale Hamburg
Stimmwerk Hamburg
Vokalensemble conSonanz
Kammerchor Cantico

Annika Schlicht – Alt
Pavel Černoch – Tenor
Thomas E. Bauer – Bassbariton
Dirigent Kent – Nagano


Von der letzten Reihe eines Blockes aus hat man wirklich beste Sicht auf all die alten Säcke, die sich gern über die heutige Jugend aufregen und hier, natürlich ohnehin latent mit der Gerätschaft überfordert, keine Gelegenheit auslassen, während des Konzerts einfach mal dumm rumzuknipsen oder gleich ne Runde mitzufilmen – dabei das umsitzende weiße Resthaar gespenstisch illuminierend. Das allein wäre ja schon für sich eine formidable Ablenkung vom Geschehen auf der Bühne, aber zum Glück hat man das Hörgerät erfunden. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn mir nicht der permanent-penetrante Fiepton aus taubem Ohr einer tauben Nuss, umgeben von offenbar ausnahmslos tauben Nüssen, deren Gehör ebensowenig für diese Frequenzen wie ihr Gemüt für ungestörten Kunstgenuss empfänglich schien, die ganze erste Walpurgisnacht wahrlich zur Höllenfahrt machte.

Womöglich hätte ich noch Gefallen an dieser Musik gefallen, die ich bislang nur vom Tonträger kannte. Wobei, bleiben wir realistisch, dafür ist der gute Mendelssohn Bartholdy einfach zu sehr melodischer Biedermann und Butzenscheiben-Harmoniker. Brav, sauber, nein – porentief rein. Die opulenten Chormassen beeindrucken durch ihre akustische Präsenz und Wucht, weniger mit dem versungenen Material. Von den Solisten gefällt mir der Bariton am besten, Herr Bauer hat definitiv Charakter in der Stimme. Frau Schlicht macht ihre Sache ebenfalls gut, den Tenor des Herrn Černoch empfand ich eher als Schwachpunkt. Ein Vergleich der Interpretation durch Herr Nagano mit jener Harnoncourts von CD fällt heute mangels Konzentration aus. Die Bässe waren sehr präsent, soviel habe ich dann noch zwischen Gift und Galle mitbekommen.

Auch zum Berlioz lässt sich angesichts der miesen Rahmenbedingungen wenig Konkretes festhalten, obgleich selbst das dümmste Akustikhemmnis nicht zu verschleiern vermag, was für ein großartiges, in Ausmaß und Inhalt großes Werk das Te Deum doch ist. Hier musste ich geplättet realisieren, dass eine Einspielung, ich glaube bei mir ist es die mit Claudio Abbado, nur einen absolut unzureichenden Eindruck von den Klangwirkungen wiedergibt, die das Stück freisetzt. Ich kann mich darüber hinaus nicht erinnern, schon mal einer Aufführung mit mehr Choristen beigewohnt zu haben, in der Elbphilharmonie schon mal ganz sicher nicht. Beinahe die gesamte Ebene 13 hinter und neben der Bühne war den schwarz gewandeten Damen und Herren, Mädchen und Knaben vorbehalten. Auch wenn das Stück nicht die Ausdehnung seines Requiems besitzt, verfolgt Berlioz hier doch eine ähnliche Kontrastkonzeption, vielleicht etwas weniger ausgefeilt oder eben noch extremer im Wechselspiel von ganz Feinem und mehrheitlich kolossal Überwältigendem.

Schade, dass das Te Deum angesichts der erforderlichen Ressourcen so selten dargeboten wird, das müsste man sich deutlich häufiger geben können. Allein wie sich Orchester und Orgel ein geheimes Duell darin liefern, wer wohl die satteste Klangwand produzieren könne, die sich in wahre Rauschzustände steigernden Chormassen, dann wieder zeitweise gezähmt zur lieblichen Schar der Engel, die Modernität der Harmonik, die Frische und der Ideenreichtum der Melodik, und wie sich alles schließlich im wahrlich apokalyptisch voranschreitenden „Judex crederis“ krönt – Das Te Deum unterstreicht einmal mehr den Status des progressiven Franzosen als einen meiner absoluten Lieblingskomponisten.

Und wie schon im Finale von Mahlers 2. (Link) muss ich Herrn Nagano ein Kompliment aussprechen: Wenn Chöre ins Spiel kommen, scheint der Chef der Staatsoper in seinem Element. Ein wirklich bewegendes Erlebnis, von allen Beteiligten zur Vollendung getragen.

14. August 2019

National Youth Orchestra of the USA –
Sir Antonio Pappano.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 9



Tyson J. Davis – Delicate tension
Hector Berlioz – Les nuits d’été (Joyce DiDonato – Mezzosopran)

(Pause)


Richard Strauss – Eine Alpensinfonie op. 64

Zugaben:
Edward Elgar – Nimrod aus: Enigma-Variationen op. 36
Gioachino Rossini – Galopp aus: Ouvertüre zu »Guillaume Tell«



Man erlebt es nicht unbedingt alle Tage, dass sich Orchestermitglieder nach getaner Arbeit vor Freude weinend in die Arme fallen – so geschehen bei den jungen Damen und Herren des National Youth Orchestra of the USA nach der mit tosendem Applaus honorierten Herkulesaufgabe der Alpensinfonie und zweier weiterer Zugaben, die das Publikum der Elbphilharmonie zu stehenden Ovationen begeisterten. Doch der Reihe nach. Überraschte das Jugendorchester eingangs mit ganz eigenem Dresscode, bei dem für Männlein und Weiblein gleichermaßen rote Hosen die dunklen Sakkos ebenso komplettierten wie Chucks als bühnenungewohntes Schuhwerk, wurde jedoch schnell klar, dass das Teenager-Kollektiv durchaus auch akustisch in der Lage ist, Akzente zu setzen.

Gleich beim ersten Stück „Delicate tension“ des jungen Komponisten Tyson J. Davis präsentiert Antonio Pappano die volle Sound-Breitseite des Orchesters. Das Werk erinnert entfernt an Bernard Herrmann auf Steroiden und hält allerlei Gewaltiges und Eruptiv-Schillerndes bereit, Alarmsirene inklusive – womit allerdings gleich mal auch ein hübscher Bogen zur straussschen (Wind-)Klang-Maschinerie geschlagen wurde, wenn ich es genauer bedenke. Für mich persönlich folgte mit Berlioz’ „Les nuits d’été“ der erste Höhepunkt des Abends. Wer den Franzosen durch – wohlgemerkt allzu oberflächliche – Beschau seiner Symphonie Fantastique als Mann fürs Grobe und Grelle abgespeichert hat, sollte sich in die Zauberwelt dieses zarten Sommernachtstraumes begeben. Für mich einer der schönsten und berührendsten Liederzyklen überhaupt und wieder einmal eine enorme Inspiration für den großen Herrn Wagner, aber in gewisser Weise auch für meinen geliebten Britten und seine Beiträge zur Gattung. Obgleich ich mich weiterhin nicht hundertprozentig für Frau DiDonatos Stimme erwärmen kann, stellt sie doch hier eindrucksvoll unter Beweis, welche phänomenalen Nuancen sich aus dieser Partitur gewinnen lassen.

Bei der antichristlichen Seelenwanderung nach der Pause legt Pappano dann ein verblüffend flottes Marschtempo an den Tag. So richtig eingeordnet hatte ich diesen Dirigenten bislang nicht wirklich, aber warum auch immer hatte ich ihn gemütlicher eingeschätzt. Umso besser, so kann die existentielle Auseinandersetzung mit der Natur was werden – und sie wurde. Auch wenn uns im Eifer des Gefechts der ein oder andere kleinere, vorwiegend blechbezogene Schaden ereilte, bleibt doch festzuhalten, dass sich der stramme Ritt mehr als gelohnt hat. Manch schöne lyrische Phrase fiel mir in Pappanos Starkstromdirigat ein wenig zu sehr über die Klippen und Grate, aber alles in allem hatte ich eine richtig gute Zeit mit den jungen Wilden.

Zeit zum (Durch-)Atmen gab es dann eh noch im Nimrod genug, bevor man sich mit Rossini Hals über Kopf in den wohlverdienten Beifallsorkan warf. So hinterlässt man bleibenden Eindruck – Gratulation zum Debut!

5. Juni 2019

Wiener Philharmoniker – Mariss Jansons.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich D, Reihe 3, Platz 4



Robert Schumann – Sinfonie Nr. 1 B-Dur op. 38 »Frühlingssinfonie«

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Episode de la vie d'un artiste op. 14



Schockmoment gleich zu Beginn: Mariss Jansons müht sich sichtbar angestrengt mit unsicheren Tippelschritten zum Pult, wo eine Sitzgelegenheit auf ihn wartet. Von dieser macht er im Laufe des Abends zwar nur hin und wieder Gebrauch, doch den Maestro derart zerbrechlich zu sehen, ruft – auch angesichts seiner früheren gesundheitlichen Schicksalsschläge – wohl nicht nur bei mir tiefe Besorgnis hervor (Einige Tage später kam dann die wenig überraschende Meldung, dass er aufgrund einer ärztlich empfohlenen Regenerierungsphase alle Konzerte bis Ende August absagen müsse). Es bleibt mir nur, Herrn Jansons eine baldige Genesung und alles Gute für die Zukunft zu wünschen.

Wie sehr die Klassikwelt diesen Ausnahmedirigenten braucht, stellte er heute wieder eindrucksvoll unter Beweis. Zum Schumann kann ich zwar nicht viel sagen, da fehlen mir die Vergleichsmöglichkeiten, obwohl mir unter Umständen als jemand, der dieser Musik eher reserviert gegenübersteht, vielleicht mit einer etwas weniger kontrollierten, edlen Lesart mehr gedient wäre. Während die technische wie klangliche Meisterschaft der Wiener bereits hier ihre Wirkung entfaltete, schlug mit der heiß geliebten Symphonie Fantastique die Genialität der Konzeption Jansons’ voll durch.

Dabei war es besonders spannend zu erleben, dass aufgrund eingehender vorangegangener Rezeption angesammelte Lehren über Wirkungsweisen und Präferenzen bestimmter Parameter im Einzelnen und Ausführungen in der Gesamtheit jederzeit durch eine selbst beinahe gegenteilige Präsentation zumindest für die Dauer einer Aufführung egalisiert werden können – sofern diese Aufführung derart zwingend gestaltet ist, wie ich sie heute bestaunen durfte. Ein durchgehend langsames Grundtempo gehört in der Regel nicht zu den Faktoren, mir „meine“ Symphonie Fantastique entstehen zu lassen. Bei Jansons fügt sich dieses ungewohnte Tempo jedoch als eines von vielen Steinchen bei der Herstellung eines Mosaiks ein, dessen Detailtiefe und Dramatik kaum steigerungsfähig erscheinen.

Allein wie zart die Coda des ersten Satzes unter Jansons Führung verklingt, oder welch geradezu plastisch sprechende Wirkung die wehmütige Szene auf dem Lande erzielt – die Feinheiten der Partitur hat man live selten so minutiös ausgelotet erlebt. Der Gang zum Schafott wiederum bärbeißig, ohne zu eilen, desgleichen das ganze Hexensabbat-Finale, in dem es Jansons gelingt, eine immense Wucht zu entfesseln, ohne dabei, wie gesagt, besonders auf die Tube zu drücken. Gewaltig-gewaltsam Eruptives statt gnadenlose Hetze, wie ich sie beispielsweise an einem Solti schätze. Es gehört einfach zum Größten, gerade auf solche durch und durch wohlvertrauten Werke durch Ausnahmekönner wie Jansons und das Klangwunder aus Wien einen ganz neuen Blick beschert zu bekommen – einen Blick, der die Größe des Werkes und die Meisterschaft seines Urhebers frisch wie bei der ersten Begegnung unterstreicht. Meinen tiefsten Dank dafür.

21. Mai 2019

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 16, Bereich W, Reihe 1, Platz 34



Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 »Pastorale«

(Pause)

Hector Berlioz – Harold in Italien / Sinfonie in vier Sätzen mit Soloviola op. 16

Orchestre de Paris
Antoine Tamestit – Viola
Dirigent – Daniel Harding



Neue Perspektiven auf Vertrautes: Dass dieser Saal nach beinahe 100 Konzerten immer noch neue Facetten für mich bereithält – heute den verblüffend intensiven Appell an meine latente Höhenangst – ist und bleibt wahrlich faszinierend, zumal die luftige Vogelperspektive von 16W auch akustische Neuheiten zu Tage förderte. Man sitzt tatsächlich so weit über dem Orchester, in meinem Fall exakt mittig Vis-à-vis zum Dirigenten, dass sich (wie schon so oft auf andere Weise) ein Klangeindruck ergibt, der mir in dieser Form aus keinem anderen Konzerthaus bekannt ist: Das Orchester unter dem Mikroskop, ein gleichsam transparenter wie homogener Klang, der sich da unter einem emporschwingt, vielleicht etwas leiser als auf näher gelegenen Plätzen, dafür ungemein fein, ja duftig, und ungeachtet der beachtlichen Distanz bzw. des aberwitzigen Höhenunterschiedes doch viel präsenter als erwartet.

Und richtig spannend wird es, wenn das räumliche Element innerhalb des Orchesters ins Spiel kommt. Wie beispielsweise die ersten und zweiten Violinen miteinander interagieren, ja duettieren, hat von oben besehen und belauscht eine ganz eigene Wirkung. Hinzu kommt, dass die Streicher aufgrund der von hier nurmehr indirekt wahrgenommenen Bläser im Tutti nicht ins Hintertreffen geraten, wie ich es schon auf anderen „billigen Plätzen“ auf der gegenüber liegenden Saalseite erlebt habe – das Klangbild bleibt ausgewogen, dementsprechend ergibt sich ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Plätze, die ich all jenen wirklich ans Herz legen kann, die sich von der ersten Kategorie, nicht aber luftigen Höhen abschrecken lassen.

Zum Konzert selbst gibt es gar nicht viel zu sagen, außer dass es sich nahtlos in die Reihe musikalischer Sternstunden einreiht, die ich hier bereits erleben durfte. Das Orchestre de Paris ist das in der kurzen Anmoderation der Programmumstellung angekündigte Spitzenorchester, wovon ich mich bereits vor Jahren in der Laeiszhalle bei einer wirklich unvergessenen 5. Beethoven unter Christoph Eschenbach und einem Heimspiel in der französischen Kapitale (Link) überzeugen konnte. Der spontane Tausch der Werke ist schlüssig, um auf den reduziert/klassisch besetzten Beethoven seinen opulenten Sinfoniker-Erben Berlioz folgen und möglichst viele Kollegen am (tosenden) Schlussapplaus teilhaben zu lassen. Hardings Pastorale ist durch und durch zart und elegant mit Liebe für klangliche Feinheiten (Gedämpfte Streicher in Kombination mit den Hörnern zu Beginn des zweiten Satzes!), alles wirkt rund und fließend. Nicht unbedingt der flott-knackige Ansatz, den ich gewöhnlich bei Beethoven bevorzuge, aber gerade bei dieser Sinfonie und ihrem Charakter zu hundert Prozent zwingend. Zumal Harding sehr wohl das beethovensche Stürmen und Drängen zu entfesseln weiß, namentlich im Gewitter.

Die Harold-Sinfonie – eine meiner liebsten Schöpfungen des verehrten Franzosen – habe ich selten bis nie so fesselnd präsentiert erlebt. Von dem sich zögerlich entwickelnden, dann wahrlich dramatischen Kopfsatz über die verletzliche Lyrik des zweiten und das südliche Flair des dritten bis zur Ekstase des Finales nehmen uns Harding und sein Orchester mit auf eine schillernde Reise durch ein Kaleidoskop der Emotionen und die Möglichkeiten der Instrumentation. Kongenial bekrönt durch den Beitrag Antoine Tamestits, welcher nicht allein durch sein beseeltes Spiel, sondern gleichermaßen eine Art „Personenregie“ den Violapart zum nicht rein akustisch, sondern szenisch teilnehmenden Charakter umformt. So betritt der Solist erst nach der Orchestereinleitung die Bühne, vielmehr nähert er sich zögerlich dem Geschehen, bis er in der Harfe eine erste Kommunikationspartnerin findet.

In der Folge der Sätze variiert Tamesit mehrfach die Position, umkreist die Bühne, um sich immer wieder an Schlüsselstellen der Partitur mit den dort entsprechend zum Einsatz kommenden Orchestergruppen einzubringen, seiner vor allem in Form des Harold-Themas repräsentierten „Rolle“ durch das Stück auch visuell Rechnung tragend – ohne dass dieser „Kniff“ affig oder gar störend wirken würde. Im Gegenteil. Als der Solist dann schließlich mit einigen Kollegen aus dem Orchester die Bühne komplett verlässt, um gemeinsam aus dem Auditorium heraus das Streichquartett zu bilden, welches gewissermaßen als Gegenpol zur Tutti-Raserei des Finales (ein besonderes Kompliment an Harding für dessen gepfefferte Lesart!) aufblitzt, finden das ungewöhnliche Konzept und ein Konzert der Extraklasse seinen effektvollen wie würdigen Abschluss.

16. November 2018

Swedish Radio Symphony Orchestra – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Allan Pettersson – Symphonic Movement 
Robert Schumann – Konzert für Violine und Orchester d-Moll WoO 23
(Alina Ibragimova)

(Pause)

Hector Berlioz – Roméo et Juliette / Symphonie dramatique op. 17 (Auszüge)



Allan Petterssons symphonischer Satz ist ein spannender „Widerspruch“ – von der Konzeption ist das Werk sehr konventionell angelegt, mit einer Folge mehrerer, sich klar voneinander abtrennender Abschnitte unterschiedlicher Tempi und Ausdruckscharaktere und erinnert darin z.B. an eine „klassische“ sinfonische Dichtung spätromantischer Prägung. Auch das verwendete Instrumentarium und die Klangfarben könnten dieser Epoche entsprungen sein, jedoch haben die darin angewandte Melodik und Harmonik nun wirklich nichts mit einer Stilkopie gemein. Ich weiß nicht genau, wie ich es besser beschreiben soll, aber die Melodielinien erinnern latent an vertraute, tonale Motive und Themen, ohne dabei jedoch wirklich fasslich, geschweige den eingängig zu sein. Auch die Harmonik ist keineswegs durchgängig atonal, schrammt immer wieder am Erwarteten vorbei (wobei keinesfalls Zitate oder konkrete Anklänge gemeint sind) und ist mit einer Fülle an Dissonanzen durchsetzt, ohne dabei genuin fremd zu wirken – ein bemerkenswerter Spagat, der Pettersson da gelingt.

Robert Schumann findet in meinem musikalischen Kosmos ja nicht wirklich statt. Seine Klaviermusik mag auch für Banausen wie mich ihren Reiz haben, wovon ich mich beispielsweise durch Grigory Sokolovs Fürsprache (Link) überzeugen konnte, aber ich beschäftige mich generell nicht so häufig mit Solo-Klavierliteratur. Seine Sinfonik wiederum gibt mir als Verehrer Beethovens, Berlioz’, Bruckner, Mahlers oder Schostakowitschs zu wenig interessante Impulse, die Partituren wirken auf mich immer irgendwie zu sauber – ein Umstand, den sie für mich mit Mendelssohns Werken teilen. Ich kann dem „klassischen“ Ansatz durchaus etwas abgewinnen und liebe als Wagnerianer auch Brahms, aber die Evolutionsstufe Schumann spare ich weitgehend aus. Das Violinkonzert aus seiner Feder, wie ich dem Programmheft entnehme ein Spätwerk und von Freunden und Zeitgenossen eher verhalten aufgenommen, trägt da doch einiges zur Ehrenrettung bei.

Gerade der ausladende Kopfsatz birgt einiges an dräuender Dramatik, wie ich sie mag, wenngleich das lyrische Seitenthema wieder schwächerer Natur ist. Letztlich trifft mein – sicher unfaires – Schumann-Urteil auch auf diese Komposition zu: Am liebsten ist er mir, wenn er die Stirn in Falten legt, er ist berührend, wenn er träumt, aber leider nie wirklich überzeugend, wenn er jubelt, triumphieren möchte. So lässt sich kaum ein intimerer, versonnenerer Satz als der zweite denken – sicher unterstützt durch das phänomenal zarte Spiel Alina Ibragimovas und Hardings extremen Ausloten der Pianissimo-Tauglichkeit des Saales – das unmittelbar daran anschließende Finale beinhaltet wieder diese Art beschaulichen Jubel, wie er mir zutiefst zuwider ist. Bizarrer Weise klingt das eine prägnante Thema, oftmals keck von den Holzbläsern intoniert, wie eine biedere Vorwegname der Jung-Siegfried-Welt. Heissa, jetzt wird aber gar zünftig Kehraus betrieben ...

Da muss Schumanns Zeitgenosse Berlioz nun wirklich wie von einem anderen Stern wirken. Diese konzeptionelle Kühnheit, diese raffinierte Instrumentation – es ist mir wieder einmal sonnenklar, warum ich süchtig nach den Kompositionen des französischen Ton-Revolutionärs bin. Auch ohne seine Chorepisoden gelingt es der Shakespeare-Sinfonie mit ihren rein orchestralen Teilen die Elbphilharmonie in einen wahren Tempel des Klangrauschs zu verwandeln. Was ich besonders an Berlioz schätze: Er lässt sich Zeit. Die langsam Form und Raum gewinnenden Entwicklungen und Steigerungen, die nicht enden wollende Liebesmusik (die ein weiteres Mal in Berlioz’ Oeuvre Tristan-Assoziationen weckt), in jeder nur denkbaren Gestalt ihres Themas die emotionale Achterbahnfahrt des Paars illustrierend, oder das stufenweise Vordringen in jedesmal noch verwunschenere Traumsphären im Mab-Scherzo – ich liebe Berlioz für seine Kunst und Fähigkeiten ebenso wie für seine Umsicht und Geduld, diese in allen erdenklichen Facetten auszukosten.

Das Schwedische Radio-Sinfonieorchester macht unter Harding einen bärenstarken Eindruck, einzig manche Hornpassagen (unter anderem ein prägnantes Solo), blieben hinter dem ansonsten phänomenalen Klangeindruck zurück. Streicher, Holzbläser, Blech – alles von erster Güte. Dazu Hardings Dirigat, das – wie so oft bei jenen Dirigenten, welche die Akustik der Elbphilharmonie verinnerlicht haben – vor allem mit dynamischen Kontrasten arbeitet und namentlich die leisesten Töne zur Gänsehautgewinnung nutzt. Leider keine Zugabe dieser begnadeten Kombination.

2. September 2018

Orchestre Révolutionnaire et Romantique –
Sir John Eliot Gardiner.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich I, Reihe 3, Platz19



Hector Berlioz – Le Corsaire / Ouverture op. 21 
Hector Berlioz – La mort de Cléopâtre / 
Scène lyrique für Mezzosopran und Orchester
(Joyce DiDonato – Mezzosopran)

Hector Berlioz – Chasse royale et orage / aus »Les Troyens«

Hector Berlioz – Je vais mourir / Monolog und Arie der Dido
aus »Les Troyens« op. 5
(Joyce DiDonato – Mezzosopran)

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie fantastique /
Episode de la vie d'un artiste op. 14



Der offizielle Saisonauftakt brachte gleich zwei versöhnliche Erkenntnisse: Frau DiDonatos Stimme kann, losgelöst von Selbstdarstellung und Sendungsbewußtsein, durchaus berühren und historische Aufführungspraxis muss keine furztrockene Angelegenheit sein. Denn während die Solistin sich diesmal ohne das Diven-Brimborium und jene naiv-kitschige Weltverbesserungsattitüde ihres Soloprogramms (Link) ganz in den Dienst der vorgetragenen Werke stellte, brannte Sir John Eliot Gardiner ein wahres Feuerwerk der Kontraste mit seinen revolutionär-romantischen Kollegen ab.

Ein reines Berlioz-Programm – was könnte es Schöneres zum Start in die neue Elphi-Spielzeit geben? Ein wenig skeptisch war ich nur bezüglich der beteiligten Künstler. Frau DiDonato hatte vor nicht allzu langer Zeit an gleicher Stelle einen mehr als nachdrücklichen ersten Eindruck auf mich gemacht – selten hat mich ein Liederabend so abgestoßen. Heute konnte ich mich glücklicherweise voll auf ihren stimmlichen Vortrag konzentrieren, ohne von Flitter und Schwulst abgelenkt zu werden. Nach dieser Darbietung kann ich schon eher nachvollziehen, warum die Dame einen so großen Namen in der Szene besitzt, wenn ich auch bei meinem Urteil bleibe, dass mir persönlich andere Mezzos (Garanča, Coote) noch besser gefallen. So oder so, der gesprochen-gehauchte Tod der Cleopatra war schon ein bewegendes Ereignis.

Held des Abends war für mich jedoch eindeutig Herr Gardiner mit seiner Truppe. Beileibe kein Freund der historischen Ausfführungsart, muss ich zugeben, dass die alten Instrumente mit ihrem z.T. doch sehr herben, unbehauenen Klang in Kombination mit dem knackigen Dirigat dem expressiven Berlioz gut zu Gesicht standen. Es ist schon krass, wie anders allein das Becken klang, mehr Mülltonnendeckel denn Schallverteiler, oder wie oft die Hörner ihre Windungen während eines Stückes getauscht haben. Was aber am Ende zählt, ist ein mitreißender Vortrag dieser unglaublich progressiven Werke. Die Kleopatra-Szene ist fast schon ein Vorgriff auf Berg, die Wirkung der Symphonie Fantastique auf ihre Zeitgenossen lässt sich beinahe heute noch nachspüren. Mein größter Respekt an den rüstigen Pultmeister – das Feuer, es brannte!

5. Juni 2018

La Damnation de Faust – Marc Soustrot.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Eine traumhafte konzertante Aufführung dieses herrlich heterogenen Opernmischwesens aus Berlioz’ Feder. Das Orchester bestens aufgelegt unter dem differenzierten Dirigat Soustrots, welches die Feinheiten ins beste Licht rückte, ohne an entsprechender Stelle mit Schmackes zu sparen – ideal für diese kontrastreiche Partitur. Die Sängerin der Marguerite offenbar eine Expertin für diese Rolle, sehr souverän, mir allerdings eine Spur zu herb. Der Tenor eigentlich mit schöner Stimme, angenehmer Mittellage aber leider mit keinerlei Höhe gesegnet, so wurde mancher Spitzenton mehr verzweifelt eng gepresst denn ausgekostet.

Auskosten ist wiederum das richtige Stichwort für Herrn Terfel, der von der ersten Sekunde seines Erscheinens auf der Bühne an dem Abend als Höllenfürst seinen Stempel aufdrückte. Terfel, der Teufel, möchte man witzeln, aber was dieser Mann an darstellerischer wie stimmlicher Präsenz und Spielfreude mitbringt, reicht für ein ganzes Ensemble. Es ist eine schiere Wonne, ihn dem ekelhaften Widerling mit solch beißender Ironie, dabei stets kontrollierter Berechnung Gestalt verleihen zu sehen und dabei gleichzeitig einer der schönsten und ausdrucksstärksten Bassbaritonstimmen zu lauschen. Die mitunter auch richtig fies klingen kann, dann wieder verführerisch beschwörend oder unmissverständlich gebieterisch – eben durch und durch wandelbar-wunderbar.

Was in gleichem Maße eben auch auf das Stück selbst zutrifft. Ich liebe diesen Zwitter aus Nummernoper und Oratorium mit seinen grellen Kontrasten und einem Reichtum an musikalischer Originalität, die mich heute wieder sprachlos zurückließ. Die Rattenfuge, der Höllenritt, klar, das sind Bomben voller Ironie, Galle und im Finale auch ganz viel Schwefel und Zunder, aber gerade auch in den intimen Passagen besitzt diese Musik soviel Subtiles, Feines, Zauberisches, stellt das ebenso seltene wie glückliche Zusammenspiel beseelter Inspiration und höchster Meisterschaft der Instrumentation dar. Die Ballade der Marguerite, wie sie vom Orchester vorbereitet, begleitet und aufgenommen wird, oder die verwunschene Irrlichtermusik, gleichsam bizarr und zart, Ohr und Gemüt hypnotisierend.

Fazit: wo Kostüm und Bühnenbild fehlen, übernimmt die Fantasie, und wenn sie so wahrhaft fantastisch wie heute befeuert wird, entsteht ein Musiktheatertriumph in uns.


Hector Berlioz – La damnation de Faust,
Dramatische Legende in vier Teilen op. 24

Marguerite – Sophie Koch
Faust – Paul Groves
Méphistophélès – Sir Bryn Terfel
Brander – Edwin Crossley-Mercer

Malmö Symfoniorkester
MDR Rundfunkchor Leipzig
Dirigent – Marc Soustrot

27. Mai 2018

KunstFestSpiele Herrenhausen.
NDR Radiophilharmonie – Ingo Metzmacher.
Kuppelsaal Hannover.

11:00 Uhr, 1. Rang, Block 3, Reihe 3, Platz 19



Hector Berlioz – Grande Messe des Morts „Requiem“ 
Bernd Alois Zimmermann – Stille und Umkehr

Hannoversche Chöre:
Bachchor Hannover / Norddeutscher Figuralchor – Leitung: Jörg Straube
Capella St. Crucis Hannover / Collegium Vocale Hannover – Leitung: Florian Lohmann
Johannes-Brahms-Chor Hannover / Mädchenchor Hannover – Leitung: Gudrun Schröfel
Junges Vokalensemble Hannover – Leitung: Klaus-Jürgen Etzold
Kammerchor Hannover – Leitung: Stephan Doormann
Knabenchor Hannover – Leitung: Jörg Breiding
Tenor – Werner Güra

NDR Radiophilharmonie
Orchester der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
(Einstudierung durch Musiker der NDR Radiophilharmonie und Lehrende der HMTMH)

Dirigent – Ingo Metzmacher
Musikalische Assistenz – Julian Wolf
Produktionsleitung – Lisa Magdalena Mayer



Zweiter Teil der inoffiziellen norddeutschen Requiem-Woche – heute: Berlioz in Hannover. Fast könnte man meinen, Ingo Metzmacher habe wirklich alle geschulten Kehlen der Leinestadt zusammengetrommelt, um dieses Riesenprojekt auf die Beine zu stellen, listet das Programmheft doch allein neun verschiedene Chöre auf. Darf ’s auch etwas mehr sein – so lautet heute das Motto im imposanten Kuppelsaal. Da ist es umso bezeichnender, dass, obgleich die Chorempore prall gefüllt und auch auf der Bühne kaum Platz für weiteres Instrumentarium zur Verfügung steht, die eigentlich von Berlioz vorgeschriebene Besetzung selbst damit nicht erreicht wird. So zählt man beispielsweise „lediglich“ beeindruckende 10 Bässe statt der aberwitzigen 18, die der französische Feuerkopf vorsah.

Aber egal, mit blanken Zahlen wird man diesem gigantischen Werk ohnehin nicht gerecht, dass über weite Strecken ungleich subtiler, inniger, feinfühliger daherkommt, als es die Monsterbesetzung nahe legen würde. Ohne Zweifel ist es eine beinahe apokalyptische Erfahrung, die vier Blechbläsergruppen – hier akustisch optimal im Rund des Saales verteilt – zu erleben, gewissermaßen das Jüngste Gericht in Dolby Surround, ergänzt vom infernalischen Erdbeben der zehn Paar Pauken auf der Bühne. Eine derart physische musikalische Einwirkung habe ich wohl bislang kaum verspüren dürfen, womit hier die Fülle des Raumes trotz aller Intensität nichts Lärmiges, sondern Druck und Präsenz entstehen lässt. Genau der richtige Kontrast zu den teilweise direkt anschließenden Oasen der Ruhe und Kontemplation, mit denen Berlioz’ Werk fast noch mehr den Atem zum Stocken bringt – was für eine beseelte, originelle, durch und durch suggestive Musik, die mit fortlaufender Dauer einen regelrecht meditativen Sog entfaltet.

Mein Respekt gilt allen Ausführenden, den tadellosen Sängern, dem wunderbar homogenen Klangkörper-Zusammenschluss aus Radiophilharmonie und Hochschule – selbst die Mammut-Blechaufgaben des Fernorchesters wurden mit Bravour gelöst (was für ein sattes Posaunencrescendo im Zusammenspiel mit dem einsamen, fahlen Flötenklang!) – und nicht zuletzt dem Dirigenten und Initiator der Aufführung, Ingo Metzmacher: Hut ab vor der Leistung, diesen Koloss auch über die Distanzen zusammenzuhalten (auch wenn dazu beim Tuba mirum wahrlich dirigentische Handkantenschläge von Nöten waren) und ebenso vor der Idee, diesem an Ressourcen und Ausdehnung übervollen Werk noch ein weiteres, weniger Trost spendendes denn irrlichterndes als komponiertes Fragezeichen an die Seite zu stellen. Bernd Alois Zimmermanns „Stille und Umkehr“ folgte dem Requiem nahtlos als rastloser, verlöschender Schatten, der dem Vergänglichkeitsthema eine weitere, subjektivere, persönliche, bedrückende Facette abrang. Bewegend, erschütternd, zu sich führend – ein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Konzert.

1. Dezember 2017

Orchestre Métropolitain de Montréal –
Yannick Nézet-Séguin.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Pierre Mercure – Kaléidoscope

Hector Berlioz – Les nuits d’ été (Marie-Nicole Lemieux – Alt)

(Pause)

Camille Saint-Saëns – Konzert für Violoncello und Orchester
Nr. 1 a-Moll op. 33 (Jean-Guihen Queyras)

Edward Elgar – Enigma-Variationen op. 36

Zugabe: Maurice Ravel – Pavane pour une infante défunte


Das Fazit diesmal vorweg: Immer wieder schön, wenn man positiv überrascht wird. Nachdem mich das erste Konzert, dass ich mit Herrn Nézet-Séguin und seinem Klangkörper aus Rotterdam (Link) erleben durfte, relativ kalt gelassen hatte, erschloss sich mir heute mit Nachdruck, warum dieser Mann zu den führenden jungen Dirigenten gezählt wird. Aber zunächst ein paar Worte zu den einzelnen Programmpunkten.

Mercures Kaleidoskop ist Programmmusik, wie sie im Buche steht. Sehr eingängig, abwechslungsreich, die rhythmischen Passagen erinnern entfernt an Copland oder Bernstein, insbesondere was den Drive angeht. Dann geht es wieder sehr passioniert, schwelgend zu – Filmmusik, könnte man meinen. Das Orchester ist bestens aufgelegt, minimale Schwachstellen im Blech, dafür ausgesprochen feines Holz und gute Streicher – einzig die Bässe ungewöhnlich wenig präsent – mag das an der Positionierung (mittig hinten) liegen? Dirigierte Nézet-Séguin den Mercure ohne Taktstock, aber mit Partitur, griff er für Berlioz wieder zum Stöckchen.

Ja, der Berlioz: Ein Wahnsinns-Zyklus. Diese Klangfarben, diese Innigkeit, somnambule Entrückheit – der Tristan vorausgedacht, ebenso wie die Liebesnacht von Dido und Aeneas. Die Sängerin war anfangs gar nicht mein Fall, ihre Stimme erschien mir etwas säuerlich (Alt ist aber ja häufig „problematisch“). Doch mit fortlaufender Dauer erkannte ich, was in dieser Kehle schlummert: Technisch wunderbar, Phrasierung topp und vor allem in den ganz leisen, intimen Passagen unglaublich sensibel. Eben genau passend zu Nézet-Séguins Lesart, die alles aus der Akustik herausholt. In dieser Form sind solche musikalischen Zärtlichkeiten wohl nur hier unter diesem Dach umsetzbar. Streicher und Holz feinfühligst, die Hörner jetzt tadellos – ein wahrer Traumklangteppich. Hypersensibel, ich muss es wiederholen.

Was man vom Publikum leider weniger behaupten konnte – Mitfilmen, Unruhe, Huster, Dummbatz-Applaus zwischen den Berlioz-Sätzen. Aber zum Glück, wenn es akustisch drauf an kam, dann doch halbwegs gesittet. Das Cellokonzert von Saint-Saëns erweist sich als äußerst kurzweilig, der Solist ohne Fehl und Tadel, wenn auch etwas blass. Hätte bisschen mehr Druck und Saft vertragen können, dafür sehr edel, schlank, ätherisch.

Und dann kam Elgar und Nézet-Séguins große Stunde. Wenn man gemein sein möchte, könnte man den jungen Stardirigenten als hoffnungslosen Softie bezeichnen. Nein, im Ernst, der Bursche ist potenzierter Feinsinn, kostet jede Phrase bis ins letzte Detail aus, ohne dabei zu schleppen – im Gegenteil: Nimrod relativ flott und trotzdem zaubert er eine Bombensteigerung hin. Und wenns sein muss, kann der Kanadier auch Kante – Blech-Einsätze mit ordentlich Knack, im Finale wird die dynamische Reserve ausgekostet, dass der britische Pomp den ganzen Saal erbeben lässt. 

Bei der im Anschluß daran gegebenen Ravel-Zugabe wird, wie schon im Elgar, ein ganz zentraler Punkt der Handschrift Nézet-Séguins bestätigt: Transparenz. Ist es hier beispielsweise die Harfe, welche ganz klar das feine Klanggewebe durchglitzert, waren es im Nimrod die Celli, die ich so präsent als Teil des Streichergefüges noch nie wahrgenommen hatte. In jedem Fall ist der Mann prädestiniert für das Sanfte, Schwebende, „Französische“ – ich bin mehr als gespannt auf das baldige Wiedersehen mit seinen Kollegen aus Philadelphia und Bernstein sowie Tschaikowsky im Gepäck – damit hätte ich dann auch Nézet-Séguins aktuelles Orchesterportfolio komplett.

Laut der kleinen Ansprache seines Chefdirigenten handelt es sich um die erste (Europa?-)Tournee des Orchestre Métropolitain de Montréal seit seinem Bestehen – ich will doch schwer hoffen, dass der Reisewille nach umjubelten Konzerten wie diesem für die Zukunft endgültig geweckt ist.

21. Oktober 2017

Les Troyens – John Fiore.
Semperoper Dresden.

16:00 Uhr, Parkett rechts, Tür F, Reihe 5, Platz 23



Berlioz gehört ja zu meinen absoluten Lieblingen. Die ganze Figur des scharfzüngigen Feuerkopfs und experimentierfreudigen Orchesterinnovators fasziniert mich seit eh und je – und dann erst seine Werke! Ob Requiem, Fausts Verdammnis oder die unausweichliche Symphonie Fantastique, ob Harolds gebratschte Italiensehnsucht, der irisierende Streicher- und Harfen-Glitzer der Fee aus Romeo und Julia oder der bald lähmend düstere, bald machtvolle Bläsersatz der Grande symphonie funèbre et triomphale – Ein Komponist der feinen wie der großen Geste, ein Komponist der Kontraste. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass seine größte, zumindest ambitionierteste, zeitlich ausgedehnteste Beschäftigung mit dem Musiktheater meine Reiselust weckt, wenn es an solch exquisitem Hause gegeben wird.

Ich schreibe absichtlich „ambitionierteste“ und nicht „beste“ Arbeit, weil ich mir nach dem dritten Liveerlebnis dieses Werkes immer noch nicht ganz sicher bin, wie und wo genau ich es in mein Berlioz’sches Schwärmportfolio einzuordnen habe. Die Berliner Produktion ließ mich seinerzeit erst begeistert (Link), dann reserviert (Link) zurück, und auch heute bleibt ein ambivalentes Gefühl zurück. Die Partitur enthält fraglos jene Schön- und Kühnheiten, für die ich Berlioz so liebe, macht es dem Hörer angesichts ihrer Länge und Komplexität nicht gerade leicht, von diesem nach jenen wenigen und seltenen Begegnungen vollumfänglich erfasst und somit auch geschätzt zu werden. So verließ ich nach fünf Stunden die Semperoper mit der Frage, ob da an diesem Abend nicht doch mehr drin gewesen wäre.

Bei der Spurensuche diesbezüglich möchte ich mich in erster Linie auf die Inszenierung stürzen, da die musikalische Umsetzung ohne Zweifel kaum Anlass zur Beanstandung bot – im Gegenteil, aber dazu später mehr. Willkommen in Troja, oder besser gesagt, willkommen in Dresden, denn die seit zehn Jahren belagerte und nun nach dem scheinbaren Abzug der Griechen in Feierlaune befindliche Stadt ist in dieser Produktion die Elbmetropole Ende des 19. Jahrhunderts (Im Programmheft ist vom "Fin de siècle" die Rede, aber die preußische Pickelhaube hat bei Herrn Falaschi noch nicht Einzug gehalten). Die Feierlichkeiten zum trügerischen Frieden finden demnach auf dem Opernplatz statt, eine große Architekturzeichnung der Semperoper dominiert das Bühnenbild. Eine vielleicht erst mal befremdlich anmutende „Aktualisierung“, bei der sich Frau Steier und ihr Team aber sicher etwas gedacht haben werden. Nicht unspannend, das Problem nur: welche Absicht auch immer sich dahinter verbirgt – sie erschloss sich mir im weiteren Verlauf der Inszenierung leider nicht. Ich möchte gern glauben, dass mehr als ein lokaler Bezug hergestellt werden sollte, bleibe jedoch ratlos. Troja kann überall sein? Dafür brauche ich dann keine sächsischen Uniformen aus dem Militärmuseum, sorgsam ondulierte Schnurr- und Backenbärte bei den Herren sowie in der Mode der Zeit gekleidete Damen. Das Militär hat bei den Trojanern die Hosen an, schon klar, aber auch dafür ist diese örtliche und zeitliche Eingrenzung nicht relevant.

Abgesehen von jener Irritation muss man es den Verantwortlichen aber lassen, dass sie mit der gleichen Detailversessenheit der Maske und Kostüme ebenso die Personenregie bedacht haben, so dass es gerade bei der Fülle an Massenszenen mit Choristen und Statisten viel zu entdecken gibt. So ist das Volk nicht allein trunken des Sieges, sondern gibt sich frohgemut allerlei alkoholischen wie kulinarischen Genüssen hin – Der König selbst (Priamus hier folgerichtig als Albert von Sachsen) macht den Anstich, die Gulaschkanone dampft, Würstchen finden hungrige Abnehmer. Optisch ansprechend und räumlich clever gelöst ist die Szene, in der einzelne Tribünensegmente, einem kleinen Ballett gleich, über die Bühne dirigiert werden – eines für das Volk, eines für den Klerus und eines für den Hofstaat. Viele der Choristen scheinen kleine Rollen einstudiert zu haben, an jeder Ecke spielen sich Mini-Szenen ab, so dass man im Gewusel mitunter gar nicht alles mitbekommt.

Der König ist ein Stoffel, der erst von seiner Gattin ermahnt werden muss, beim Erscheinen der Witwe Hektors Haltung anzunehmen, Aeneas versucht den Halbwaisen mit einem Luftballon aufzuheitern und durch eine Partie Stein-Schere-Papier auf andere Gedanken zu bringen. Die Mutter verliert beim Anblick eines Säuglings vollends die Fassung und muss gewaltsam von dem fremden Kind getrennt werden. Die Tragik der Szene wird andererseits durchaus gebrochen, beispielsweise wenn der Soldat der derangierten Witwe verschämt ein Würstchen anbietet. Manche Grausamkeit wird wiederum mit einem Hyperrealismus zelebriert, so etwa bei der Präsentation Laokoons, dessen entstellter Leib direkt der Pathologie entnommen scheint, oder wenn Cassandra einer Trojanerin in der Gewalt der Griechen mit einem Hieb den Bauch aufschlitzt, dem daraufhin ein ordentliches Bündel blutiges Gekröse entspringt.

Die Schreckensvisionen der besagten Seherin tauchen die Bühne jeweils in ein gespenstisches, gelbes Licht; während Cassandra versucht, Einfluss auf ihre Mitbürger zu gewinnen, bewegen sich diese in Zeitlupe, unbeeindruckt, verlachen sie. Bei dem vergeblichen Versuch, ihren Verlobten zur Flucht zu bewegen, ist ihr verstorbener Sohn als Gespenst allgegenwärtig. Letztlich kann sie weder ihren Liebsten retten noch verhindern, dass das Pferd der Griechen in die Stadt gebracht wird – in dieser Inszenierung ist es eine Kopie des Reiterstandbildes auf dem Opernplatz. Warum auch immer, mehr als einen Gag konnte ich darin nicht erkennen. Das trojanische Pferd ist ein Fremdkörper, eine scheinbare Opfergabe der Griechen – das Reiterstandbild ist ein Teil Dresdens, somit Trojas. Egal.

Der theoretische Hauptcharakter Énée bleibt erst mal unauffällig. Er ist ein Tunichtgut, der sich mit Damenbesuch auf seinem Zimmerchen vergnügt, während die Griechen die Stadt in Schutt und Asche legen. Die unstrittige Zentralfigur der ersten beiden Akte stellt hingegen Cassandra dar. Aus meiner Sicht hat Berlioz für sie auch die beste Musik des Trojaner-Teils der Oper geschaffen, namentlich ihre Überzeugungsversuche, besonders ergreifend in der Dialogszene mit ihrem Verlobten Chorèbe, bevor sie schließlich in wahnhaftem Eifer zum Massenselbstmord der Trojanerinnen aufruft. An vielen Details der Instrumentation wird deutlich, wie effekt- und wirkungsvoll Berlioz für das Theater komponierte, etwa anhand des langsam aus Fernorchesterweiten anschwellenden Triumphmarsches oder der Erscheinung des toten Hektors – erst düstere, leise Klänge der Vorahnung, dann ein greller Beckenschlagblitz aus dem Nichts.

Nach der Pause geht es in Karthago ähnlich aufwändig weiter, wir erleben das emsige Treiben der Tyrer, ihrerseits eine Art Studie des vorrevolutionären Russlands – orthodoxe Priester, Trachten, Flechtfrisuren. Hammer und Sichel im Gebrauch künden vom Arbeiter- und Bauernstaat. In diese Idylle stranden die Dresdner Militärs, Pardon, die Trojaner. Zweifel daran, wie zwingend diese Bemäntelung der beteiligten Parteien ist, wohin sie führt, mehren sich. Aller Akribie der Personenregie – die Dresdner/Trojaner richten sich in Karthago häuslich ein, hissen ein Semperoperbanner und befeuern die Gulaschkanone nach erfolgreichem Feldzug gegen die nubischen Aggressoren – steht doch überraschend wenig Idee gegenüber.

Sicher, ein ganz wesentlicher Eingriff der Regie besteht darin zu zeigen, wie sich die Krieger nicht allein an Bier und Würstchen, sondern auch an den karthagischen Frauen gütlich tun, und das in bester Besatzungsmachtmanier. Das ist ja auch nicht dumm, kommt den Frauen in diesem Werk doch eine, wenn nicht die zentrale Rolle zu, als Einzelpersonen (Cassandra/Dido) wie im Kollektiv. Um allein auf diesen Umstand hinzuweisen, hätte es aber nicht dieser Pseudo-Aktualisierung bedurft, die eher in die Irre führt. Das Leid, welches Krieg – und Krieger – gerade bei der weiblichen Bevölkerung verursachen, ist ein leider allgemeiner, ja ewiger Gegenstand menschlicher Geschichte. Ich weiß nicht, was dieser falsche Realismus dem hinzufügt. Die Unterredung der beiden Trojaner über die Vorzüge des Müßiggangs in der Fremde in einer Vergewaltigung gipfeln zu lassen, legt den Finger in die richtige Wunde – den ganzen Kostümfundus-Mummenschanz braucht es da gar nicht (Bezeichnenderweise rief gerade diese Szene den Unmut einiger Besucher hervor – das alte Thema: man möchte sich die selbst geschaffene Illusion belangloser Oberflächlichkeit, bemäntelt als „Schönheit“, im Theater nicht zerstören lassen).

Vollends entglitt die Kostüm-Charade dann bei der Abwendung des Überfalls auf Karthago. Die Nubier als Krummsäbel schwingende Klischeearaber, denen in Karl-May-Festspiel-Qualität der Garaus gemacht wird. Während des nachfolgenden Zwiegesprächs zwischen dem Minister und Didos Schwester ist es schwer, bei aller ausinszenierten Leichenfledderei und minutiösen Abtransports der Gefallenen überhaupt noch etwas vom Inhalt der Unterhaltung mitzubekommen. Zur Walzerseligkeit der Liebesmusik von Dido und Aeneas treiben trojanische Wachen das karthagische Volk über die Bühne – gelangweilte Krieger sind eine Zeitbombe, ich hab's begriffen. Vorher schon. Die Ballettszenen scheinen gekürzt, dafür gibt es ein paar Artisten – Szenenapplaus, natürlich.

Der letzte Akt schließlich wartet mit weiteren Ärgernissen – warum müssen die Trojaner an solch leiser Stelle an den Segeln ihrer Requisiten-Schiffchen rumfummeln? – aber auch mit der stärksten Szene des Abends auf: die Idee, die verstorbene Cassandra und ihren Sohn der verzweifelten Dido als tröstende Geister an die Seite zu stellen, ist ebenso zwingend wie ergreifend. Ansonsten endet die Inszenierung unbefriedigend – der Sockel des Reiterstandbild-Zitats muss als Scheiterhaufen herhalten, Dido bekommt noch ein neues dekoratives Kleid und geht mit Aeneas´ Waffenrock in den Tod.

Kommen wir nach so viel Ambivalenz des Szenischen zur erfreulich homogenen und erwartet hohen Qualität der musikalischen Umsetzung. Konfrontiert mit einem doch eher überschaubaren Orchestergraben, geriet die üppige Besetzung zur räumlichen Herausforderung – Teile des Blechs, an einer Stelle gar des Chores, wurden daher ins Proszenium ausgelagert. John Fiore hatte die Klangmassen dennoch bestens im Griff, sorgte für Momente kolossaler Energieentladungen, hatte aber eben gleichermaßen das feine, zarte der Partitur im Blick. Die Staatskapelle Dresden, abgesehen von minimalen Schönheitsfehlern im Blech, mit einer bärenstarken Leistung. Die Chöre druckvoll, ekstatisch.

Aus der Sängerriege stachen die beiden großen Damenpartien nicht allein aufgrund ihrer Anteile und Bedeutung wegen heraus. Zum einen Jennifer Holloway als Cassandra, die mich heute am meisten beeindruckt hat – feinstes Mezzo-Timbre mit einer gehörigen Portion Feuer und – trotz der tragischen Anlage der Rolle – Erotik, zudem eine Sängerin mit außergewöhnlicher Bühnenpräsenz. Zusammen mit dem wunderbar weich-samtigen Bariton Christoph Pohls, lyrisch und voller Schmelz, bildete sie für meine Ohren das Paar des Abends, in jedem Fall die besten Stimmen der beiden Troja-Akte. Das eigentliche Traumpaar (oder Albtraumpaar, angesichts des Ausgangs ihrer Beziehung) Dido und Aeneas, konnte mich zuerst nicht in gleichem Maße fesseln, da ihre Verkörperer stimmlich doch aus etwas anderem Holz geschnitzt schienen. Bryan Register besitzt einen warmen, angenehm edlen Tenor ohne Schärfe, aber gleichzeitig auch ohne die letzte heldische Strahlkraft, was sich insbesondere bei Spitzentönen bemerkbar machte. Christa Mayers Stimme ist im Gegenzug zu Frau Holloway weniger von sinnlicher Leidenschaft geprägt, ihre Dido hat etwas mütterlich-gütiges, ich höre hier weniger vom Feuer der Liebe, als es die Partie vielleicht verlangt – halt mehr Brangäne als Isolde. Mayers Stunde schlägt jedoch dann, wenn der trojanische Thronflüchtling längst über alle Berge ist. Die Verzweiflung, Wut und tiefe Traurigkeit der Königin in ihrem nicht enden wollenden Abschied von ihrer Liebe, sich und der Welt, kann man intensiver, nuancenreicher wohl kaum transportieren – überragend. Aus einer Fülle weiterer sängerischer Glanzlichter möchte ich Simeon Esper hervorheben, der mit dem Lied des Hylas seinen fein-edlen Tenor erstrahlen ließ.

Am Ende gelange ich wieder zu Berlioz und der Frage, ob diese Oper einmal einen ähnlichen Stellenwert bei mir innehaben wird, wie so viele andere seiner Werke. Ich bewundere auch hier den Instrumentationsmagier. Die zweite Geistererscheinung toppt die erste noch an Ungeheuerlichkeit – Flageolett, höchste Höhen gegen tiefsten Bassgrund. Klingt so einfach, das Ergebnis lässt die Nackenhaare tanzen. Ebenso zeigt sich wieder der Schöpfer von Kühnheiten – die Intervalle direkt vor dem Liebesduett machen mich in bestem Sinne fertig. Und dann sind da diese unglaublichen Schönheiten, scheinbar aus dem Nichts, beispielsweise wenn jene unfassbar anrührenden Holzbläserfiguren, vor allem die der Flöten, Dido auf ihrem letzten Weg begleiten. Überhaupt Dido – was für ein unerhört endloses Ende. Die Trojaner sind ein Werk, das nicht leicht zu knacken ist, soviel habe ich gelernt. Aber ich möchte es gern weiter versuchen.

PS: Es mag vielleicht banal klingen, aber mir ist erst heute die verblüffende Ähnlichkeit im Grundkonflikt aufgegangen, welche die Trojaner mit der fast zeitgleich entstandenen Afrikanerin/Vasco de Gama von Meyerbeer teilt – hier wie dort dreht sich alles um eine Exotische Königin, die einem fremden Eroberer Asyl gewährt, sein Herz an ihn verliert und schließlich ihren Leben selbst ein Ende setzt, nachdem er sie verlassen hat. Zweimal Grand opéra – zweimal ganz große Oper.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – John Fiore
Inszenierung – Lydia Steier
Bühnenbild – Stefan Heyne
Kostüme – Gianluca Falaschi
Licht - Fabio Antoci
Chor – Jörn Hinnerk Andresen
Leitung Kinderchor – Claudia Sebastian-Bertsch
Dramaturgie – Anna Melcher

Énée – Bryan Register
Chorèbe – Christoph Pohl
Panthée – Ashley Holland
Narbal – Evan Hughes
Iopas – Joel Prieto
Ascagne – Emily Dorn
Cassandre – Jennifer Holloway
Didon – Christa Mayer
Anna – Agnieszka Rehlis
Hylas / Hélénus – Simeon Esper
Priam – Chao Deng
Der Schatten Hectors / Mercure – Alexandros Stavrakakis
1. trojanischer Soldat / ein griechischer Führer – Jirí Rajniš
2. trojanischer Soldat / Soldat – Mathhias Henneberg
Hécube – Ute Selbig
Polyxène – Roxana Incontrera
Andromaque – Angela Schlabinger

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden

Artisten
Damen, Herren und Kinder der Komparserie

3. März 2013

Les Troyens – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin.

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 19










Hmm, heute war’s n bißchen zäh. Warum eigentlich? Die Oper selbst hat nicht so gezündet, wie es der erste Eindruck (Link) erhoffen ließ. Sind auf jeden Fall geniale Sachen drin (bezogen auf Instrumentation – z.B. zweite Geistererscheinung; Bezogen auf musikalische Eingebung – insbesondere die Musik im Zusammenhang mit Dido, hier als Krone ganz klar die Passage vor (Ensemble) und während des Liebesduetts). Aber für ein abschließendes Urteil ist es eh zu früh und die Partitur zu komplex, außerdem reden wir hier wohlgemerkt von Berlioz – und der hat mich bekanntlich noch nie enttäuscht.

Die Besetzung empfand ich beim letzten Mal ebenfalls glücklicher, obwohl sich diese nur auf wenigen, dafür maßgeblichen Positionen verändert zeigte. Hatten sicher viele Besucher dem Dido-Rollendebüt Elīna Garančas entgegengefiebert, das dann eben doch nicht zustande kam, war das für mich gar nicht der Punkt. Daniela Barcellona hatte die Partie schon im letzten Jahr sehr beeindruckend gegeben und daran gedachte sie glücklicherweise auch heute nichts zu ändern. Eine große Stimme mit exemplarischer Bandbreite des Ausdrucks. Eben jene konnte der Aeneas-Einspringer aber leider nicht vorweisen. Eine insgesamt eher bemühte, angestrengte und somit anstrengende Vorstellung. Auch die Kassandra war ehedem stärker besetzt, wobei Frau Komlosi jetzt nicht schlecht ablieferte – dennoch führen solche Details eben zu einem „ok“ statt „fulminant“ – um meine eigene Bewertung vom vorletzten Jahr nicht ganz dem Verdikt der Willkür anheimfallen zu lassen.

Auch das Dirigat hatte ich ja explizit gelobt. Und sicher gab es heute eine Vielzahl äußerst gelungener Passagen, in denen man sich vom schieren Wohlklang des Orchester berauscht fühlen durfte. Dennoch möchte ich in den beschwingt leichten, wieselflinken – „urfranzösischen“ – Manövern durchaus hier und da eine gewissen Trägheit kritisieren. Das fiel mir gleich zu Beginn auf, als das Ganze nicht so richtig Fahrt aufnehmen wollte, etwas behäbig daherkam. Perlende Virtuosität, wie sie hier von Nöten gewesen wäre, klingt anders.

Um den Nörgelreigen komplett zu machen: Selbst die an Schauwerten überbordende Inszenierung traf heute nicht zwingend meinen Nerv, bzw. nur in Teilen. Ästhetisch betrachtet ist das wirklich eine runde Sache. Auf der einen Seite die aggressive Kriegswelt der Trojaner in Rot- und Erdtönen, auf der anderen die lieblich milde Sphäre der friedensliebenden Carthager in Gelb, Grün und Weiß. Vor allem die mannigfaltigen Kostüme sind ein wahrer Augenschmaus.

Bei der zweiten Durchsicht der Regiearbeit traten mir aber bestimmte Details ins Blickfeld, die mir beim ersten Mal nicht störend aufgefallen waren, die mich nun jedoch irritierten. Chormassen, die doch eher planlos umherlaufen, Kassandras Strickpferdchen oder das Trojanische Geisterquartett, das sich seltsam albern gebärdet und Aeneas Aufbruch schließlich mit der peinlichsten aller möglichen Bühnen-Gesten feiert– dem berufsjugendlich-bräsigen Abklatschen. Wie gesagt, auch hier geht es „nur“ um Details, die das Gesamtkonzept lediglich von Zeit zu Zeit eintrüben.

Hatte mich die gigantische Holzpferd-Maschinerie seinerzeit noch begeistert, vielmehr verblüfft, verpufften derlei Effekte jetzt weitestgehend. Auf der anderen Seite wäre es unfair, die zweifellos sehr abwechslungsreichen und aufwändigen Bühnenwirkungen madig zu machen, die durchweg von Fantasie und Inspiration zeugen. Manches wirkt fast schon zu verspielt, wie die Seifenblasenseligkeit um das Liebespaar, unter dem Strich muß man solch eine Produktion aber erst mal derart vielfältig stemmen – der Respekt überwiegt. Besonders gelungen erfolgte die Einbindung der Balletteinlagen, allen voran die lange Choreografie der ganz in Grün getauchten Jagdszene.

Welcher Eindruck besteht also am Ende? So ganz sicher bin ich mir da selbst nicht. Vor allem der Schluß mit dem nicht enden wollenden Lamentieren der Dido, ihrem Sterbenwollen und dann weiteres Lamentieren und „endlich“ der Vollzug, an den sich wiederum ein weiteres Chorlamento anschließt, zog sich für mein Empfinden – auch musikalisch bzw. auf die Struktur des Finales bezogen – so ungemein in die Länge, daß als letzter Gemütszustand eher Ermattung als Erschütterung hängen blieb. Habe ich Werk (und Umsetzung) doch überschätzt? Ich werde dem wohl am heimischen CD-Regal in Ruhe auf den Zahn fühlen. Das bin ich meinem Freund Berlioz schließlich schuldig.


Hector Berlioz – Les Troyens
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – David Pountney
Bühne – Johan Engels
Kostüme – Marie-Jeanne Lecca
Chöre – William Spaulding
Licht – Davy Cunningham
Choreographie – Renato Zanella

Énée – Daniel Magdal
Chorèbe – Markus Brück
Panthée – Seth Carico
Narbal – Ante Jerkunica
Iopas / Hylas – Yosep Kang
Ascagne – Jana Kurucová
Cassandre – Ildiko Komlosi
Didon – Daniela Barcellona
Anna – Clémentine Margaine
Priam – Lenus Carlson
Ein griechischer Heerführer – Marko Mimica
Hector – Stephen Bronk
Hélénus – Alvaro Zambrano
Ein Soldat – Andrew Harris
Erster trojanischer Soldat – Markus Brück
Zweiter trojanischer Soldat – Lenus Carlson
Mercure – Stephen Bronk
Hécube – Hulkar Sabirova
Andromache – Étoile Chaville
Astyanax – Alberto Garcia Minguez

Orchester der Deutschen Oper Berlin
Chor der Deutschen Oper Berlin
Extrachor der Deutschen Oper Berlin
Opernballett der Deutschen Oper Berlin
Statisterie der Deutschen Oper Berlin

2. März 2013

Ballett-Gala. Staatsballett Berlin.
Brandenburger Theater

19:30 Uhr, Parkett, Reihe C, Platz 9















Was verschlägt einen als Hamburger ans Brandenburger Theater – außer der fixen Idee, stetig neue Häuser kennenlernen zu wollen? Ein Gastspiel des Berliner Staatsballetts beispielsweise. Am Sonntag locken die Trojaner in die Hauptstadt, das läßt sich doch wunderbar kombinieren.

Das Theater, genauer das multifunktionale Cultur Congress Centrum, ist nicht unbedingt eine Augenweide, bzw. angesichts der historischen Straßenzüge ringsum ein veritabler Fremdkörper, aber hübsch in eine kleine Parkanlage am Wasserlauf eingebettet. Außerdem geht es ja darum, Tanz- und Tonkunst auf sich wirken zu lassen – und weniger die Tristesse der Baukunst der Gegenwart. Bezüglich der technischen Gegebenheiten und Akustik kommt der geneigte Ästhet dann auch durchaus auf seine Kosten: Ein mehr als brauchbarer Konzertsaal inklusive standesgemäßem Orchestergraben und großzügiger Bühne erwartet den Besucher im Inneren des nüchternen Komplexes.

Die Gala scheint restlos ausverkauft – nicht zu Unrecht, wie sich schnell herausstellt. Die Brandenburger Symphoniker sind kein schlechtes Orchester und werden von Herrn Reimer munter befeuert. Die Kombination beweist Schmiss und Elan, aber ebenso Fingerspitzengefühl. Orchestraler Höhepunkt der Veranstaltung ist die Scheherazade-Szene, in der getanzte Exotik und Erotik in den Wirkungen des Klangkörpers eine bedingungslos leidenschaftliche Entsprechung finden. Auf der anderen Seite braucht man wiederum auch kein Geheimnis daraus machen, daß es das Solocello im „Sterbenden Schwan“ mit dem Siechtum doch etwas zu wörtlich genommen hat – möchte man der gewagten Intonation noch eine interpretatorische Aussage abgewinnen. Im Allgemeinen besteht jedoch kein Anlaß zu Lästerei und Unmut – das Brandenburger Orchester bietet Potenzial für inspirierte Konzert- und Opernabende.

Oder eben in Kombination mit Ballett. Wobei mehrere Szenen nicht direkt aus dem Graben, sondern vom Band begleitet wurden. Das hatte wohl hauptsächlich organisatorische, bzw. rein pragmatische Gründe, da man beispielsweise keinen Chor nur für das Lacrimosa antreten lassen und sich der Konzertmeister wahrscheinlich auch nicht als todesmutiger Virtuose für das Paganini- Capriccio hervortun wollte. Ein Stück beinhaltete eine Collage aus Musik und Geräuscheffekten, ein anderes war mit einem Song von Tom Waits unterlegt. Eine bunte Mischung, wie man sich denken kann, eine Art „Best of“ aus verschiedensten Ballettwerken – Gala halt.

Und genau daraus ergab ich für mich der einzige Wermutstropfen des Abends. So wie ich mich nur schwer mit dem Arien-Gulasch der beliebten Operngalas anfreunden kann, erging es mir mit der sehr heterogenen Abfolge der Ballettszenen. Aus dem Kontext der Ursprungswerke gerissen und mit dadurch vorprogrammierten Stimmungswechseln von jetzt auf gleich, hatte das Ganze ein wenig die Tendenz, zur virtuosen Bonbonverkostung zu verkommen. Wohlgemerkt berührt diese Einschätzung keineswegs die Qualität der dargebotenen Szenen als solche – ich bin zwar im Ballett ein seltener Gast, war jedoch sehr von den Leistungen – mehr noch vom Ausdruck – der meisten Tänzer angetan. Dennoch sind meine Lehren daraus: Lieber ein komplettes Stück als Szenen-Zapping, lieber eine getanzte Geschichte als rein virtuose Sprunggelenk- Präsentation.

Und ein letzter Kritikpunkt: Den Abend mit einer ausgedehnten, tänzerreichen, jedoch ermüdend inhaltsarmen Szene krönen zu wollen, die darüber hinaus von der eintönigsten und uninspiriertesten Musik beplätschert wurde, die das 19. Jahrhundert zum Zwecke der Spaßvollbremsung bereithält, halte ich für gewagt, ja dramaturgisch fragwürdig, kurzum: verfehlt. Mehr ist mitunter schon mal mehr, aber ob jetzt zwei, vier, sechs oder ein Dutzend Paar trippelnder Füßchen den Dienst an der getanzten Belanglosigkeit verrichten, ist einfach unerheblich. Das Konzept „Tänzer als Deko-Elemente“ erschließt sich mir nicht.

Aber wie gesagt, auch diese Nullszene schmälert nicht die Leistung der Compagnie, verwehrte dem Abend aus meiner Sicht lediglich einen gehaltvollen Abschluß. Der verdiente Jubel war den Ausführenden dadurch ohnehin nicht zu nehmen. Werde ich eine weitere Ballettgala besuchen – unwahrscheinlich. Werde ich noch mal an der Havel Halt machen – warum nicht?


Brandenburger Symphoniker – Robert Reimer

Le Spectre de la rose
Musik von Carl Maria von Weber – Aufforderung zum Tanz (orchestriert von Hector Berlioz) Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Iana Salenko, Dinu Tamazlacaru

Lacrimosa
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart – Requiem KV 626, Lacrimosa
Choreographie von Gyula Pandi
Tänzer: Marian Walter

Les Sylphides
Musik von Frédéric Chopin – Walzer op. 64 Nr. 2 (orchestriert von Alexander Glasunow)
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Shoko Nakamura, Mikhail Kaniskin

Scheherazade
Musik von Nikolai Rimski-Korsakow – Scheherazade op. 35, Auszüge
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzer: Elisa Carrillo Cabrera, Ibrahim Önal

Der sterbende Schwan
Musik von Camille Saint-Saens
Choreographie in der Tradition von Michail Fokin
Tänzerin: Beatrice Knop

Das Sofa
Musik von Tom Waits – Nobody
Choreographie von Itzik Galili
Tänzer: Soraya Bruna, Michael Banzhaf, Leonard Jakovia

(Pause)

Elegie der Herzen
Musik von Arvo Pärt
Choreographie von Raimondo Rebeck
Tänzer: Iana Salenko, Marian Walter

Caravaggio
Musik von Bruno Moretti nach Claudio Monteverdi
Choreographie von Mauro Bigonzetti
Tänzer: Beatrice Knop, Leonard Jakovina

C/24
Musik von Nicolo Paganini
Choreographie von Mauro de Candia
Tänzer: Dinu Tamazlacaru

La Péri
Gartenszene Divertissement
Musik von Friedrich Burgmüller (eingerichtet und arrangiert von Roland Bittmann und Torsten Schlarbaum)
Choreographie von Vladimir Malakhov
Tänzer: Shoko Nakamura, Mikhail Kanisin, Stephanie Greenwald, Sarah Mestrovic, Krasina Pavlova, Anastasia Kurkova, Taras Bilenko, Alexej Orlenco, Kévin Pouzou sowie Damen des Corps de ballet

29. Februar 2012

Benefizkonzert – Anna Netrebko.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block B rechts, Reihe 3, Platz 22














Richard Strauss – Till Eulenspiegel
Richard Strauss – Lieder für Sopran und Orchester: Wiegenlied / Morgen! / Caecilie

(Pause)

Hector Berlioz – Marche hongroise aus La Damnation de Faust

Arrigo Boito – L’altra notte (Romanze der Margherita aus Mefistofele)
Giuseppe Verdi – Ouvertüre zu I vespri siciliani
Giuseppe Verdi – Mercè, dilette amiche (Siciliana der Elena aus I vespri siciliani)
Zugaben: Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – zwei Lieder mit Klavierbegleitung


(Anna Netrebko – Sopran, Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim)



Etwa eine halbe Stunde vor Einlaß am Eingang der Philharmonie. Das muntere Treiben der örtlichen Ticket-Drückerkolonne sorgt für kurzweilige Unterhaltung. Offenbar sind noch genug Karten auf dem Markt, die Preise sinken mit den Mundwinkeln der Verkäufer. Einer hat seinen komischen Moment, als er das wartende Volk fragt, wie denn dieser Lang Lang so sei, der heute hier auftrete – kurzzeitig irritierte Blicke der grau ondulieren Schar.

Eine informative, gut strukturierte Einführung später sitze ich auf meinem Platz im Saal. Was zu diesem Zeitpunkt nicht alle Netrebko-Aficionados so halten. Da möchte man gleich in bester Eulenspiegel-Beckenschlagweise einfach mal reinschlagen, wenn das Pack erst nach den straussschen Narreteien aus seinen Löchern kommt. Einzelfälle sicher, aber offenbar werden diese von „Events“ wie der Stimmschau der berühmten Russin magisch angezogen. Apropos, Russen waren viele zugegen, worüber neben diversen aufgeschnappten Gesprächsfetzen insbesondere die dezent-geschmackvolle Erscheinung mancher Dame Zeugnis ablegte.

Die Akustik der Philharmonie und ich werden wohl keine Freunde mehr werden. Selbst eine so farbenreiche Partitur wie der Eulenspiegel wird von ihr leicht angegraut. Man hört die einzelnen Stimmen wunderbar durch, aber was nützt es, wenn der Gesamteindruck ein kalter, nüchterner, aseptischer ist. In der Musik hege ich nun mal keinerlei Interesse für Neutralität. Der Gesangsstimme hingegen bot der Saal deutlich mehr Berührungsmoment.

Dabei waren es gerade die reinen Orchesterstücke, die für mich die Höhepunkte des Abends ausmachten. Barenboim und die Staatskapelle sorgten für ganz großes symphonisches Kino. Ohne wieder auf die einzelnen Orchesterstimmen einzugehen – ich schwärme einfach für diesen Klangkörper. Und Barenboim hat sowohl bei Strauss, Berlioz als auch bei Verdi eine Interpretation vorgelegt, die schlicht und ergreifend Weltklasse war. Einfach Stöpsel rein, Aufnahmegerät an und fertig ist die Top-Einspielung. Die Charakteristika: weniger breit als vermutet, regelrecht forsch, knackig, zupackend, fesselnd, rhythmisch pointiert – aber nicht eckig, organisch, kontrastreich, in einem Wort: perfekt.

Leider war Frau Netrebko heute nur bedingt in der Lage, ihrerseits Perfektion zu vermitteln. Hätte ich nur den ersten Teil des Konzerts besucht, stünde wohl ein sehr ernüchternder Ersteindruck der wohl berühmtesten Sängerin unserer Tage zu Buche. Strauss-Lieder und Netrebko, das geht für mich nicht zusammen. Abgesehen von der mangelnden Aussprache und einer verblüffend unpräzisen Intonation gibt mir ihr Vortrag nichts, das andere Sängerinnen nicht inniger, lebendiger, leidenschaftlicher formuliert hätten. Am ehesten zu überzeugen weiß sie in „Morgen“ – von einer aufs Ganze gehenden, im entscheidenden Moment brutalst heruntergeregelten Interpretation Barenboims beflügelt, entlockt es ihr die zartesten Töne des Abends. Aber selbst hier: so arrogant es klingen mag – nichts Ungehörtes/Unerhörtes.

In diese Kategorie stieß sie dann nach der Pause mit dem Boito vor. In dieser Opernszene blühte Frau Netrebko regelrecht auf, schien mir wie ausgewechselt. Intensiver Ausdruck, eine wunderschöne, volle Stimme, die sich ohne eine Spur an Wärme und Schmelz zu verlieren in höchste Höhen aufschwingt und tiefste Abgründe auslotet. Wie kann das sein? Offenbar ist die Netrebko in erster Linie eine dramatische Darstellerin, der die großen Bögen des Musiktheaters ungleich mehr liegen als die Miniaturen des Liedgesangs. Natürlich ist das eine nicht streng von dem anderen zu trennen, doch der Unterschied zwischen Strauss und Boito war einfach eklatant. Hat sie bei Strauss „nur“ gesungen, so ist sie bei Boito eben jene Margherita, nicht nur mit ihrer Stimme, mit ihrem ganzen Wesen, ihrer Körpersprache. Sehr, sehr beeindruckend. In der Verdi-Siciliana trat für meine Begriffe dieser Effekt weniger in Erscheinung, was aber für meinen Teil auch an der Musik selbst liegt, der ich den gleichen Grad an Tiefe absprechen möchte. Dennoch, auch hier eine beeindruckende Stimme, in der immer ein nicht zu leugnender Teil Erotik mitschwingt.

Die beiden Tschaikowsky-Zugaben, am Flügel begleitet durch Herrn Barenboim, haben zwar einiges an Liedreputation der Russin zurückgewonnen, mich unter dem Strich aber weder musikalisch noch stimmlich restlos überzeugt. Zumindest bin ich nun mit der Hebebühnentechnik der Philharmonie vertraut – welch ein Akt, um den Flügel aus den Eingeweiden des Baus ans Licht zu befördern.

Was gibt es sonst noch zu berichten? Die Netrebko besitzt ohne Zweifel das Charisma, einen Saal durch ihre bloße Präsenz zu begeistern. Ähnliches konnte ich seinerzeit beispielsweise auch bei Rolando Villazon beobachten. Wie sie hier Kußhände verteilt und dem Publikum Royal-like zuwinkt, das
ist schon fast filmreif. Generell scheint sie großen Wert darauf zu legen, es allen Recht machen zu wollen, weite Teile ihres Vortrags vollzieht sie in stetigem Wechsel der Singrichtung, damit jeder Winkel der Halle zumindest zeitweise direkter Beschallung habhaft wird. Im Zweifel fühlte ich mich durch dies Gebaren aber eher abgelenkt und als Erstkategorieler um den Lohn meiner Platzwahl gebracht. Der Beginn von „Morgen“ war mehr ein Ständchen für den solistisch tätigen Konzertmeister als ein ernst gemeinter Liedvortrag. Besonders nervig waren darüber hinaus nicht wenige Hobbyfotoreporter aus dem Publikum, die – allen Durchsagen zum Trotz – gern an allen möglichen und unmöglichen Stellen in die Ahnung von etwas wie Konzentration reinblitzten und -blinkten. Herrlich.

Fazit: Auf Barenboim und seine Staatskapelle ist Verlaß, Anna Netrebko ist eine außergewöhnliche, mit dem richtigen Material ohne Zweifel konkurrenzlos atemberaubende, genreübergreifend jedoch sicher nicht unfehlbare Sängerin.

5. November 2011

La damnation de Faust – Kwamé Ryan.
Staatsoper Stuttgart.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 137


Das Stuttgarter Staatstheater ist baulich eine Augenweide. Alles prangt in originalem (bzw. rekonstruiertem) Glanz. Wobei dieser Glanz von ganz anderer Sorte als gewöhnlich ist, die Farbgebung weicht doch sehr von allem mir Bekanntem ab. Im Saal dominieren nicht wie so häufig Rot und Gold, sondern eine Art Senfton an den Wänden und eine recht düstere Metalloptik, die mich an Blei erinnert. Diese Kombination hat was, ungewöhnlich, aber sehr interessant, weniger festlich als vielmehr ernst und erhaben. Mir gefällt’s.

Aber viel wichtiger: Die Akustik gefällt gleichermaßen. Die Sänger sind jederzeit von jeder Position aus sehr gut zu vernehmen, das Orchester ist vielleicht etwas zurückgenommen, der Klang ist aber sehr homogen, ausgesprochen warm und weich.

Das Orchester klingt sehr gut und wird von Kwamé Ryan mehr als ordentlich durch den Abend geführt. Es gibt durchaus Passagen von eindringlichster musikalischer Wirkung, die Gesamtleistung würde ich mit sehr gut benoten. Die drei Hauptrollen sind (stimmlich) stark besetzt, auch das Spiel überzeugt weitestgehend. Wobei das Pendel durchaus in beide Richtungen ausschlägt (Zum Teil overacting von Faust, durchweg starke Auftritte von Mephisto).

Die Inszenierung fußt auf der Anprangerung der aktuellen Lage in Ungarn, was anfangs irritiert bis abschreckt, im Gesamtbild jedoch durchaus seine Kraft entfaltet. Das „Böse“ im Menschlichen, im Alltäglichen, die Sehnsucht nach Abkehr von den inneren und äußeren Dämonen, all das wird als Teil des Faust-Stoffes sinnhaft behandelt. Phantasievolle Bühnenbilder, z.T. kombiniert mit Filmprojektionen, geben dem Ganzen einen wirkungsvollen Rahmen. Hervorheben möchte ich hier die wehmütige Idylle der Traumszene Fausts, in der ihm schließlich Gretchen erscheint – ein wunderbares Zusammenwirken der musikalischen sowie visuellen Stimmung.

Daß Dirigent, Regisseurin, Intendant und Sänger nach der Vorstellung für ein Publikumsgespräch zur Verfügung standen, um das – sicher von vielen als schwer verdaulich empfundene – Erlebte zu erörtern, ist ein weiterer Punkt, der für das Engagement und die Qualität des Hauses spricht. Ein perfekter Abend.


Hector Berlioz – La damnation de Faust
Musikalische Leitung – Kwamé Ryan
Regie – Andrea Moses
Bühne und Kostüme – Christian Wiehle
Licht – Reinhard Traub
Chor – Michael Alber
Dramaturgie – Thomas Wieck

Marguerite – Maria Riccarda Wesseling
Faust – Pavel Cernoch
Méphistophélès – Robert Hayward
Brander – Mark Munkittrick

Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart

20. März 2011

Les Troyens – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin.

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 10


Ein fulminanter Abend: Nach dem ersten Höreindruck birgt die Oper enormes Potential. Der typische Berlioz- Sound ist da, das Monströse, das Raffinierte, das Lyrische. Die Struktur mit ihren teils endlosen Abschnitten fesselt und fordert. Verdient in jedem Falle wiederholte Beschäftigung. Verblüffende Wirkungen der Instrumentation (z.B. Geisterszene), Fernorchester, Riesenchöre und immer wieder: Kontraste, Kontraste, Kontraste. Dazu bestens aufgelegte Musiker unter einem packenden Dirigat von Runnicles. Weltklasse. Die Sängerleistung war von vorne bis hinten stark, allen voran beide Damen und Aeneas/Storey. Die Inszenierung gibt richtig Futter für die Augen, geizt nicht mit Technik und Staffage – mich hat der Bühnenzauber jedenfalls nicht abgeschreckt, sondern begeistert.


Hector Berlioz - Les Troyens
Musikalische Leitung - Donald Runnicles
Inszenierung - David Pountney
Spielleitung - Gerlinde Pelkowski
Bühne - Johan Engels
Kostüme - Marie-Jeanne Lecca
Lichtdesign - Davy Cunningham
Choreographie - Renato Zanella
Dramaturgie - Katharina John
Chöre - William Spaulding

Aeneas - Ian Storey
Choroebus - Markus Brück
Pantheus - Krysztof Szumanski
Narbal - Reinhard Hagen
Iopas/Hylas - Gregory Warren
Ascanius - Jana Kurucova
Kassandra - Anna Caterina Antonacci
Dido - Daniela Barcellona
Anna - Liane Keegan
Priamus - Lenus Carlson
Hektor - Reinhard Hagen
Helenus - Yosep Kang
Ein griechischer Heerführer - Sergio Vitale
Ein Soldat - Jörn Schümann
Erster trojanischer Soldat - Markus Brück
Zweiter trojanischer Soldat - Lenus Carlson
Merkur - Reinhard Hagen
Hekuba - Fionnuala McCarthy
Andromache - Etoile Chaville
Astyanax - Marius Lesch

Orchester der Deutschen Oper Berlin
Chor der Deutschen Oper Berlin
Extrachor der Deutschen Oper Berlin
Opernballett der Deutsche Oper Berlin
Statisterie der Deutschen Oper Berlin

18. Januar 2011

Wiener Philharmoniker – Mariss Jansons.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 16


Gustav Mahler – Lieder eines fahrenden Gesellen 
(Thomas Hampson – Bariton)
Zugabe: Gustav Mahler – Ging heut morgen übers Feld

(Pause)

Hector Berlioz – Symphonie Fantastique  
Zugabe: Jean Sibelius – Valse triste


Lieder eines fahrenden Gesellen: Hampson wie gewohnt. Hab schon genug Worte darüber verloren. Jansons Interpretation gefällt mir. Er nimmt das Orchester (leider...) gegenüber Hampson zurück. Von Anfang an begeistert der Streicherklang: einfach eine Spur weicher. Dies zieht sich durch den Abend. Im Mahler generell starke Tempokontraste, zum Teil sehr gedehnt, aber in Ordnung. Berlioz: eine durchgehend starke, sehr sensible Interpretation. Knack, wo er gebraucht wird, Schmelz, wo er gebraucht wird. Auffallend: Sehr transparente Gestaltung. Viele Details der Instrumentation habe ich heute zum ersten Mal mitbekommen (Holz; differenzierter „Donner“ u.a.). Wenn Jansons Gas gibt, ist es ein Riesenspaß. Top-Dies-Irae der Tuben. Finale furios. Man war zu Recht begeistert. Die Zugabe –Valse triste – schön gemacht, hier kann Järvi mit seinen Bremern aber mindestens mithalten.