20:00 Uhr, Etage 16, Bereich W, Reihe 1, Platz 34
Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 »Pastorale«
(Pause)
Hector Berlioz – Harold in Italien / Sinfonie in vier Sätzen mit Soloviola op. 16
Orchestre de Paris
Antoine Tamestit – Viola
Dirigent – Daniel Harding
Neue Perspektiven auf Vertrautes: Dass dieser Saal nach beinahe 100 Konzerten immer noch neue Facetten für mich bereithält – heute den verblüffend intensiven Appell an meine latente Höhenangst – ist und bleibt wahrlich faszinierend, zumal die luftige Vogelperspektive von 16W auch akustische Neuheiten zu Tage förderte. Man sitzt tatsächlich so weit über dem Orchester, in meinem Fall exakt mittig Vis-à-vis zum Dirigenten, dass sich (wie schon so oft auf andere Weise) ein Klangeindruck ergibt, der mir in dieser Form aus keinem anderen Konzerthaus bekannt ist: Das Orchester unter dem Mikroskop, ein gleichsam transparenter wie homogener Klang, der sich da unter einem emporschwingt, vielleicht etwas leiser als auf näher gelegenen Plätzen, dafür ungemein fein, ja duftig, und ungeachtet der beachtlichen Distanz bzw. des aberwitzigen Höhenunterschiedes doch viel präsenter als erwartet.
Und richtig spannend wird es, wenn das räumliche Element innerhalb des Orchesters ins Spiel kommt. Wie beispielsweise die ersten und zweiten Violinen miteinander interagieren, ja duettieren, hat von oben besehen und belauscht eine ganz eigene Wirkung. Hinzu kommt, dass die Streicher aufgrund der von hier nurmehr indirekt wahrgenommenen Bläser im Tutti nicht ins Hintertreffen geraten, wie ich es schon auf anderen „billigen Plätzen“ auf der gegenüber liegenden Saalseite erlebt habe – das Klangbild bleibt ausgewogen, dementsprechend ergibt sich ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Plätze, die ich all jenen wirklich ans Herz legen kann, die sich von der ersten Kategorie, nicht aber luftigen Höhen abschrecken lassen.
Zum Konzert selbst gibt es gar nicht viel zu sagen, außer dass es sich nahtlos in die Reihe musikalischer Sternstunden einreiht, die ich hier bereits erleben durfte. Das Orchestre de Paris ist das in der kurzen Anmoderation der Programmumstellung angekündigte Spitzenorchester, wovon ich mich bereits vor Jahren in der Laeiszhalle bei einer wirklich unvergessenen 5. Beethoven unter Christoph Eschenbach und einem Heimspiel in der französischen Kapitale (Link) überzeugen konnte. Der spontane Tausch der Werke ist schlüssig, um auf den reduziert/klassisch besetzten Beethoven seinen opulenten Sinfoniker-Erben Berlioz folgen und möglichst viele Kollegen am (tosenden) Schlussapplaus teilhaben zu lassen. Hardings Pastorale ist durch und durch zart und elegant mit Liebe für klangliche Feinheiten (Gedämpfte Streicher in Kombination mit den Hörnern zu Beginn des zweiten Satzes!), alles wirkt rund und fließend. Nicht unbedingt der flott-knackige Ansatz, den ich gewöhnlich bei Beethoven bevorzuge, aber gerade bei dieser Sinfonie und ihrem Charakter zu hundert Prozent zwingend. Zumal Harding sehr wohl das beethovensche Stürmen und Drängen zu entfesseln weiß, namentlich im Gewitter.
Die Harold-Sinfonie – eine meiner liebsten Schöpfungen des verehrten Franzosen – habe ich selten bis nie so fesselnd präsentiert erlebt. Von dem sich zögerlich entwickelnden, dann wahrlich dramatischen Kopfsatz über die verletzliche Lyrik des zweiten und das südliche Flair des dritten bis zur Ekstase des Finales nehmen uns Harding und sein Orchester mit auf eine schillernde Reise durch ein Kaleidoskop der Emotionen und die Möglichkeiten der Instrumentation. Kongenial bekrönt durch den Beitrag Antoine Tamestits, welcher nicht allein durch sein beseeltes Spiel, sondern gleichermaßen eine Art „Personenregie“ den Violapart zum nicht rein akustisch, sondern szenisch teilnehmenden Charakter umformt. So betritt der Solist erst nach der Orchestereinleitung die Bühne, vielmehr nähert er sich zögerlich dem Geschehen, bis er in der Harfe eine erste Kommunikationspartnerin findet.
In der Folge der Sätze variiert Tamesit mehrfach die Position, umkreist die Bühne, um sich immer wieder an Schlüsselstellen der Partitur mit den dort entsprechend zum Einsatz kommenden Orchestergruppen einzubringen, seiner vor allem in Form des Harold-Themas repräsentierten „Rolle“ durch das Stück auch visuell Rechnung tragend – ohne dass dieser „Kniff“ affig oder gar störend wirken würde. Im Gegenteil. Als der Solist dann schließlich mit einigen Kollegen aus dem Orchester die Bühne komplett verlässt, um gemeinsam aus dem Auditorium heraus das Streichquartett zu bilden, welches gewissermaßen als Gegenpol zur Tutti-Raserei des Finales (ein besonderes Kompliment an Harding für dessen gepfefferte Lesart!) aufblitzt, finden das ungewöhnliche Konzept und ein Konzert der Extraklasse seinen effektvollen wie würdigen Abschluss.