24. Mai 2019

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Gasteig München

20:00 Uhr, Block G, Reihe 4, Platz 13



Benjamin Britten – War Requiem op. 66

Orchestre de Paris
Chœur de l’Orchestre de Paris
Emma Bell – Sopran
Andrew Staples – Tenor
Christian Gerhaher – Bariton
Dirigent – Daniel Harding



Gemischte Gefühle nach einem Abend, der etwas ganz besonderes hätte werden können – aber nicht hier, nicht in diesem Saal. Ernüchterung angesichts der Erkenntnis, dass der Gasteig selbst auf einem theoretisch idealen Platz für ein Werk dieser Dimensionen mit großer Chorbesetzung eine einzige akustische Enttäuschung bot. Wehmut angesichts der (ganz bewusst) ausgelassenen Gelegenheit, dieses Herzensstück am Dienstag in der heimischen Elbphilharmonie zu erleben – wohl wissend um den dort immer noch vorherrschenden Faktor eines unberechenbaren (Touri-)Publikums, dass gerade bei „modernen“ Stücken die Atmosphäre in schöner Regelmäßigkeit vergällt. Da ist die Münchner Stammhörerschaft offenbar schon etwas geschulter – wenn auch, je nachdem wie man es sieht, gleichgültiger bzw. hypefrei, was an den vielen, vielen leeren Plätzen des in Hamburg lange ausverkauften Konzerts abzulesen war. Das Abopublikum der Reihe „Große Orchester“ (in das sich übrigens auch die NDR Elbphilharmonie als eines von „8 Weltklasseorchestern“ verirrt hat) scheint dem Werk des Briten nicht recht zu trauen, sah sie Auslastung online doch um einiges weniger schütter aus. So ist es letzten Endes müßig darüber zu spekulieren, welches Gastspiel meiner Britten-Liebe zuträglicher gewesen wäre. Fest steht nur, dass die Angelegenheit heute meinen Hoffnungen nicht gerecht wurde.

Was sicher nicht an den beteiligten Künstlern lag. Von der Güte des Orchestre de Paris und dem inspirierten Dirigat seines Chefs konnte ich mich erst Anfang der Woche in Hamburg (Link) überzeugen, Herr Gerhaher ist als einer der versiertesten Baritone unserer Zeit über jeden Zweifel erhaben, Herr Staples mit seiner feinen, Kantaten-Tenorstimme und die für Frau Shagimuratova eingesprungene Sopranistin Emma Bell mit einem beeindruckend kräftigen, mitunter vielleicht die letzte Lyrik (Lacrimosa) entbehrenden Organ, sowie die angereisten Chöre komplettierten eine Besetzung, wie man sie sich für ein Werk dieser Komplexität und seines Gehalts wünschen kann. Abgesehen von einem mir persönlich hier und da etwas zu langsamen Grundtempo Hardings kann ich kein negatives Wort über die Beteiligten und ihre Ausführung fallen lassen. Umso tragischer, dass der einzige große Spielverderber und Verursacher einer weitgehend kaltlassenden Wirkung im Gasteig selbst und seiner miserablen Akustik zu finden ist.

Der Höreindruck insgesamt ist grundsätzlich seltsam gedämpft und schwammig, eine differenzierte Wahrnehmung der Partitur ist angesichts dieses Klangbreis – ob im Piano oder Fortissimo – schlicht unmöglich. Jegliche Form von Intimität – im War Requiem viel mehr noch als die gewaltigen Eruptionen das alles bestimmende Moment – ist in diesem Saal-Monstrum ein Ding der Unmöglichkeit. Die kammermusikalischen, verletzlichen Passagen verpuffen an der Grenze des Hörbaren ohne jede Präsenz, das Gleiche gilt für die teilweise als Ausdruck höchster Verletzlichkeit komponierten Gedichte Owens, bei denen man hier kam ein Wort von dem versteht, was Staples und Gerhaher sicher durchaus nuanciert von sich geben. Welche Präsenz eine einzige, zarte Stimme in einem großen Konzertsaal haben kann, beweist die in letzter Zeit oft so dümmlich angegriffene Akustik der Elbphilharmonie immer wieder auf das Bewegendste.

Aber auch die Wirkung von Lautem ist im Gasteig eine Katastrophe. Es lärmt und fasert, ohne dass sich wirklicher Druck entwickeln würde. Die einzelnen Schichten der Musik verkleistern zu einer hässlichen Masse, hinter der die eigentlichen Fähigkeiten der Orchestermusiker und Stimmen zur Unkenntlichkeit verschwinden. Der riesige Chor scheint Mühe zu haben, sich Gehör zu verschaffen, die erschütternden harmonischen Rückungen (z.B. Libera Me) gehen im gigantischen Akustik-Weichzeichner unter, verpuffen. Den Knabenchor zu separieren und gewissermaßen als Engel von Fern erklingen zu lassen, ist theoretisch eine gute Idee, hat hier jedoch zum Effekt, dass die Stimmen von einem alten, sehr sehr weit entfernt postierten Grammophon in den Saal mumpfen. Es ließen sich noch viele Einzelaspekte dieser akustischen Zumutung anprangern, es fragt sich nur wozu, scheint der Gasteig doch zumindest bis zu seiner geplanten Sanierung/Überarbeitung ein Ort zu sein, den es als Freund des empathischen Musikerlebnisses zu meiden gilt. Wer allen Ernstes noch nicht verstanden hat, warum sich München neben dieser Ohrenversündigung einen weiteren Konzertsaal leisten will und wird – Konzerte wie dieses sprechen Bände.

21. Mai 2019

Orchestre de Paris – Daniel Harding.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 16, Bereich W, Reihe 1, Platz 34



Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 »Pastorale«

(Pause)

Hector Berlioz – Harold in Italien / Sinfonie in vier Sätzen mit Soloviola op. 16

Orchestre de Paris
Antoine Tamestit – Viola
Dirigent – Daniel Harding



Neue Perspektiven auf Vertrautes: Dass dieser Saal nach beinahe 100 Konzerten immer noch neue Facetten für mich bereithält – heute den verblüffend intensiven Appell an meine latente Höhenangst – ist und bleibt wahrlich faszinierend, zumal die luftige Vogelperspektive von 16W auch akustische Neuheiten zu Tage förderte. Man sitzt tatsächlich so weit über dem Orchester, in meinem Fall exakt mittig Vis-à-vis zum Dirigenten, dass sich (wie schon so oft auf andere Weise) ein Klangeindruck ergibt, der mir in dieser Form aus keinem anderen Konzerthaus bekannt ist: Das Orchester unter dem Mikroskop, ein gleichsam transparenter wie homogener Klang, der sich da unter einem emporschwingt, vielleicht etwas leiser als auf näher gelegenen Plätzen, dafür ungemein fein, ja duftig, und ungeachtet der beachtlichen Distanz bzw. des aberwitzigen Höhenunterschiedes doch viel präsenter als erwartet.

Und richtig spannend wird es, wenn das räumliche Element innerhalb des Orchesters ins Spiel kommt. Wie beispielsweise die ersten und zweiten Violinen miteinander interagieren, ja duettieren, hat von oben besehen und belauscht eine ganz eigene Wirkung. Hinzu kommt, dass die Streicher aufgrund der von hier nurmehr indirekt wahrgenommenen Bläser im Tutti nicht ins Hintertreffen geraten, wie ich es schon auf anderen „billigen Plätzen“ auf der gegenüber liegenden Saalseite erlebt habe – das Klangbild bleibt ausgewogen, dementsprechend ergibt sich ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Plätze, die ich all jenen wirklich ans Herz legen kann, die sich von der ersten Kategorie, nicht aber luftigen Höhen abschrecken lassen.

Zum Konzert selbst gibt es gar nicht viel zu sagen, außer dass es sich nahtlos in die Reihe musikalischer Sternstunden einreiht, die ich hier bereits erleben durfte. Das Orchestre de Paris ist das in der kurzen Anmoderation der Programmumstellung angekündigte Spitzenorchester, wovon ich mich bereits vor Jahren in der Laeiszhalle bei einer wirklich unvergessenen 5. Beethoven unter Christoph Eschenbach und einem Heimspiel in der französischen Kapitale (Link) überzeugen konnte. Der spontane Tausch der Werke ist schlüssig, um auf den reduziert/klassisch besetzten Beethoven seinen opulenten Sinfoniker-Erben Berlioz folgen und möglichst viele Kollegen am (tosenden) Schlussapplaus teilhaben zu lassen. Hardings Pastorale ist durch und durch zart und elegant mit Liebe für klangliche Feinheiten (Gedämpfte Streicher in Kombination mit den Hörnern zu Beginn des zweiten Satzes!), alles wirkt rund und fließend. Nicht unbedingt der flott-knackige Ansatz, den ich gewöhnlich bei Beethoven bevorzuge, aber gerade bei dieser Sinfonie und ihrem Charakter zu hundert Prozent zwingend. Zumal Harding sehr wohl das beethovensche Stürmen und Drängen zu entfesseln weiß, namentlich im Gewitter.

Die Harold-Sinfonie – eine meiner liebsten Schöpfungen des verehrten Franzosen – habe ich selten bis nie so fesselnd präsentiert erlebt. Von dem sich zögerlich entwickelnden, dann wahrlich dramatischen Kopfsatz über die verletzliche Lyrik des zweiten und das südliche Flair des dritten bis zur Ekstase des Finales nehmen uns Harding und sein Orchester mit auf eine schillernde Reise durch ein Kaleidoskop der Emotionen und die Möglichkeiten der Instrumentation. Kongenial bekrönt durch den Beitrag Antoine Tamestits, welcher nicht allein durch sein beseeltes Spiel, sondern gleichermaßen eine Art „Personenregie“ den Violapart zum nicht rein akustisch, sondern szenisch teilnehmenden Charakter umformt. So betritt der Solist erst nach der Orchestereinleitung die Bühne, vielmehr nähert er sich zögerlich dem Geschehen, bis er in der Harfe eine erste Kommunikationspartnerin findet.

In der Folge der Sätze variiert Tamesit mehrfach die Position, umkreist die Bühne, um sich immer wieder an Schlüsselstellen der Partitur mit den dort entsprechend zum Einsatz kommenden Orchestergruppen einzubringen, seiner vor allem in Form des Harold-Themas repräsentierten „Rolle“ durch das Stück auch visuell Rechnung tragend – ohne dass dieser „Kniff“ affig oder gar störend wirken würde. Im Gegenteil. Als der Solist dann schließlich mit einigen Kollegen aus dem Orchester die Bühne komplett verlässt, um gemeinsam aus dem Auditorium heraus das Streichquartett zu bilden, welches gewissermaßen als Gegenpol zur Tutti-Raserei des Finales (ein besonderes Kompliment an Harding für dessen gepfefferte Lesart!) aufblitzt, finden das ungewöhnliche Konzept und ein Konzert der Extraklasse seinen effektvollen wie würdigen Abschluss.

19. Mai 2019

Zyklus D „Große Stimmen“ – Elīna Garanča.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 1



Giuseppe Verdi – Ouvertüre zu „Luisa Miller“
Giuseppe Verdi – Nel giardin del bello /
Arie der Prinzessin Eboli aus „Don Carlos“
Giacomo Puccini – Intermezzo aus „Manon Lescaut“
Francesco Cilea – Ecco, respiro appena/
Arie der Adriana Lecouvreur aus „Adriana Lecauvreur“
Giuseppe Verdi – Ouvertüre zu „La forza del destino“
Giuseppe Verdi – O don fatale, o don crudel /
Arie der Prinzessin Eboli aus „Don Carlos“

(Pause)

Federico Chueca – Prelude zu „El bateo“
Edvard Grieg – T'estimo (Arrangement: John Langley)
Stanislao Gastaldon – Musica proibita
(Arrangement: Karel Mark Chichon)
Franz von Suppè – Ouvertüre zu „Leichte Kavallerie“
Rosendo Mato Hermida – Lela (Arrangement: Juan Durán)

Zugaben:
Pablo Sorozábal – No puede ser
Agustín Lara – Granada

Elīna Garanča – Mezzosopran
NDR Radiophilharmonie
Dirigent – Karel Mark Chichon



Die vielleicht schönste Mezzo-Stimme der Welt. Makellos: innig-nuanciert, kraftvoll-strahlend, erotisch-betörend. Konsequentes Rundumbesingen garantiert, den Saal schon mit der ersten Arie gewonnen zu haben. Und es stört nicht im Geringsten – ich als Frontalsitzer bekomme immer noch das meiste direkt ab. Chichon genau der richtige Mann für das romanische Fach – knackig, zackig, packend, aber nie plump oder lärmig. Tolle Tempoverschärfungen liefern Energieschübe. Orchester nicht zu verachten. Besonderheit für Instrumentenspezis: erste Halbzeit Cimbasso statt Tuba. Musikalisches Kuriosum: Das Puccini-Intermezzo – Tristan auf Italienisch.

Nach der Pause Zarzuela-Seligkeit – Schmachten und Schmelzen. Hätte mich von Frau Garanča gern noch mit weiteren Perlen aus dem „ernsten“ Fach verzaubern lassen, aber das Volk scheint den milden Nektar der Sonne nicht minder zu genießen. Eine der konzentriertesten Zuhörerschaften überhaupt an dieser Wirkungsstätte – man ist wahrlich gebannt, auch die instrumentalen Brückenstücke werden gewürdigt und gefeiert. Als finale Zugabe: das unvermeidliche „Granada“ entlässt alle in warmer Umarmung. Eine durch und durch angenehme Atmosphäre, ein Triumph für alle Beteiligten.

1. Mai 2019

Klavierabend – Krystian Zimerman.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 6, Platz 1



Johannes Brahms – Vier Balladen op. 10
Johannes Brahms – Sonate Nr. 2 fis-Moll op. 2

(Pause)

Johannes Brahms – Sonate Nr. 3 f-Moll op. 5

Zugaben:
Frédéric Chopin – Mazurka g-Moll op. 24/1
Frédéric Chopin – Mazurka C-Dur op. 24/2
Frédéric Chopin – Mazurka b-Moll op. 24/4



Krystian Zimerman ist schon so ne Marke, zumindest eilt ihm der Ruf des Künstlerkauzes voraus, dessen Konzerte rar gesät und im Härtefall auch mal durch Abbruch gefährdet sind, wenn es nicht nach seinem sensiblen Gusto läuft. Da ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Herr Intendant höchstpersönlich vor dem Solisten die Bühne betritt und noch einmal inständig bittet, von Knipsereien oder gar Mitschnittversuchen tunlichst Abstand zu nehmen. Nachdem der Saal dann lichttechnisch mit der höchsten Muckeligkeitsstufe versehen ist, tritt eine imposante Figur mit schneeweißem Schopf und ebensolchem Barte schnellen Schrittes ans Piano und beginnt nach knapper Verbeugung das Spiel.

Und wie! Sollte Herr Zimerman tatsächlich der Exzentriker sein, für dessen Existenz ich selbst bislang nur sekundäre Quellen anzuführen vermag – heute präsentierte sich mir eher ein freundlich, ja verschmitzt dreinblickender Herr, der es kaum abwarten zu können scheint, die Menschen mit seiner Kunst zu erfreuen und statt ritualisiertem Verbeugungszeremoniell beim Applaus lieber flugs eine weitere Zugabe nachlegt – all seine realen oder angedichteten Eigenheiten seien ihm mehr als gegönnt, angesichts eines Vortrags, der die Einlösung, vielmehr Übertreffung aller pianistischen Hoffnungen bereithält. Was würde ich darum geben, diesen Brahms auf Tonträger gebannt zu wissen, was angesichts der Tatsache, dass Zimerman seine eigene Einspielung aus den 80ern für nicht mehr verkaufenswert erachtet, einen besonderen Reiz hätte.

So aber bleibt zumindest das flüchtige Ereignis der beigewohnten Wiedergabe im Konzertsaal. Und auch wenn das konkrete Erlebnis, die Fülle an beeindruckenden, elektrisierend aufgenommenen Einzelheiten verblassen mag, so bleiben doch das dankbare Gefühl sowie die wohlige Gewissheit, einmal mehr zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein. Zimermans Brahms ist von einer solchen Finesse, vereint zarteste Versonnenheit (2. und 4. Satz der dritten Sonate) mit unbändiger, vitaler Explosivität, den sinfonischen Gehalt der Sonaten auf das Intensivste, Innerlichste, Imposanteste auslotend. Glücklicherweise überträgt sich diese extreme Spannung auch weitgehend auf die Atmosphäre im Saal – von dem ein oder anderen dumm platzierten Huster einmal abgesehen, lauscht man verblüffend andächtig dem pianistischen Wunder. Geht doch.

Spätestens mit den Zugaben wird dann offensichtlich, wie sehr das Publikum ihren Zimerman liebt, ja wahrscheinlich schmerzlich vermisst hat (der letzte Hamburger Auftritt liegt fast zehn Jahre zurück). Aber wie auf so vieles im Leben trifft wohl auch hier die Westentaschenphilosophie zu: Die Verabreichung des Höchsten ist nur in kleinen Dosen ratsam. Schließlich heißt es nicht ohne Grund nicht: Alltag, verweile doch ... Ein Hoch auf Perfektionisten wie Herrn Zimerman, der uns weiterhin sehnen lässt.