30. Januar 2019

Philharmonia Orchestra – Paavo Järvi.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 9, Platz 2



Ludwig van Beethoven – Ouvertüre c-Moll zu »Coriolan« op. 62
Sergej Prokofjew – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 D-Dur op. 19 (Hillary Hahn)

Zugabe Solistin:
Johann Sebastian Bach – Sonate Nr. 2 a-Moll BWV 1003 für Violine solo / Andante

(Pause)

Sergej Rachmaninow – Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27

Zugabe Orchester:
Jean Sibelius – Valse triste op. 44/1 / Kuolema



Wenn es so etwas wie eine Allzweckwaffe auf dem Podium gibt, dann wohl in Gestalt Paavo Järvis. Der sympathische Este hat wirklich ein Händchen für eigentlich jedes Repertoire, sei es der strenge Beethoven, für den er mit seinen Bremern zu Recht so gefeiert wird (auch sein extrem knackiger Brahms (Link) passt dazu) oder der üppige Rachmaninow – erst Recht, wenn er eine Weltklassetruppe wie das Philharmonia Orchestra aus London dirigiert.

In der Coriolan-Ouvertüre überträgt sich die extreme Körperspannung Järvis nahtlos auf seine Mitmusiker. Grimmiger und bärbeißiger kann man Beethoven nicht stürmen und drängen lassen, immer wieder weich kontrastiert durch das lyrische Seitenthema, ohne dass der unbeirrbare Strom dadurch abrisse.

Die dritte Darbietung des Prokowjew-Konzerts in der Elbphilharmonie – lustigerweise hatte das Philharmonia Orchestra dieses auch bei seinem letzten Besuch (Link) im Gepäck – brachte wiederum neue Facetten des Stücks zum Vorschein. Schätzte ich bei Pekka Kuusisto/Esa-Pekka Salonen gerade das kantig-expressive Moment und war ich von der Interpretation durch Frank-Peter Zimmermann/Urbanski eher gelangweilt, so ergab sich heute im Wechselspiel Hahn/Järvi eine im Vergleich zum ersten Philharmonia-Konzert viel rundere, epischere, dabei nicht minder spannungsvolle Lesart. Hillary Hahn hat mir wirklich sehr gut gefallen, lupenreiner Ton, eher romantischer Ansatz, aber nicht kitschig. Dass sie als Zugabe wieder einmal den fast schon obligatorischen Bach brachte, konnte ich ihr angesichts eines Vortrags, der zu Tränen rührte, nicht verdenken.

Ähnliches gelang Herrn Järvi dann spätestens im großen Adagio der Rachmaninow-Sinfonie. Was soll man da noch groß sagen bzw. schreiben? Wenn man auf diesem Parkett-Platz im Epizentrum der sich in Sehnsucht aufstauenden, vor Herzschmerz zerfließenden Wogen nicht mitgenommen wird, gibt es wohl keine musikalische Rettung mehr. Ist das nicht Kitsch? Nennt es, wie ihr wollt, es macht in jedem Falle süchtig. Spannend für mich dabei mit einem wachen Ohr zu lauschen, warum ich diese Musik so mag, während sich das andere dem Rausch hingibt. Gemein gesagt ist dieses Adagio eine perfekte Symbiose aus Karfreitagszauber und Bruckner-Bögen – was soll ich dieser Kombination schon entgegen setzen? Das Philharmonia Orchestra für seine Technik und Klangfarbenvielfalt zu loben, ist fast ein wenig albern. Sie können es einfach. Also alles.

Und wie schon 2017 beschließen die Gäste mit dem Valse triste das Konzert. Ein kleines, duftiges, leicht wehmütiges Lebwohl nach den Eruptionen der großen Sinfonie und der perfekte Ausklang eines perfekten Abends.

22. Januar 2019

Münchner Philharmoniker – Valery Gergiev.
Elbphilharmonie Hamburg

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 2, Platz 3



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 4 G-Dur für großes Orchester und Sopran

(Pause)

Gustav Mahler – Das Lied von der Erde / Eine Sinfonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester

(Münchner Philharmoniker, Genia Kühmeier – Sopran, Tanja Ariane Baumgartner – Mezzosopran, Andreas Schager – Tenor, Dirigent – Valery Gergiev)



Valery Gergiev macht es richtig: Die Sänger einfach erhöht hinter dem Orchester postieren – fertig. Hat schon bei Jolanthe (Link) geklappt, hat heute wieder geklappt. Scheint im Übrigen auch keine Atomphysik zu sein, denn bereits kurz nach dem Eröffnungskonzert war ich verblüfft ob der Tatsache, wie präsent doch die Sänger in Beethovens Missa solemnis (Link) waren, und – oh Wunder – wo hatte Herr Tate sie damals hingestellt? Ganz genau.

Daher muss auch nicht länger herumgefaselt werden, ob groß besetzte Werke mit Chor und/oder Gesangssolisten im großen Saal funktionieren – sie tun es. Wer sich immer noch darüber beschwert, dass er hinter dem Orchester sitzend nicht den gleichen Klangeindruck genießt wie im Parkett oder im Bereich 13 bzw. 15 vor der Bühne, pinkelt wahrscheinlich auch gern mal gegen den Wind und wundert sich dann, dass er nass wird. Haben diese Leute eigentlich mal ein Konzert in der Laeiszhalle oder in welcher Scheune auch immer besucht, bei dem die ein oder andere bemitleidenswerte Dame bei Brünnhildes Schlussgesang in Konkurrenz zum unverdeckten Orchester nicht im Flammenmeer, sondern Klangmassen untergegangen wäre? Aber wahrscheinlich sind das die gleichen Opfer die glauben, man käme nicht an Karten. Genug davon.

Die Münchner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten haben mit ihrem Mahler-Doublefeature heute aber mal so richtig gezeigt, was in diesem Saal möglich ist. Schon die „kleine“ Vierte wurde zum Triumph, das Lied von der Erde schließlich war buchstäblich nicht von dieser Welt. Dabei ist Gergievs Dirigat gar nicht mal so, wie ich mir das theoretisch wünschen würde – aber hier merkt man wieder, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind. Bei ihm liegt der Schwerpunkt weniger auf den scharfen Kontrasten, gerade im Tempo, wie ich es oft bei Dirigenten mag, sondern er gewinnt die Spannung eher aus einer Art dauernervösen Reibung, die das Energielevel unentwegt hoch hält. So kommt der „Schellenbeginn“ der Vierten im reinen Tempo eher bedächtig denn rasch daher, trotzdem entfaltet sich im Laufe des Satzes ein Sog, der seinesgleichen sucht. Natürlich kann Gergiev dabei auch auf die klangliche Qualität seines Orchesters bauen. Alles in allem eine sehr runde, organisch fließende Angelegenheit, aber eben wie angedeutet keinesfalls entspannt – das stünde Mahler auch schlecht zu Gesicht.

So sehr ich die Vierte liebe – von den Narrenschellen über die Todesfidel, dem himmlischen Adagio mit seinen vorweggenommenen Anklängen ans Adagietto und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ bis zum wortgemäßen Finale im Himmel, heute wunderbar ätherisch getragen vom feinen Sopran Genia Kühmeiers – das Ereignis des Abends traf die Zuhörerschaft in Form eines Lied von der Erde, welches meinem elektrisierten Verstand und malträtiertem Herzchen kaum steigerungsfähig erscheint. Den Vergleich zum vielbejaulten Kaufmann-Konzert zu bemühen, kommt einer Majestätsbeleidigung Gergievs gleich, so immens differenzierter, zwingender und vor allem berührender, um nicht zu sagen bis ins Mark erschütternd ist dessen Interpretation im Gegensatz zur zähen Angelegenheit vor nicht einmal zwei Wochen.

Die Kombination Schager/Baumgartner darf in diesem Zusammenhang keinesfalls vernachlässigt werden. Ich bin der Stimme Kaufmanns verfallen, keine Frage, aber für die satzweisen Stimm-Kontraste in Bezug auf Ausdruck und Klangfarbe gibt es meiner Ansicht nach keine Alternative zur Besetzung zweier Sänger. Herr Schager mag vielleicht nicht über den Schmelz Kaufmanns verfügen, aber seine kraftvolle, ja überbordend virile Gestaltung der Tenor-Sätze transportierte das Unerbittliche, verbittert Trotzige dieser Gedichte ungleich packender. Der Kontrast zum warmen Timbre Baumgartners geriet umso bestechender, die alle Nuancen von Ruhe, Sehnsucht, Wehmut, Melancholie, Trauer bis hin zur entrückten Transzendenz des Abschieds auf das Berührendste durchlebte.

Ja, der Abschied. Sinfoniesatz? Lied? Gebet? Nahtoderfahrung? Wenn er so gegeben wird wie heute in jedem Fall eine der intimsten, unweltlichsten Äußerungen, die je in Töne gesetzt wurden. Eine Qualität von Bewußtseinsberührung, der man sich im Hinblick auf ein Funktionieren im Alltag nicht allzu oft aussetzen sollte, auch wenn das „Ewig“ noch so sehrend ruft.

21. Januar 2019

Münchner Philharmoniker – Valery Gergiev.
Elbphilharmonie Hamburg

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Igor Strawinsky – Chant funèbre op. 5 
Nikolai Rimski-Korsakow – Suite aus »Die Legende von der unsichtbaren 
Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija«

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43



Es bleibt dabei, die Eumelphilharmonie ist für Feinheiten dieser Art kein geeigneter Ort. Zu viel unmusikalisches, unkonzentriertes Pack. Perlen vor die Säue. Viele Huster, gern an den leisen Stellen, dazu permanente Unruhe direkt hinter mir. Der Herr hatte offenbar ein Problem mit seinem Bein – das ist bedauerlich, trotzdem im Ergebnis eine Zumutung für alle Umsitzenden. Dass es ihm darüber hinaus nicht unbedingt bei seinem Abstecher in die Hansestadt um musikalischen Genuss gegangen zu sein scheint, ließ sich leicht an seiner in breitestem bajuwarischen Dialekt vorgetragenen Eischätzung des Erlebten ablesen: „Zu laut!“ Und das noch vor dem tatsächlichen dynamischen „Gewaltakt“ nach der Pause.

Dabei stellte Gergiev wieder einmal ganz im Gegenteil eindrucksvoll unter Beweis, wie differenziert und nuanciert man in diesem Saal auch die größtbesetzten Werke gestalten kann. Das Strawinsky-Stück ist zudem eine unglaubliche Perle, die da in St. Petersburg beim Entstauben wiederentdeckt wurde. Üppigste Spätromantik, das volle Programm. Die stetige Erweiterung der Instrumentation des dadurch immer weiter anschwellenden Trauermarsches wurde von den Münchnern auf das Delikateste entwickelt – wahrlich unerhörte/ungehörte Klänge und Klangmischungen.

Diesbezüglich wurde beim Rimski-Korsakow sogar noch eine Schippe draufgelegt. Feinste Feinheiten, irisierender Duft und zauberisches Gespinst. Warm, druckvoll, enervierend. Gergiev mit kontrollierter Hochspannung. Unglaublich, wie plastisch die einzelnen Abschnitte vor dem akustischen Auge entstanden. Das Märchenhafte, verwunschene Bild der Stadt, der Furor des Angriffs, der Glanz der Apotheose.

Die vierte Sinfonie Schostakowitschs ist vielleicht mein heimlicher Favorit in seinem geliebten sinfonischen Oeuvre. Zwar muss ich hier weitgehend auf die oft so eindringlich vorhandene, herzzerreißende Adagio-Emphase verzichten, aber die Nähe zu Mahler lässt mich diesem Werk besonders nahe stehen. Die konsequente Weiterentwicklung des mahlerschen Kosmos – die vermeintliche Disparität unvereinbarer Module und Abschnitte sowie die daraus erwachsenden krassen Stimmungswechsel; eine Musik, die darüber hinaus immer aufs Ganze geht.

Gergievs Dirigat bzw. seine Wirkung auf mich ist dabei umso faszinierender, als dass sein Stil an sich gar nicht dem von mir in der Regel bei Mahler oder Schostakowitsch gerade live bevorzugtem Verdikt einer prinzipiell knackigen, wenn nicht gar ruppigen Lesart mit harten Kontrasten in Tempo, Dynamik und Ausdruck entspricht. Mag Gergievs Handschrift visuell wie im akustischen Ergebnis weniger zackig denn brodelnd sein, scheint darin gerade eine unwiderstehliche individuelle Qualität zu liegen. Mag er mit der zu seinem Markenzeichen gewordenen Taktstock-Karikatur eines scheinbar nervös oszillierenden Zahnstochers (der aber nur bei Strawinsky und Rimski-Korsakow zum Einsatz kam), flankiert durch eine nicht minder dauervibrierende Linke, eher auf die Abwesenheit von Klarheit zu bauen, entsteht dadurch jedoch alles andere als ein schwammiger Brei, sondern vielmehr ein permanent unter Hochspannung stehendes, rund und organisch mäanderndes, aber pausenlos von Entladungen jeder vorstellbaren Größenordnung durchzucktes Ganzes.

Wenn man dann noch als Dirigent Zugriff auf ein Orchester mit so homogenem, ausgefeiltem Wesen hat, kann man sich als Hörer auf wahre Interpretations- und Klangwunder einstellen. Die massiven Steigerungen und Eruptionen des ersten und dritten Satzes erwachsen wuchtig aus dem Fluss heraus, in Kontrast dazu schaffen vorzügliche Solisten (Horn – ausgezeichnet! Fagott – absolute Weltklasse!) zarteste Inseln. Das Scherzo beschwört frei nach Mahler die Groteske des Weltenhamsterrades herauf. Nach dem letzten, gewaltsamen Ausbruch des Finale, der das Gefüge vollends zum Zerreißen bringt, bleibt die Zeit für eine gefühlte Ewigkeit stehen, bis diese mit Krassheiten gespickte Partitur zu den Klängen der Celesta in einem Gefühl von Ungewissheit verdämmert.

Fazit: Ein grandioser, erschütternder Abend, der für das morgige Konzert die Erwartungshaltung in ungeahnte Höhen schraubt.

18. Januar 2019

Ensemble Resonanz – Andris Poga.
Elbphilharmonie Hamburg.

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 12


Arthur Honegger – Sinfonie Nr. 2 / für Streichorchester und Trompete ad libitum 

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 14 op. 135

(Ensemble Resonanz, Asmik Grigorian – Sopran, Matthias Goerne – Bariton, Dirigent – Andris Poga)



Heute konnte ich das Ensemble Resonanz das erste Mal im großen Saal erleben, nachdem ich mich im kleinen bereits dreimal von seiner hohen Qualität (Link) überzeugen durfte. Nach der üblichen, bereits liebgewonnenen Begrüßung und Mini-Einführung durch Herrn Rempe wurde schnell klar, dass die Kammermusiker die ausgewachsene Bühne ebenfalls bestens zu nutzen wissen.

Die Sinfonien Arthur Honeggers erfreuen sich bei den Streifgängen durch mein CD-Regal außerordentlicher Beliebtheit. Einem dieser kleinen Schätze endlich einmal live zu begegnen, ist nichts weniger als die Erfüllung eines lange gehegten Traumes – umso erfreulicher, dass es nun kein böses Erwachen gab. Zwar unterscheidet sich Herr Pogas Lesart der Zweiten durchaus nicht wenig von der mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangenen, sehr empfehlenswerten Einspielung Michel Plassons, gerade in Sachen Phrasierung, aber insgesamt ergibt sich unter der Leitung des Letten ein nicht minder schlüssiges Ganzes. Der erstklassige Streicherklang und seine optimale Entfaltung im Saal taten ihr Übriges, auch der mit sprichwörtlich glänzendem Optimismus die letzte Bedrückung durchbrechende Trompetenchoral des Finalsatzes wurde zur wahrhaft greifbaren Apotheose, nicht zuletzt weil man mit der Positionierung des Solisten auf der Orgelempore optisch wie akustisch alles richtig machte.

Hatte ich mich auf die Schostakowitsch-Sinfonie vor allem wegen Herrn Goerne und seiner Sangeskunst (Link) gefreut, die zu rühmen ich nicht müde werde, war ich nur unzureichend auf das vorbereitet, wie sich Frau Grigorian in meinen sängerischen Kosmos einführen sollte. Ja sicher, die Salzburger Salome, hatte ich irgendwie nebenbei schon mitbekommen, aber welche Ausnahmestimme da die Luft elektrisieren sollte, war mir nicht im Ansatz klar gewesen. Eine Sopranistin mit dieser Kombination aus wahlweise feinster Zartheit oder feuriger Kraft ohne die geringste Spur von Schärfe bei einer Bühnenpräsenz, die selbst im konzertanten Umfeld in den Bann schlägt – das ist gleichsam unwahrscheinlich wie betörend. Die düstere Sinfonie selbst mag nicht den Geschmack des breiten Publikums treffen, durch seine gleichermaßen kammermusikalische wie bedrückende Faktur höchste Ansprüche an die Konzentration stellen. Ich bin den beteiligten Künstlern daher umso dankbarer, dieses relativ selten anzutreffende Werk in Referenzqualität live erfahren haben zu dürfen.

12. Januar 2019

Zyklus D „Große Stimmen“ – Jonas Kaufmann.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 1


Luciano Berio – »Rendering« nach Franz Schuberts symphonischem Fragment in D-Dur D 936a 

(Pause)

Gustav Mahler – Das Lied von der Erde / Eine Sinfonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester

(Sinfonieorchester Basel, Dirigent – Jochen Rieder, Jonas Kaufmann – Tenor und Bariton)



Berios Rendering klingt ein bisschen so, als wäre ein Schreker oder Zemlinsky über seiner Arbeit eingeschlafen und träumte von Schuberts Sinfonie-Fragment. Mutet vielleicht verwirrend an, ist es aber gar nicht. Das Schubert-Material wird einfach immer wieder von Einschüben ganz eindeutig anderer Klangsprache unterbrochen – oder wahrscheinlich vielmehr zusammengehalten, gehe ich einmal davon aus, dass an jenen Stellen Schuberts Skizzen eben keine Verbindung oder schlicht Lücken enthalten. Das Ergebnis funktioniert verblüffend gut, der Fluss des unfertigen, in einer Art Traum zu Ende gefühlten, nicht kompositorisch komplettierten Ganzen reißt nie ab. Durch die harmonisch eher ins frühe zwanzigste Jahrhundert erweiterte und allein schon durch die Verwendung der Celesta als Leitinstrument kenntliche Berio-Musik ergibt sich vielmehr eine Art somnambule Reise in Schuberts Werkstatt und Gedankenwelt. Jochen Rieder führt das Sinfonieorchester Basel konzentriert und spannungsvoll durch diese musikalische Nachtwanderung, die dem unfertigen Werk betont eine Aura des Rätselhaften, Nachdenklichen verleiht. Wer kann schon sagen, welch finale Konzeption Schubert letztendlich angestrebt hätte – sofern er überhaupt die Vollendung des Werkes plante. Aber allein schon für die Hörbarmachung des Oboensolos im zweiten Satz, welches den Bogen weit zu Brahms oder Mahler schlägt, bin ich Berio und seinem „Experiment“ dankbar.

Man ist ja als Tourismus-geplagter Elbphilharmonie-Verfechter schon einiges gewohnt – so dachte ich zumindest bis zum heutigen Abend. Denn was auf dem Papier einen der Höhepunkte des diesjährigen Sänger-Abos verhieß, entpuppte sich als neuerlicher Tiefpunkt für das immer noch recht junge Haus und Peinlichkeit für Hamburgs „Kulturszene“. Man mag über Vieles streiten. Ob die Platzierung Kaufmanns vor dem Riesenorchester angesichts der baulichen Eigenart des Saales akustisch ideal war, in dem er dann zwangsläufig einem großen Teil des Publikums den Rücken zuwenden musste – wobei die Alternative, den Solisten irgendwo hinten in Schlagwerknachbarschaft zu verbannen, angesichts der mit diesem berühmten Namen verbundenen Erwartungshaltung auch seltsam angemutet hätte. Ob Herr Rieger tatsächlich gerade im ersten Satz eine Spur weniger Gas hätte geben können oder gar müssen. Ob die Preisgestaltung eben jener Plätze im Rücken des Sängers das schon rein physikalisch bedingte Gefälle des Hörgenusses im Saal ausreichend berücksichtigt. All darüber lässt sich sicher trefflich diskutieren.

Indiskutabel stellt sich hingehen das Verhalten nicht weniger Besucher dar, die ihrer Unkenntnis, oder meinetwegen auch Frustration über die eigene Situation in Bierzeltmanier Ausdruck verliehen und die Mitwirkenden lautstark angingen, dass man ja „Nichts“ oder „Kein Wort“ hören könne. Abgesehen davon, dass auch diese totalitäre Einschätzung wohl in erster Linie einmal den Konzertunkundigen entlarvt, und Herrn Kaufmann völlig aus seiner Konzentration warf (Respekt, dass er das Konzert nicht abgebrochen hat) bleibt solch ein Gebaren ebenso unentschuldbar, wie die danach – auch während der Musik – einsetzende Völkerwanderung im Streben um einen besseren Platz am kulturellen Futtertrog. Ich erkenne meine Schweine am Gang, und dieses bräsige Schlachtvieh wäre doch besser in den Fernsehgarten oder den Stadl getrottet. Allein wer im letzten Satz, dem unüberbietbar fragilen „Abschied“, allen Ernstes auf die Idee kommt, seine Haxen in Stöckelschuhen vorzeitig für jedermann bestens hörbar aus dem Saal zu befördern, gehört gekeult oder mit lebenslangem Hausverbot belegt.

Läßt sich im Zuge dieses emotionalen Totalschadens noch etwas über den eigentlichen Gehalt des Konzerts sagen? Vielleicht soviel, dass ich das Dirigat Riegers und die Leistung der Basler – ungeachtet der Frage der Tutti-Aussteuerung – durchaus als differenziert und ausgewogen empfunden habe, in jedem Falle nicht achtlos abgespult. Gerade der letzte Satz hätte so auch die Hinterbänkler versöhnen können bzw. müssen, aber es sollte heute nicht sein. Kaufmann selbst ist für mich unbestreitbar jedesmal ein Ereignis, obwohl – oder weil – er eben nicht der Schreihals ist, der mühelos durch jedes Orchesterfortissimo schneidet. Seine Stärken liegen in den Feinheiten und dem unwiderstehlichen Schmelz, dem warmen Timbre, das seine Stimme auszeichnet. Auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass ich persönlich die Ausgestaltung mit Tenor und Alt bevorzuge, da sich jenseits der Finessen, die auf einem Tonträger unzweifelhaft für die nötigen Ausdruckskontraste sorgen können (ich habe die Aufnahme mit den Wienern noch nicht gehört), live doch eine gewisse Monotonie einstellt, die den verschiedenen Stimmungsbildern des Liederzyklus zuwider läuft. So oder so aber natürlich eine bemerkenswerte Leistung, das Werk allein und in dieser gesanglichen Qualität zu stemmen.

Fazit: Kaufmann und die Elbphilharmonie – leider keine Liebe auf den ersten (oder mittlerweile schon dritten?) Blick.

8. Januar 2019

Bundesjugendorchester – Kirill Petrenko.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 3, Platz 1


Leonard Bernstein – Symphonic Dances aus »West Side Story« 
William Kraft – Konzert für Pauken und Orchester Nr. 1 (Wieland Welzel – Pauke)

Zugabe Solist:
Wieland Welzel – Etüde

(Pause)

Igor Strawinsky – Le sacre du printemps / Bilder aus dem heidnischen Russland

Zugabe Orchester:
Dmitri Schostakowitsch – Zwischenspiel aus der Oper »Lady Macbeth von Mzensk«



Mit Kirill Petrenko haben die Berliner Philharmoniker wirklich einen Glücksgriff getan. Schon beim Gastspiel mit dem Staatsorchester (Link) wurde klar, dass er die gleiche Sensibilität und Intensität, die seine Opernaufführungen kennzeichnen, ebenfalls im Konzertwesen anzubringen weiß. Dabei war es heute besonders spannend zu beobachten, dass dieser Energietransfer auch auf ein Orchester funktioniert, welches – ohne den jungen Damen und Herren des Bundesjugendorchesters zu nahe treten zu wollen – (noch) nicht über die souveräne Sicherheit und Qualität eines Spitzenklangkörpers verfügt. Zugegeben, manch Detail geriet verbesserungswürdig, nicht immer war man perfekt zusammen, manches Solo war eher von der Last der Verantwortung denn makelloser Klangfinesse geprägt (beispielsweise das prägnante Fagottsolo zu Beginn des Sacre), aber unter dem Strich war es ein mitreißendes Konzert, das von der Leidenschaft der Musiker und ihres Chefs getragen wurde.

Angefangen bei Bernsteins sinfonischen Tänzen, bei denen sich rhythmische Schärfe und Groove in geradezu ekstatischen Wellen abwechselten – inklusive hineinchoreographierter Schnips- und „Mambo!“-Verlautbarungen der Orchestermusiker – über das zwar bezogen auf das Soloinstrument ungewohnte, ansonsten jedoch eher klar fassliche Paukenkonzert, welches ein wenig wie Filmmusik zu einem nie umgesetzten Streifen anmutete, hin zur energetischen Klimax des Abends, dem Sacre. Rhythmus war demnach das heimliche Motto des Programms, das uns in allen denkbaren Facetten begleitete. Die Vielfalt zeigte sich unter anderem schon an der Zugabe des Solisten, dessen „Etüde“ ganz bewusst auf naheliegende Schlägelexzesse verzichtete, sondern vor allem mittels multiplen ab- und abschwellenden Wirbeln die Klangmöglichkeiten der Pedalpauken auslotete.

Akustisch interessant wurde es dann im Sacre, hatte ich das Werk doch in diesem Saal bereits mit dem NDR (Link) gehört, und zwar auf der gleichen Etage, allerdings auf der gegenüberliegenden Seite. Ob es nun tatsächlich an der anderen Position im Saal oder doch an einem anderen Umgang mit der Partitur gelegen hat, mag ich nicht beurteilen, fest steht nur, dass die seinerzeit bemerkten Probleme, namentlich mit einem Übergewicht der die Streicher zudeckenden Bläser, heute wenn überhaupt nur marginal ausfielen. Wenn ich wählen könnte, würde ich für solche Werke aber immer einen Platz auf Etage 13 (vor dem Orchester!) oder im hinteren Parkett bevorzugen.

Fazit: Ordentlich Wumms in der Elphi – vom ersten Stück bis zur Zugabe. Hat Spaß gemacht.