20:00 Uhr, Etage 15, Bereich J, Reihe 1, Platz 1
Luciano Berio – »Rendering« nach Franz Schuberts symphonischem Fragment in D-Dur D 936a
(Pause)
Gustav Mahler – Das Lied von der Erde / Eine Sinfonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester
(Sinfonieorchester Basel, Dirigent – Jochen Rieder, Jonas Kaufmann – Tenor und Bariton)
Berios Rendering klingt ein bisschen so, als wäre ein Schreker oder Zemlinsky über seiner Arbeit eingeschlafen und träumte von Schuberts Sinfonie-Fragment. Mutet vielleicht verwirrend an, ist es aber gar nicht. Das Schubert-Material wird einfach immer wieder von Einschüben ganz eindeutig anderer Klangsprache unterbrochen – oder wahrscheinlich vielmehr zusammengehalten, gehe ich einmal davon aus, dass an jenen Stellen Schuberts Skizzen eben keine Verbindung oder schlicht Lücken enthalten. Das Ergebnis funktioniert verblüffend gut, der Fluss des unfertigen, in einer Art Traum zu Ende gefühlten, nicht kompositorisch komplettierten Ganzen reißt nie ab. Durch die harmonisch eher ins frühe zwanzigste Jahrhundert erweiterte und allein schon durch die Verwendung der Celesta als Leitinstrument kenntliche Berio-Musik ergibt sich vielmehr eine Art somnambule Reise in Schuberts Werkstatt und Gedankenwelt. Jochen Rieder führt das Sinfonieorchester Basel konzentriert und spannungsvoll durch diese musikalische Nachtwanderung, die dem unfertigen Werk betont eine Aura des Rätselhaften, Nachdenklichen verleiht. Wer kann schon sagen, welch finale Konzeption Schubert letztendlich angestrebt hätte – sofern er überhaupt die Vollendung des Werkes plante. Aber allein schon für die Hörbarmachung des Oboensolos im zweiten Satz, welches den Bogen weit zu Brahms oder Mahler schlägt, bin ich Berio und seinem „Experiment“ dankbar.
Man ist ja als Tourismus-geplagter Elbphilharmonie-Verfechter schon einiges gewohnt – so dachte ich zumindest bis zum heutigen Abend. Denn was auf dem Papier einen der Höhepunkte des diesjährigen Sänger-Abos verhieß, entpuppte sich als neuerlicher Tiefpunkt für das immer noch recht junge Haus und Peinlichkeit für Hamburgs „Kulturszene“. Man mag über Vieles streiten. Ob die Platzierung Kaufmanns vor dem Riesenorchester angesichts der baulichen Eigenart des Saales akustisch ideal war, in dem er dann zwangsläufig einem großen Teil des Publikums den Rücken zuwenden musste – wobei die Alternative, den Solisten irgendwo hinten in Schlagwerknachbarschaft zu verbannen, angesichts der mit diesem berühmten Namen verbundenen Erwartungshaltung auch seltsam angemutet hätte. Ob Herr Rieger tatsächlich gerade im ersten Satz eine Spur weniger Gas hätte geben können oder gar müssen. Ob die Preisgestaltung eben jener Plätze im Rücken des Sängers das schon rein physikalisch bedingte Gefälle des Hörgenusses im Saal ausreichend berücksichtigt. All darüber lässt sich sicher trefflich diskutieren.
Indiskutabel stellt sich hingehen das Verhalten nicht weniger Besucher dar, die ihrer Unkenntnis, oder meinetwegen auch Frustration über die eigene Situation in Bierzeltmanier Ausdruck verliehen und die Mitwirkenden lautstark angingen, dass man ja „Nichts“ oder „Kein Wort“ hören könne. Abgesehen davon, dass auch diese totalitäre Einschätzung wohl in erster Linie einmal den Konzertunkundigen entlarvt, und Herrn Kaufmann völlig aus seiner Konzentration warf (Respekt, dass er das Konzert nicht abgebrochen hat) bleibt solch ein Gebaren ebenso unentschuldbar, wie die danach – auch während der Musik – einsetzende Völkerwanderung im Streben um einen besseren Platz am kulturellen Futtertrog. Ich erkenne meine Schweine am Gang, und dieses bräsige Schlachtvieh wäre doch besser in den Fernsehgarten oder den Stadl getrottet. Allein wer im letzten Satz, dem unüberbietbar fragilen „Abschied“, allen Ernstes auf die Idee kommt, seine Haxen in Stöckelschuhen vorzeitig für jedermann bestens hörbar aus dem Saal zu befördern, gehört gekeult oder mit lebenslangem Hausverbot belegt.
Läßt sich im Zuge dieses emotionalen Totalschadens noch etwas über den eigentlichen Gehalt des Konzerts sagen? Vielleicht soviel, dass ich das Dirigat Riegers und die Leistung der Basler – ungeachtet der Frage der Tutti-Aussteuerung – durchaus als differenziert und ausgewogen empfunden habe, in jedem Falle nicht achtlos abgespult. Gerade der letzte Satz hätte so auch die Hinterbänkler versöhnen können bzw. müssen, aber es sollte heute nicht sein. Kaufmann selbst ist für mich unbestreitbar jedesmal ein Ereignis, obwohl – oder weil – er eben nicht der Schreihals ist, der mühelos durch jedes Orchesterfortissimo schneidet. Seine Stärken liegen in den Feinheiten und dem unwiderstehlichen Schmelz, dem warmen Timbre, das seine Stimme auszeichnet. Auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass ich persönlich die Ausgestaltung mit Tenor und Alt bevorzuge, da sich jenseits der Finessen, die auf einem Tonträger unzweifelhaft für die nötigen Ausdruckskontraste sorgen können (ich habe die Aufnahme mit den Wienern noch nicht gehört), live doch eine gewisse Monotonie einstellt, die den verschiedenen Stimmungsbildern des Liederzyklus zuwider läuft. So oder so aber natürlich eine bemerkenswerte Leistung, das Werk allein und in dieser gesanglichen Qualität zu stemmen.
Fazit: Kaufmann und die Elbphilharmonie – leider keine Liebe auf den ersten (oder mittlerweile schon dritten?) Blick.