21. Januar 2019

Münchner Philharmoniker – Valery Gergiev.
Elbphilharmonie Hamburg

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Igor Strawinsky – Chant funèbre op. 5 
Nikolai Rimski-Korsakow – Suite aus »Die Legende von der unsichtbaren 
Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronija«

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 4 c-Moll op. 43



Es bleibt dabei, die Eumelphilharmonie ist für Feinheiten dieser Art kein geeigneter Ort. Zu viel unmusikalisches, unkonzentriertes Pack. Perlen vor die Säue. Viele Huster, gern an den leisen Stellen, dazu permanente Unruhe direkt hinter mir. Der Herr hatte offenbar ein Problem mit seinem Bein – das ist bedauerlich, trotzdem im Ergebnis eine Zumutung für alle Umsitzenden. Dass es ihm darüber hinaus nicht unbedingt bei seinem Abstecher in die Hansestadt um musikalischen Genuss gegangen zu sein scheint, ließ sich leicht an seiner in breitestem bajuwarischen Dialekt vorgetragenen Eischätzung des Erlebten ablesen: „Zu laut!“ Und das noch vor dem tatsächlichen dynamischen „Gewaltakt“ nach der Pause.

Dabei stellte Gergiev wieder einmal ganz im Gegenteil eindrucksvoll unter Beweis, wie differenziert und nuanciert man in diesem Saal auch die größtbesetzten Werke gestalten kann. Das Strawinsky-Stück ist zudem eine unglaubliche Perle, die da in St. Petersburg beim Entstauben wiederentdeckt wurde. Üppigste Spätromantik, das volle Programm. Die stetige Erweiterung der Instrumentation des dadurch immer weiter anschwellenden Trauermarsches wurde von den Münchnern auf das Delikateste entwickelt – wahrlich unerhörte/ungehörte Klänge und Klangmischungen.

Diesbezüglich wurde beim Rimski-Korsakow sogar noch eine Schippe draufgelegt. Feinste Feinheiten, irisierender Duft und zauberisches Gespinst. Warm, druckvoll, enervierend. Gergiev mit kontrollierter Hochspannung. Unglaublich, wie plastisch die einzelnen Abschnitte vor dem akustischen Auge entstanden. Das Märchenhafte, verwunschene Bild der Stadt, der Furor des Angriffs, der Glanz der Apotheose.

Die vierte Sinfonie Schostakowitschs ist vielleicht mein heimlicher Favorit in seinem geliebten sinfonischen Oeuvre. Zwar muss ich hier weitgehend auf die oft so eindringlich vorhandene, herzzerreißende Adagio-Emphase verzichten, aber die Nähe zu Mahler lässt mich diesem Werk besonders nahe stehen. Die konsequente Weiterentwicklung des mahlerschen Kosmos – die vermeintliche Disparität unvereinbarer Module und Abschnitte sowie die daraus erwachsenden krassen Stimmungswechsel; eine Musik, die darüber hinaus immer aufs Ganze geht.

Gergievs Dirigat bzw. seine Wirkung auf mich ist dabei umso faszinierender, als dass sein Stil an sich gar nicht dem von mir in der Regel bei Mahler oder Schostakowitsch gerade live bevorzugtem Verdikt einer prinzipiell knackigen, wenn nicht gar ruppigen Lesart mit harten Kontrasten in Tempo, Dynamik und Ausdruck entspricht. Mag Gergievs Handschrift visuell wie im akustischen Ergebnis weniger zackig denn brodelnd sein, scheint darin gerade eine unwiderstehliche individuelle Qualität zu liegen. Mag er mit der zu seinem Markenzeichen gewordenen Taktstock-Karikatur eines scheinbar nervös oszillierenden Zahnstochers (der aber nur bei Strawinsky und Rimski-Korsakow zum Einsatz kam), flankiert durch eine nicht minder dauervibrierende Linke, eher auf die Abwesenheit von Klarheit zu bauen, entsteht dadurch jedoch alles andere als ein schwammiger Brei, sondern vielmehr ein permanent unter Hochspannung stehendes, rund und organisch mäanderndes, aber pausenlos von Entladungen jeder vorstellbaren Größenordnung durchzucktes Ganzes.

Wenn man dann noch als Dirigent Zugriff auf ein Orchester mit so homogenem, ausgefeiltem Wesen hat, kann man sich als Hörer auf wahre Interpretations- und Klangwunder einstellen. Die massiven Steigerungen und Eruptionen des ersten und dritten Satzes erwachsen wuchtig aus dem Fluss heraus, in Kontrast dazu schaffen vorzügliche Solisten (Horn – ausgezeichnet! Fagott – absolute Weltklasse!) zarteste Inseln. Das Scherzo beschwört frei nach Mahler die Groteske des Weltenhamsterrades herauf. Nach dem letzten, gewaltsamen Ausbruch des Finale, der das Gefüge vollends zum Zerreißen bringt, bleibt die Zeit für eine gefühlte Ewigkeit stehen, bis diese mit Krassheiten gespickte Partitur zu den Klängen der Celesta in einem Gefühl von Ungewissheit verdämmert.

Fazit: Ein grandioser, erschütternder Abend, der für das morgige Konzert die Erwartungshaltung in ungeahnte Höhen schraubt.