28. Juni 2015

Gespräche der Karmeliterinnen – Werner Seitzer.
Stadttheater Hildesheim.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 110



In der (nebenbei bemerkt vorbildlich inhaltsvollen) Einführung wurde angesprochen, daß ein derart aufwändiges Werk eigentlich eine Nummer zu groß für ein kleines Haus wie dieses sei. Nach dem, was ich hier und heute erlebt habe, kann ich dem Theater für Niedersachen nur inständig dazu raten, sich unbedingt weiter und möglichst oft in dieser Form zu übernehmen. Poulencs Karmeliterinnen mögen nach den theoretischen Anforderungen an Ensemble und Umfang an größeren Häusern besser aufgehoben sein, besser umgesetzt kann ich sie mir an selbigen jedoch nicht denken. Und das in wirklich jeder Beziehung:

Das Orchester unter der ungeheuer differenzierten, ja märchenhaft subtilen Leitung Werner Seitzers verströmt einen Klang, der insbesondere die zarten, betörenden Passagen der Partitur geradezu vorbildhaft umsetzt, wozu die ohrenscheinlich fabelhafte Akustik des Saals ihren Teil beiträgt. Feines klingt hier fein und nie dünn oder trocken, das mitunter leicht Süßliche bei Poulenc nie abgeschmackt, sondern von erlesenstem Parfüm. Die nervöse Angst Blanches, ihr entrücktes Wesen, dem gegenübergestellt Constances Unbeschwertheit; die kontemplative Welt der Ordensfrauen, schroff kontrastiert durch die martialisch skandierende Musik der Revolution – die Karmeliterinnen warten, wenn auch wohl dosiert, mit extremen Stimmungen auf, die ich in Hildesheim in Vollendung miterleben durfte. Gestus, Klangfarben – hier stimmt einfach alles. Meinen tiefen Respekt an diese Orchesterbehandlung und die ausführenden Musiker.

Aber dabei bleibt es ja nicht. Was für eine Besetzung! Wie selten, ketzerisch gesagt, wie unwahrscheinlich ist doch der Fall, daß man mit einem Ensemble rundum zufrieden ist, noch dazu bei einem an Protagonistinnen nicht eben schmal ausgestatteten Werk wie diesem. Hier in der sogenannten „Provinz“ tritt das Unwahrscheinliche ein – und wie! Ich könnte nicht eine Nebenrolle nennen, die für sich und im Zusammenhang betrachtet einen schwachen oder zu vernachlässigenden Auftritt gehabt hätte, im Gegenteil. Ob ich beispielhaft Konstantinos Klironomos nehme, dessen warm timbrierter Tenor voller Einfühlungsvermögen und Schmelz in Poulencs Partitur handlungsbedingt fast ein wenig zu selten zu hören ist, oder eine noch kleinere Rolle wie den Beichtvater, bei dem Jan Kristof Schliep mit vorbildlicher Textverständlichkeit und schmerzlich ambivalenter Charakterzeichnung überzeugt, oder bei den Nonnen Neele Kramer als Mère Marie, deren resolutes, dann eiferndes Wesen sie ebenso glaubhaft wie stimmgewaltig umsetzt wie den Moment der Erkenntnis des eigenen Versagens im Ton der Verzweiflung – gerade die kleineren Partien sind es, die den starken Gesamteindruck vervollkommnen.

Von den Hauptpartien ganz zu schweigen. Aber anstelle in Begeisterung zu verstummen, gilt es Qualität beim Namen zu nennen: Christiane Oertels darstellerisches Talent durfte ich bereits einige Male bewundern, unter anderem ebenfalls als alte Priorin in der Umsetzung dieses Werkes an der Komischen Oper. Damals wie heute zeichnet sie eine besondere Intensität der Verkörperung dieser Figur aus, eine ehrwürdige Härte an der Schwelle zur Verbitterung, die der Todeskampf schließlich in der offenen Anklage Gottes kollabieren läßt. Eine Meisterleistung Oertels, in der prophetischen Schreckensvision kulminierend.

Oder nehmen wir ihre Nachfolgerin, die neue Priorin, deren anfangs gestelzt bemühtes, oberlehrerhaftes, im weiteren Verlauf jedoch immer besonnenes und im besten Sinne leitendes Auftreten einen spannenden Gegenpol zum Fanatismus (oder doch im dogmatischen Sinne vorbildhaften Standfestigkeit?) Maries bildet – in Stimme und Spiel ideal gestaltet durch Frau Bringmann. In einer Reihe von starken Momenten ist ihr stärkster wohl der anrührende, tief empfundene Gesang der Szene im Gefängnis, durch den sie die in Verzweiflung kauernden Nonnen um sie herum physisch wie seelisch wieder aufrichtet.

Aber es geht hier nicht allein um große darstellerische Momente, sondern eben auch durch die Bank um musikalische Qualität, um schöne Stimmen. Stellvertretend sei hierfür abschließend das Gegensatzpaar Constance und Blanche etwas eingehender beleuchtet. Martina Nawrath und Antonia Radneva kann man wohl als eine Idealbesetzung der beiden Partien bezeichnen. Die eine mit kristallklarem, makellos-frisch-jugendlichem Sopran, der Constanzes ursprüngliche, unbeschwerte Art und ihren sich daraus speisenden reinen, unbeirrbaren Glauben beeindruckend lebendig und klangschön verkörperte, die andere in der Rolle der angstdurchsetzten, fast schon irreal fragilen Blanche, für die sie genau die richtige, ungemein zarte, mit leichter Mezzofärbung betörend anrührende Stimme mitbrachte. Das Konzept dieser beiden Rollen, anfangs basierend auf dem Reiz des scheinbar Unvereinbaren, schließlich in der Erkenntnis des verbindenden Elements vollendet, fand in den beiden Sängerinnen optimale Vertreter.

Und dann wäre da ja noch diese Inszenierung. Eike Gramss und sein Team machen hier alles, aber auch wirklich alles richtig. Die trichterförmige Grundstruktur des Bühnenbildes ist einerseits akustisch vorteilhaft und schafft andererseits durch eine Vielzahl von äußerst variabel kombinierbaren Wanddurchbrüchen für die stetigen Bildwechsel die Illusion verschiedenster Räumlichkeiten von der kargen, dunklen Einzelzelle im Kloster zum lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum. Wenige sorgsam platzierte Möbel und Requisiten (Den Globus aus dem Anwesen des Marquis sehen wir am Ende der Oper zerbrochen in Blanches Händen – Symbol für eine ganze Welt in Trümmern) tun ihr übriges.

Wobei die wohl mit Abstand wichtigste Zutat für einen starken optischen Gesamteindruck und eindringliche Bilder der konsequente Einsatz von Licht darstellt. Goldgelbe Strahlen, die seitlich durch Fensterfronten fluten, Interieur und Gesichter plastisch akzentuieren, starke Hell-Dunkel Kontraste mit langen Schatten, so manchem Bild wohnt ohne Übertreibung die Suggestivkraft Rembrandt’scher Gemälde inne. Interessant hier vor allem der Kontrast zwischen dem warmen Licht, das im ersten Teil der Handlung vorherrscht und der ungleich kälteren, fahlen Stimmung, die im späteren Verlauf beispielsweise in der Kerkerszene oder beim finalen Gang zum Schafott gesetzt wird.

Ein weiterer Baustein dieser stimmigen Produktion ist ihr Realismus. Sicher, das hat auch etwas mit Maske und Kostümen zu tun, die ihrerseits viel zum authentischen Ganzen beitragen, weiter gefasst geht es aber bereits hier um Belange einer Personenregie, die das Leben mitfühlbar abbildet. Der (Arbeits-)Alltag der Nonnen, ihre Gartenpflege, kurz unterbrochen durch den Seitenblick bei Blanches Ankunft, die Gebete, die Szene der Totenwache oder die gemeinschaftliche Handarbeit – alles Beispiele für das umsichtige Etablieren eines Realismus, der die titelgebenden Gespräche der Karmeliterinnen geschickt verbindet, gerade in jenem alltäglichen Gefüge aber eine persönliche, dringliche Note verleiht. Ebenso unspektakulär wie wirksam vielleicht die erste intensive Unterhaltung zwischen Blanche und Constance, bei der diese parallel der Hausarbeit nachgeht.

Der besondere Effekt, den diese Herangehensweise zudem mit sich bringt, liegt in dem Kontrast, der sich aus der abgeschotteten, reguliert-ritualisierten Welt des Klosters und dem Furor des Revolutions-Terrors ergibt, der in selbige auf ebenfalls authentische, jedoch ungleich lautere und brutalere Weise einfällt. Wo es Umsturz gibt, da gibt es Nutznießer – Gesinnung hin oder her – auch das kommt in dieser Regie deutlich zum Tragen. Die Plünderung des Klosters durch ehemals sicher lammfrommes Volk setzt in dieser Beziehung den Gipfel tumber Aggression und Vorteilsnahme.

Umso erschütternder dann der menschenverachtende Text des Revolutionsführers St. Just, der nach der Inhaftierung der Nonnen vor geschlossenem Vorhang verlesen wird. Hier lässt sich noch einmal gewissermaßen aus erster Hand der ganze in kalter Abstraktion gedachte pseudophilosophische Überbau einer Bewegung erfahren, die wahrscheinlich in bester Absicht gestartet zur Perversion ihrer eigenen Bestrebungen auswuchs. Befremdlich, wie der Blut- und Reinigungstenor dieser Rede doch dem so vieler anderer Pläne zum Wohle eines neuen Menschseins ähnelt, ganz gleich, ob nun Volk, Rasse oder wer auch immer sonst bemüht wird.

Bei all dem Leid und der Verzweiflung, die die letzten Episoden der Oper bestimmen, entschließt sich die Regie jedoch das starke Bild des Zusammenhalts der Frauen bis in den Tod mit einem versöhnlichen, hoffnungsvollen Blick abzuschließen. Es obliegt wiederum dem Licht, dieser Hoffnung Ausdruck zu verleihen, indem es mit ihr, in gegenläufiger Bewegung zum fallenden Vorhang zentral aufsteigend, die Bühne zu den letzten Klängen warm durchflutet. Ein Bild, das mehr von Menschlichkeit und Menschsein weiß, als all die vermeintlich großen Gedanken der Pamphlete der Geschichte.


Francis Poulenc – Gespräche der Karmeliterinnen
Musikalische Leitung – Werner Seitzer
Inszenierung – Eike Gramss
Bühne und Kostüme – Philippe Miesch

Marquis de la Force – Levente György
Blanche, seine Tochter – Antonia Radneva
Der Chevalier, ihr Bruder – Konstantinos Klironomos
Madame de Croissy, Priorin des Klosters – Christiane Oertel
Madame Lidoine, die neue Priorin – Isabell Bringmann
Mère Marie, Subpriorin – Neele Kramer
Sœur Constance, eine sehr junge Novizin – Martina Nawrath
Mère Jeanne, Klosterälteste – Karin Schibli
Sœur Mathilde –Tanja Westphal
Der Beichtvater des Klosters – Jan Kristof Schliep
Erster Kommissar – Daniel Käsmann
Zweiter Kommissar – Stephan Freiberger
Erster Offizier – Peter Kubik
Der Kerkermeister / Rede St. Just – Peter Frank
Thierry, Diener im Haus des Marquis – Piet Bruninx
Javelinot, ein Arzt – Michael Farbacher

Opernchor und Extrachor des TfN
Orchester des TfN

25. Juni 2015

Hamburger Camerata – Simon Gaudenz.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 11, Platz 1 bzw. 2 (nach der Pause)



Jörg Widmann – „Con brio“ Konzertouvertüre für Orchester 
Ludwig van Beethoven – Sinfonie Nr. 8 F-Dur, op. 93

(Pause)

Wolfgang Amadeus Mozart – „Haffner Serenade“ D-Dur KV 250
für Kammerorchester und Solovioline (Gustav Frielinghaus)



„Wenn die Engel für Gott spielen, spielen sie Bach. Wenn sie für sich spielen, spielen sie Mozart.“ Ich hoffe inständig, daß sich die Engel bezüglich etwaiger öffentlicher Konzerte im Himmel – sofern ich bei der Abovergabe Berücksichtigung finden werde – nicht von ihrem persönlichen Geschmack leiten lassen.

Doch wer hätte gedacht, daß ich den Mozart’schen Beitrag innerhalb eines Konzertes einmal als den interessantesten küren würde. Wobei diese Wahl ehrlicherweise nicht in dem Werk selbst begründet, sondern aus seiner Behandlung durch den Dirigenten abzuleiten ist. Oder, gemein gesprochen, aus der mäßigen Behandlung Beethovens durch eben diesen. Herr Gaudenz scheint ein großer Mozartfreund zu sein – davon zeugt allein schon die Vielzahl der von ihm eingestreuten Anekdoten und Lobhudeleien, mit denen er das Wolferl zwecks „Auflockerung“ der Serenadenfolge zwischen den Sätzen bedachte – und diese Freundschaft findet in einer differenzierten (ich möchte fast das Wort „spannend“ in den Mund nehmen, so fremd es mir im Zusammenhang mit Mozart auch erscheinen mag), soweit es das Material hergibt, zupackenden Lesart Widerhall.

Gleich der erste Satz der Serenade wird energisch angegangen, der Staub dieser biederen Kaffeeklatschmusik zumindest ein wenig aufgewirbelt. Auch im weiteren Verlauf widmet sich Gaudenz umsichtig und detailversessen der lebendigen Gestaltung des Werkes. Dynamische Kontraste werden (soweit vorhanden) akzentuiert, Gesangliches fein ausgesungen, in spritzigen Passagen oder Läufen das Orchester schön knackig zum Abschnurren gebracht. Allein, mir bringt das wenig, löst eine Mozart-Serenade nun mal ein ähnliches Prickeln bei mir aus, wie die Lektüre des Telefonbuchs von Salzburg. Daran ändert weder das eingebaute Violinkonzert (dessen Rondo-Finale mich trotz seiner Kürze mit seinen ewigen Wiederholungen mehr in meiner Geduld strapazierte, als es ein kompletter Parsifal in halbem Tempo gespielt vermöchte), noch andere Spielereien wie die Melodie von „Im Märzen der Bauer“ in Moll oder solistisch eingesetzte Trompete (Wer hätte das gedacht!). Ein Wort noch zum Solisten des Abends: Herr Frielinghaus erfüllt seinen Part unfallfrei, offenbart in Technik und Timbre jedoch auch, warum man für solche Aufgaben gewöhnlich auf spezialisierte Kräfte zurückgreift.

Beim Stichwort Spezialisierung wären wir dann wieder bei meiner Kritik an Herrn Gaudenz angelangt. So sehr ihm Mozart (am Herzen) liegen mag, so wenig gibt mir sein Beethoven und ließ das nicht allein abfolgetechnisch erhoffte Zentralstück des Abends zur müden Belanglosigkeit verkommen. Mag der Beginn, namentlich Teile des ersten Satzes, noch Anzeichen dieses später bei Mozart goutierten, leicht eckigen und damit straffen Stils offenbart haben, verflachte die Sinfonie unter Gaudenz Händen zusehends. Kein Vergleich zur bissigen, Ironie-durchsetzten Version, die ich vor Jahren an gleicher Stelle mit Lothar Zagrosek und der Jungen Deutschen Philharmonie erleben konnte. Gerade weil die Achte so ein anderes Antlitz als ihre titanisch-grüblerischen Schwestern besitzt, bedarf sie einer besonders feinen, mehr noch, feinsinnigen Zuwendung, um jenes nicht als harmloses Grinsen hervortreten zu lassen. Was gibt es da nicht alles zu entdecken! Gewitzte Echowirkungen, ein unglaublich spannungsgeladenes Spiel mit Pausen und deren Wirkung auf das Gefüge, karikierte Zopfigkeit – unterm Strich in jedem Fall viel eher Musik über Musik als Widmanns Con Brio Geschnetzeltes (wobei jener sicher ein kluger Kopf und herzenswarmer Mensch ist – man führe sich diesbezüglich einmal beispielhaft seine Rede zur Semestereröffnung 2014 der Hochschule für Musik Karlsruhe zu Gemüte).

Die Hamburger Camerata treiben existenzielle Sorgen um, die Zukunft scheint vorerst gesichert, Gewissheit gibt es offenbar nicht. Das Orchester bringt – trotz technischen Optimierungsbedarfs hier und da – alles mit, um ein Publikum zu begeistern. Einsatz, Leidenschaft, Qualität. Herr Gaudenz zeigt mit seinem Mozart Ansätze, wie diese Eigenschaften abzurufen sind, dennoch wird es mehr als ein paar warme Worte und Binsenweisheiten aus der Mottenkiste der Musikgeschichte brauchen, um das eigene musikalische Profil zu schärfen und den Platz einer eigenständigen Alternative im Hamburger Konzertleben dauerhaft zu besetzen. Die neue Saison wird es zeigen.

23. Juni 2015

Konzertchor Gymnasium Blankenese und Blankeneser Kammerorchester – Dieter von Sachs. Aula Gymnasium Blankenese.

20:00 Uhr, freie Platzwahl

Antiphon – „Laudate Dominum “
Text, Dieter von Sachs
Volkslied – „L`homme armé“
Guillaume Dufay – Messe: „L`homme armé“, Kyrie
Text, Katrin Redeker
Marc-Antoine Charpentier – „Te Deum“: Prélude, Bariton-Solo, Schlusschor (Bariton-Solo: Renato Kroll)
Text, Svea Meyer-Nixdorf)
Robert Schumann – „Die beiden Grenadiere“ (Tenor-Solo: Renato Kroll, Klavier: Brigitte Bollmann)
Robert Schumann – „Die Soldatenbraut“ (Sopran-Solo: Katrin Redeker, Klavier; Brigitte Bollmann)
Text, Anja Lemcke
Georg Friedrich Händel – Coronation Anthem
Text, Anja Lemcke
Ludwig van Beethoven – „God save the King“
Text, Florian Krohn
John Field – Klavierkonzert Nr. 1, 2. Satz (Klavier: Fabian Höfer)
Sergei Rachmaninow – Prélude g-Moll, op. 23 Nr. 5 (Klavier: Fabian Höfer)
Text, Charlotte Kohnert
Christophe Barratier – „Die Kinder des M. Mathieu“, Kyrie
Text, Océane Overbeck
Felix Mendelssohn Bartholdy – „Verleih uns Frieden“

15. Juni 2015

Philharmoniker Hamburg – Simone Young.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, 1. Rang rechts, Loge 8, Reihe 1, Platz 2



Franz Schmidt – Das Buch mit sieben Siegeln / Aus dem Buch der Offenbarung des Johannes für Soli, Chor, Orchester und Orgel

(NDR Chor, Staatlicher Akademischer Chor Latvija, Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Bass), Inga Kalna (Sopran), Bettina Ranch (Mezzosopran), Dovlet Nurgeldiyev (Tenor), Volker Krafft (Orgel))


Nachtrag zum gestrigen Konzert im Vergleich zu heute: Eigentlich hatte ich vermutet, daß der Rangplatz bei diesem groß mit Chor besetzten Werk akustische Vorteile gegenüber dem Parkett mit sich bringt – das Gegenteil war der Fall. Konnte ich gestern auf meinem Platz nahezu ideale Bedingungen genießen, was Ausgewogenheit und Schmackes insgesamt sowie Präsenz der Solisten anging, bekam der Chor heute ein teilweise fast unangenehmes Übergewicht. Da machte es sich doch bemerkbar, daß Schmidt es mit der Orchesterfülle eher mit Brahms denn Mahler hält. Auch die Ensemblestellen und der Vortrag des Propheten waren nicht allein räumlich von größerer Distanz geprägt. Doch nicht falsch verstehen: Ein Bombenkonzert bleibt ein Bombenkonzert, hätte ich die Erfahrung vom Vortag nicht gemacht, wäre ich ähnlich selig gewesen – so ergaben sich aber interessante Schlüsse für die zukünftige Platzwahl.

14. Juni 2015

Philharmoniker Hamburg – Simone Young.
Laeiszhalle Hamburg.

10:15 Uhr Einführung, 11:00 Uhr, Saal links, Reihe 7, Platz 12


Franz Schmidt – Das Buch mit sieben Siegeln / Aus dem Buch der Offenbarung des Johannes für Soli, Chor, Orchester und Orgel

(NDR Chor, Staatlicher Akademischer Chor Latvija, Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Bass), Inga Kalna (Sopran), Bettina Ranch (Mezzosopran), Dovlet Nurgeldiyev (Tenor), Volker Krafft (Orgel))



Es gab wohl kein anderes Konzert, auf das ich mich bislang in diesem Jahr so sehr gefreut hatte, wie die Aufführung des gewaltigen Schmidt-Oratoriums. Eine Live-Premiere, von der ich mir nach intensiver Beschäftigung und Ins-Herz-Schließung über die letzten Jahre hinweg nun nicht weniger erhoffte, als eine sprichwörtliche wie musikalische Offenbarung. Ein besonderes Werk, prädestiniert für besondere Anlässe – Simone Youngs letztes Abokonzert als Chefin ihrer Philharmoniker nach zehn Jahren Hamburger Intendanz ist so einer.

Nun muß ein besonderes Konzert nicht zwangsläufig besonders gut werden, aber heute war einer der Tage, an denen einer großen Erwartungshaltung Großartiges nachfolgte. Auch wenn ich mich nicht unbedingt als bedingungslosen Young-Fan bezeichnen würde – so eine Wirkung wie die heutige muß man erst mal hinbekommen. Bis auf die wundervolle Passage, in der die vier Wesen den Herrn preisen, die für meinen Geschmack ein wenig zu flott und dadurch weniger kontemplativ als gewohnt verlief, muss ich Frau Young gerade was die Tempi angeht ein großes Kompliment machen. Generell recht zügig – gleich das eröffnende Schreitmotiv nimmt entschlossen energische Schritte – was die Gefahr einer bemüht weihevollen Verschleppung vom Start weg bannte.

Überhaupt gab es an Orchesterleitung wie Ausführenden nichts auszusetzen, Frau Young führte ihre Philharmoniker und die Choristen mit Energie und Übersicht durch die Klüfte der Partitur, ob inniges Solo oder Fugen-Armageddon – die Apokalypse wurde entfesselt, ohne die Mitwirkenden ins Verderben zu stürzen. Das Werk knallt einfach!

Ein mindestens ebenfalls siebenfaches Rätsel, warum es so selten live erklingt (Ja, ja, die Erfordernisse – erzähl das mal den Mahlerianern). Dabei sind es nicht allein die Krassheiten und dynamischen Gipfel, die mich daran begeistern, als vielmehr die Fülle an unterschiedlichsten musikalischen Ideen und Formaten, die Schmidt zu einem ungeheuer abwechslungsreichen, gleichzeitig stimmigen Ganzen gefügt hat. Das verwunschen-mysteriöse Buch-Thema, die bereits angesprochene Melodie des „Heilig ist Gott der Allmächtige“, die großen Chorszenen, beispielsweise der sich bildlich aufschaukelnde Gesang bei der ansteigenden Flut oder das abschließende „Halleluja“ sind sicher nicht das Werk eines Epigonen oder belächelnswerten Zu-Spätromantikers.

Allein schon die vier Stimmungsbilder zum Auftreten der Reiter suchen bezogen auf ihre dramaturgische Verknüpfung und illustrativ-involvierende Wirkung Ihresgleichen. Vom euphorisch-heldischen Jubel über „Das Wort Gottes“, über das martialische Inferno des Krieges (ebenso simpel wie nackenhaarsträubend der räumliche Effekt der vorüberziehenden und sich akustisch entfernenden Blechfratzen beim Schluß „Und die Hölle folgte ihm nach“), zum wohl anrührendsten Teil des Werkes, dem zwischen Schmerz und Hoffnung changierenden Zwiegesang von Mutter und hungernder Tochter, um beim letzten Reiter eine Vision des Todes heraufzubeschwören, die an Mittel der zweiten Wiener Schule oder Brittens (deutlich jüngeres)War Requiem (Gespräch der Gefallenen) denken läßt.

Ich liebe auch die Orgelsoli, besonders das erste, in der das Buch-Thema verarbeitet wird. Auch hier tauchen harmonische Reibungen auf, die Schmidts Musik ungemein spannend macht und auf eine spröde Art funkeln, vielmehr glühen läßt. Oder der Schluß des Oratoriums. Wenn man schon einen Knaller wie das „Halleluja“ aus dem Ärmel schüttelt – wem könnte man es da verdenken, es beim effektvollen Ausklang desselben zu belassen? Die Fallhöhe aber, die Schmidt hier aufbaut und mit dem anschließenden meditativen, verlöschenden Männerchor im Stile der Gregorianik zu atemberaubendem Kontrast bringt, unterscheidet für mich ein gutes Werk von einem Großen. Bezeichnend auch, daß er beim letzten Anschwellen des Schreitmotivs das gewaltige Tutti nicht ausklingen, sondern abrupt abreißen lässt – so als habe sich die wundersame Vision des Johannes schlagartig wieder unseren Blicken bzw. Ohren entzogen.

Aber jetzt habe ich viel über das Werk und wenig über das Konzert selbst geschwärmt, was nicht so stehenbleiben kann. Gerade die Gesangssolisten verdienen großes Lob, beziehungsweise hat man hier auch über die Besetzung der „Stars“ Vogt und Zeppenfeld hinaus ein glückliches Händchen gehabt. Inga Kalna gehörte vor zehn Jahren zu der Besetzung von Mathis der Maler – der ersten Produktion die ich unter der Ägide von Frau Young besucht habe – und heute schloss sich gewissermaßen auch auf diese Weise der Kreis. Gemeinsam mit Frau Ranch gestaltete sie die bewegende Tochter/Mutter-Passage mit großem Einfühlungsvermögen. Sopran und Mezzo ergänzten sich auf das Berührendste.

Dovlet Nurgeldiyev habe ich als Ensemblemitglied der Staatsoper schon das ein oder andere Mal in Hamburg gehört, allerdings ist mir bislang nie aufgefallen, über welch klangschöne, elegante Stimme voller Schmelz dieser Tenor doch verfügt. Georg Zeppenfeld habe ich urigerweise 2005 das erste Mal live erlebt, nämlich als ersten Nazarener im Zuge einer konzertanten Salome-Aufführung beim Schleswig-Holstein Musik Festival – natürlich ohne zu ahnen, daß mir dieser Herr eines Tages in Bayreuth als König Heinrich wiederbegegnen sollte. Was soll man da groß sagen – ein umwerfender Bass, der sich ebenso gut in das Viergestirn der Solisten integrierte, wie er als Stimme Gottes den Worten des Herrn volltönenden Nachdruck verlieh. Bleibt noch Herr Vogt als Prophet der Apokalypse.

Es ist schon faszinierend, wie unterschiedlich die Wirkung einer Stimme doch je nach dem Werk, in dem sie Einsatz findet, ausfallen kann. Auch wenn Klaus Florian Vogt vielleicht nicht der Lohengrin oder Parsifal meiner Wahl ist, mein Johannes ist er ohne Zweifel. Ich wüßte niemanden, der ihm in dieser Partie das Wasser reichen könnte. Eben jene Charakteristika, die mich ihn als Wagnersänger zumindest diskussionswürdig erscheinen lassen, kommen hier bedingungslos positiv zum Tragen. Ein zwar durchaus heldischer, aber immer auch oratorienhaft entleibter Gesang, von einer Strenge und fast schon knabenhaft silbriger Reinheit, wie ich ihn mir für die bildgewaltige Erzählung des Propheten nicht fesselnder vorstellen könnte. Diktion und Ausdruckskraft sind vorbildlich, etwa bei der unheimlich schwebenden Erkenntnis, niemand könne das Buch öffnen oder der fahl zerknirschten Beschreibung des „Feuersee“. Vogts Leistung ist insgesamt eine Lehrstunde in Sachen lebendiger Inhaltsvermittlung und bildhafter Stimmgestaltung über den bloßen Notentext hinaus.

Fazit: Eine Sternstunde für Schmidts selten gespieltes Hauptwerk und ein mehr als gelungener Abschluss der Philharmonischen Konzerte unter Simone Young.

11. Juni 2015

Berliner Philharmoniker. Gustavo Dudamel.
Philharmonie Berlin.

20:00 Uhr, Block C rechts, Reihe 5, Platz 2



Wolfgang Amadeus Mozart – Serenade D-Dur KV 320
(„Posthorn-Serenade“)


(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 1 D-Dur



Gebt dem Mann dieses Orchester! Ok, er hat es ja bereits, zumindest heute und bei all den anderen Gelegenheiten, zu denen Gustavo Dudamel jenen himmlischen Klangkörper als Gast leiten darf. Wäre in jedem Fall nicht die schlechteste Option der im Zuge der Chefdirigentenwahl kolportierten Kombinationen gewesen. Ganz sicher jedenfalls für Mahler (Herr Petrenko wird seine Sache sicher gut machen, davon konnte ich mich unter anderem 2014 in Bayreuth überzeugen (Link)). Das gern bemühte Klischee des feurigen Lateinamerikaners, dem zwar Verve und rhythmische Ekstase quasi per Muttermilchdekret abgekauft, teutonische Tiefe und ernste Abendlandpflege mit dem gleichen routinierten Griff in die enge und leicht klemmende Ressentiment-Schublade jedoch abgesprochen werden, zerfiel spätestens heute unter den erdbebenartigen Schockwellen der Wonne zu einem Häuflein Staub, welches sich ganz leicht unter das Bravo-umtoste Dirigentenpult fegen ließ.

Die heutige Mahler-Darbietung stellt ohne Übertreibung die beste Aufführung dieser Sinfonie dar, der ich jemals beiwohnen durfte. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, daß Dudamels Interpretation, unvergleichlich umgesetzt durch die Berliner Philharmoniker, den eigentlich unsinnigen, weil der Vielzahl subjektiver Vorlieben entgegenstehenden Begriff der Referenz heute mit Leben gefüllt hat, wie kaum ein Konzerterlebnis zuvor. Ich selbst bin ein Freund der Extreme. Extreme Härte (Solti) oder extreme Sensibilität (Maazel), sind scheinbar unvereinbare Gegensätze, die ich als zwei für mich gleichsam stimmige und stimmungsvolle Sichtweisen auf ein und denselben Gegenstand gerade in ihrer Verschiedenheit lieben gelernt habe (wobei die bemühten Begriffe die jeweilige Konzeption nur allzu grob vereinfacht beschreiben). Der Mittelweg ist für mich, gerade bei Werken, die ich besonders schätze und gut zu kennen glaube, oft eben nicht der Königsweg. Dudamel nun schafft mit seiner Arbeit, zumindest mit der Vorlage dieser Ersten, so etwas wie die Vereinigung der Extreme, oder besser: er reizt das musikalisch Mögliche aus dieser Sinfonie aus, ohne dabei das Werk insgesamt in die eine oder andere Richtung zu „radikalisieren“. Ich kann es nicht anders ausdrücken, als daß heute Wesen und Konzept dieser Sinfonie idealtypisch präsentiert wurden.

Woran mache ich das fest? Nehmen wir einmal beispielhaft das Tempo. Über die gesamte Sinfonie gesehen kann man nicht behaupten, daß Dudamel hier Extreme vorlegt – wir erleben weder ein permanentes Hochgeschwindigkeitsdirigat, noch lässt er sich besonders viel Zeit. Es ist vielmehr so, daß sich dieser Mann innerhalb eines auf den ersten Blick recht konservativ anmutenden Rahmens bestimmte Freiheiten herausnimmt, die das Gesamtergebnis ungeheuer organisch, lebendig, frisch wirken lassen. So forsch-drastisch die Wiederkehr des Scherzo-Ländlers nach dem Trio hervorprescht, so kontemplativ-versonnen gestaltet er Einsatz und Verlauf der „Lindenbaum“-Passage im dritten Satz. Wobei an jenen Stellen die erzielte Wirkung nicht von der jeweiligen Akzentuierung bzw. Artikulation zu trennen ist. So tischt uns Dudamel den Ländler des zweiten Satzes mit einer solchen Derbheit auf – man versuche, sich dem krachenden Überschwang der verzögerten Stampfer zu entziehen – wie ich sie mir „authentisch“ bäuerlicher nicht träumen könnte. Spannend zudem, wie der Dirigent dieses Mittel der Verzögerung an ganz anderer Stelle ähnlich einsetzt, um im Finale das Auftürmen der großen Steigerungen noch wuchtiger zu realisieren. Unbeschreiblich beispielsweise das mitreißende Moment, welches kurz vor dem Schluß des Werkes durch den Kontrast des letzten, mit wuchtig retardierenden Schritten genommenen Gipfels und das unmittelbar darauf folgende befreite Davonstürmen der Hörner erzielt wird.

Auch der Dynamik kommt bei Dudamel in Kombination mit den angesprochenen Mitteln eine unglaublich feinsinnige und differenzierte Behandlung zugute. Besagtes „Lindenbaum“-Thema habe ich im Konzertsaal nie zarter erlebt – der Schatten einer seligen Erinnerung aus fast vergessner Zeit. Dem gegenübergestellt die unerbittliche Vehemenz der grimmigen Aggressionen des Finalsatzes, durchbrochen vom schüchternen Aufblühen des warmherzigen Streichergesangs, schroff kontrastiert, umkämpft, abgelöst von Reminiszenzen an den ersten Satz, mit diesen verwoben, erneut entflammt, um letztlich, nach der zunächst noch vertagten Erlösung durch den Choral, in eben dessen vollendeter Gestalt die triumphale Erfüllung zu finden. Ein unbeschreiblicher Jubel in der Musik – gefolgt von grenzenlosem Jubel im Saal. Freude und Dankbarkeit.

10. Juni 2015

Simon Boccanegra – Simone Young.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts Balkon, Reihe 4, Platz 10 


Als ich anfangs des Jahres nach sporadischen Besuchen auf der Homepage der Staatsoper eines guten Tages doch noch einige versprengte freie Plätze für den bis dato immer als ausverkauft gebrandmarkten Boccanegra erspähe, schlage ich freudig erregt zu. Der Grund für die Begehrlichkeit gerade dieser Aufführung war keine Neuproduktion oder gar rauschende Premiere, sondern ein einzelner Name auf der Besetzungsliste: Plácido Domingo. 

Es ergibt jetzt wenig Sinn, sich über Star-Rummel und Namens-Herdentrieb zu belustigen, lag meine Teilnahme doch ebenfalls im erhofften Erscheinen des weltbekannten Sänger-Seniors begründet. Genauso wenig, wie in das Lamento derer einzustimmen, die in seiner Absage nun Böswilligkeit oder Unvermögen der Staatsoper wittern, wie man kopfschüttelnd in einigen Kommentaren auf der Facebook-Präsenz der Hamburger Oper nachlesen konnte.

Verschwörungstheoretiker gibt es wohl in jedem Bereich, bedauerlich und dumm wird es, wenn fehlgeleitete „Experten“ auf diese Weise ihrer Enttäuschung Luft verleihen und am besten noch bei der Gelegenheit gleich mit allem und jedem abrechnen möchten, was schon lange ihr enges Herzchen belastete. Natürlich habe ich nach Monaten der Vorfreude ebenfalls kein Freuden-Feuerwerk auf meinem Balkon abgebrannt, aber so läuft es halt mal.

Zumal als „Ersatz“ mit George Gagnidze – bis auf die beiden geplanten Domingo-Termine ohnehin die Hamburger Stammbesetzung als Boccanegra – kein Notnagel aus dem Hut gezaubert werden musste. Aber gut, darum geht es den meisten eh nicht. „Man hätte den Domingo halt gern noch mal erlebt“, wie ich einer älteren Dame in der Pause ablauschte. Ging mir nicht anders, auch da ich mich vor einigen Jahren in Berlin von der außergewöhnlichen Qualität seines Bariton-Rententeils überzeugen konnte – ebenfalls in der Rolle des Dogen-Korsaren.

Aber genug des „hätte“ und des „was wäre, wenn“, hinein in die Realität des Abends. Wobei damit gleichsam auch der Kern des Stückes, zumindest in der Inszenierung durch Claus Guth, umrissen wäre. Parallel zu den schicksalhaften Entwicklungen der Biografie Boccanegras, lässt er in einzelnen Sequenzen einen alternativen Lauf der Geschichte aufblitzen, eine Art positives Spiegelbild der tragischen Handlung. Boccanegra sitzt mit seiner Frau Maria, seiner Tochter, Adorno und Fiesco gemeinsam zu Tisch – eine Utopie des „es hätte doch auch“, wie es bei einem anderen, günstigeren Verlauf der Dinge durchaus denkbar gewesen wäre.

In der aktuellen Realität des Stückes jedoch verlassen die nicht Beteiligten wortlos rückwärts schreitend die Szene, das hier und jetzt setzt sich immer wieder durch. Das Thema Spiegelung findet darüber hinaus in der zentral angebrachten, als goldgefasster Spiegel oder Gemälde angelegten rahmenförmigen Durchsicht eine weitere eindrucksvolle Umsetzung. So hält diese Bühne in der Bühne wortwörtlich eine weitere Ebene der Geschehnisse bereit, am berührendsten wahrscheinlich in der allerletzten Szene, die im Vordergrund den verstorbenen Boccanegra, im Rahmen dahinter sein Wiedersehen mit Maria zeigt.

Dominiert wird die Inszenierung auch von der omnipräsenten Bedrohung, die als visuelles Leitmotiv von dem riesigen Felsbrocken ausgeht, der im Laufe der einzelnen Bilder der Oper jeweils wie in Standbildern seinen unausweichlichen Einschlag durch die Decke in den Boden vollzieht. Ein ungeheuer starkes Bild für die nicht abwendbare Tragödie, gleichzeitig verdeutlichend, daß diese bereits vor 25 Jahren unwiderruflich in Gang gesetzt wurde.

Bedauerlicherweise gab es am heutigen Abend eine kleine Panne mit dem imposanten Requisit, das, anders als ich es bei meinem ersten Kennenlernen dieser Regiearbeit vor Jahren in der ersten Stufe der Oberlichtdurchbohrung als unbewegliche Momentaufnahme eingesetzt sah, heute erst nach dem Öffnen des Vorhangs in seiner ganzen baumelnden Pappmachepracht heruntergelassen wurde. Ich unterstelle bewusst keine Absicht, bzw. möchte nicht über die Möglichkeit nachdenken, dass jemand damit das Erscheinen des Felsen hervorzuheben gedachte – sowohl bezogen auf die Illusion der Last als auch auf die inhaltliche Wirkung ging dieser „Effekt“ so leider in die Hose.

Jenes ärgerliche Detail blieb dann aber auch der einzige Wermutstropfen eines rundum gelungenen Abends. Die Inszenierung mag für konservative Gemüter in ihrer reduziert-konzentrierten Ausstattung vielleicht etwas nüchtern daherkommen, in meinen Augen ist sie ein ästhetischer Hochgenuss und offeriert neben der bereits angedeuteten klugen szenischen Kommentarebene eine Regie, die absolut dem Primat des Verständnisses der doch mitunter verworrenen Handlung dient.

Schlüsselszenen oder -Elemente werden als solche klar akzentuiert – wie zum Beispiel die Bereitstellung und Aufnahme des Gift-Trankes. Oder: Nachdem Adorno erkennt, wen er da in fast fataler Absicht zu töten gedachte, reicht er Boccanegra deutlich sichtbar seine Waffe, um seinerseits gerichtet zu werden – wozu es natürlich nicht kommt. Das dramaturgische Prinzip der Irrungen, Wirrungen und (vorgeblich) unvorhersehbaren Wendungen, welches die italienische Oper, zumindest viele Werke Verdis, soweit ich sie kenne, bestimmt, ist meine Sache nicht – diese Umsetzung durch Guth und sein Team aber sehr wohl.

Musikalisch gesehen war der Abend für mich eher ambivalent. Ich genoss große gesangliche Qualität, gleichzeitig aber überraschend wenig emotionale Einbindung, insbesondere Rührung, was angesichts der nachhaltigen Erinnerung an meinen Erst-Boccanegra an gleicher Stätte in gleicher Inszenierung weder auf selbige, nimmt man zusätzlich den atemberaubenden Berliner Eindruck unter Barenboim als Gradmesser, noch auf das Stück selbst zurückzuführen ist. Ich möchte wetten, daß der banale Hauptgrund dafür meine Platzwahl darstellt. Man mag vom Balkon aus eine nette Aussicht haben, erkauft wird diese mit der weitgehenden Abnabelung vom Geschehen in puncto involvierende Lautstärke und szenische Unmittelbarkeit; ein dumpfer, unscharfer Gesamtklang komplettiert die Zutaten für ein lauwarmes Erleben.

Dabei konnte man sich heute insbesondere sängerisch ganz und gar nicht beschweren. John Tomlinson beeindruckte wie eh und je mit Ehrfurcht einflößendem, schwarzdröhnendem Bass (in Sachen Intonation drückt man bei solch einer Stimme gern mal ein Auge zu), das junge Paar stimmlich harmonisch und dynamisch ausgewogen (Memo an die Facebook-Nörgler: wer sich über Giuseppe Filianoti das Maul zerreißt, lebt entweder in der geschlossenen Abteilung des Caruso-Bergonzi-Wolkenkuckucksheims für ewig Gestrige oder ist über das allgemeine tenorale Niveau bundesdeutscher Bühnen nicht ganz im Bilde – klar, der Mann forciert vielleicht bei manchem Spitzenton, aber das ist mir angesichts seiner wunderbar timbrierten Stimme sowas von Wumpe!).

Den größten Eindruck hat neben der Hauptpartie wohl Robert Bork als Intrigant vom Dienst hinterlassen. Eine durchdringende Stimme, die die ganze zerknirschte Härte, das kalte Gift dieses im seinem Stolz verletzten Meuchel-Beamten transportierte. Bliebe noch Boccanegra selbst, beziehungsweise sein Verkörperer, George Gagnidze. Herrliche Stimme, tragfähig, rund, fast schon mild, besonders für die zarten und leisen Momente der Partie geeignet. Trotzdem auch hier: wenig wirklich Berührendes – wie gesagt, dem Sänger laste ich dies weit weniger an als meiner Buchung.

Eines jedoch wurde mir unmissverständlich klar: Auch eine starke Regiearbeit wie diese wird erst durch einen großen Sängerdarsteller, wie ich ihn in Franz Grundheber erleben durfte, zu etwas Unvergesslichem. Als ich ihn 2007 als Boccanegra sah, führte ich diese kleinen Berichte noch nicht in ihrer heutigen (digitalen) Form, im Zuge der wunderbaren Erfahrung eines Sängersalons 2013 habe ich nachträglich versucht, sein darstellerisches Ausnahmetalent anhand einer einzelnen Szene, des Todes Boccanegras, zu fassen (Link).

Gagnidze ist ein sehr guter Boccanegra – Grundheber ist (für mich) Boccanegra. Ähnlich, wenn auch auf eine ganz andere Art, geht es mir durch das Berlin-Gastspiel mit Domingo. Der eine singt den Dogen wohl nicht mehr, der andere schon. Vielleicht ergibt es sich ja noch einmal, daß der alte Korsar in für mich schiffbaren Gewässern segelt. Ich werde weiter aufs Meer schauen.


Giuseppe Verdi – Simon Boccanegra
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Claus Guth
Bühnenbild und Kostüme – Christian Schmidt
Licht – Wolfgang Göbbel
Chor – Eberhard Friedrich
Spielleitung – Wolfgang Bücker

Simon Boccanegra – George Gagnidze
Jacopo Fiesco – John Tomlinson
Paolo Albiani – Robert Bork
Pietro – Alin Anca
Amelia Grimaldi – Barbara Frittoli
Gabriele Adorno – Giuseppe Filianoti
Un Capitano dei Balestieri – Daniel Todd
Un Ancella di Amelia – Anat Edri
Boccanegra-Doubles – Sebastian Faust, Valeri Engel Maria – Britta Siebels

Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmoniker Hamburg

6. Juni 2015

Cardillac – Peter Sommerer.
Landestheater Flensburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 53



Warum ich diese Oper und seinen Komponisten verehre:

Ich lese im Zusammenhang mit Cardillac viel über die Abwesenheit des (operntypischen) Pathos, dem Fernbleiben des Opulenten, Schwelgenden. Wenig anzufangen weiß ich mit dem in diesem Zusammenhang formelhaft fallen gelassenen Begriff der Neuen Sachlichkeit. Eine ganze Menge jedoch gibt mir diese elektrisierende Musik aus sich selbst heraus: Konfrontation und Konzentration. Unglaublich, wie das aufgebrachte, verängstigte Volk rast, wie es hetzt und peitscht, von der verzweifelten Ohnmacht getrieben, den Mörder entlarvt zu wissen, vor dem sich kein Einzelner in Sicherheit wiegen kann – und wie Hindemith für dies musikalische Umsetzung findet, mit Mitteln, die uns die nackte Panik mit aller Konsequenz, nahezu naturalistischer Wucht, entgegenschleudert.

Auf der anderen Seite haben wir Szenen wie die Arie der Dame, die in ihrem schwebend-verzehrenden Sehnen zum Schönsten gehört, dem ich musikalisch überhaupt erliegen durfte. Eine Art herber, bittersüßer Schreker, der Hindemiths Gespür für das Sinnliche – So viel zur Sachlichkeit – eindrucksvoll beweist. Und zu guter Letzt die Einbindung dieser emotionalen Kontraste in ein Gefüge bedrückend holzschnittartiger Charaktere, das mich in seiner fast schon abstrakt wissenschaftlichen Obduktion menschlicher Motivation nicht minder anfasst und ins Grübeln bringt als das Konzept individueller, tiefenpsychologischer Charakterzeichnung.


Warum der Flensburger Cardillac eine Reise wert ist:

Ein gut aufgelegtes Orchester, offenkundig motiviert durch das energische Dirigat Peter Sommerers, bildete die Basis für das musikalische Gelingen des Abends. Das Sängerensemble ist erfreulich ausgewogen und von guter Qualität, einzig Herr Choi mit seinem eigentlich nur ab dem Forte genieß- und wahrnehmbaren Tenor bereitete mir ein wenig Kummer. Es tut mir leid, aber größtenteils habe ich ihm schlicht weder akustisch noch von der Diktion her folgen können. Glücklicherweise blieb dies aber auch die einzige spürbare Einschränkung, bei seinen Kollegen gab es durch die Bank wenig zu meckern. Klar, die angesprochene Lieblingsarie der Dame kann man differenzierter, gerade zu Beginn und zum Schluß noch zarter gestalten, aber da muß man auch mal die Kirche in Flensburg lassen.

Kai-Moritz von Blankenburg ist der stimmliche und darstellerische Motor der Produktion, deren größter Vorzug eine durchdachte Personenregie darstellt. Diese erschöpft sich nicht nur auf die Hauptakteure, sondern schafft auch für die zahlreichen Chorszenen sinnvolle und lebendige Umsetzungen. Das Eintreffen der Gäste im dritten Akt, das sehr individuell von Statten geht, ist ein schönes Beispiel dafür. Hat mich ein bißchen an Harry Kupfers Tannhäuser erinnert, da gibt es ebenfalls ein paar gehetzte Nachzügler beim Einzug auf der Wartburg.

Natürlich erzielt dabei im Einzelfall nicht jede individuelle Geste oder Mimik Lee-Strasberg-Wirkung, zumal das der Stummfilm-Ästhetik entlehnte Repertoire teilweise mit Vorsicht zu genießen ist – obwohl es zum Gesamtkonzept bzw. der an den Expressionismus angelehnten Ausstattung passt. Jene scheint generell ein probates Mittel der Regisseure, sich dem Werk zu nähern, zumindest verfolgte auch die von mir vor Jahren besuchte Braunschweiger Version einen ähnlichen Ansatz. Spricht ja auch einiges dafür, dem Grellen, Kontrastreichen, Artifiziellen in der Musik darin Entsprechung zu geben.

Mit Bedacht gesetzte Gesten-Details beleuchten den Kern der marionettenhaft-unnahbaren Charaktere ebenso treffend wie einfach – ganz gleich, ob der Chef der Geheimpolizei in versonnener Arroganz seine Fingernägel betrachtet oder die Eitelkeit des Offiziers in der Ticstörung des permanenten Zurückstreichens der Haare und Zurechtrückens der Uniform visuelle Gestalt erhält. Die Aufteilung des Täters in mehrere gesichtslose Schattenabbilder ist ein starkes Bild für seine Unberechenbarkeit und die permanente Angst, der sich die Bürger ausgesetzt sehen, ebenso wie der multiplizierte König für den Wahn und die Angst Cardillacs, doch alles zu verlieren. In dieser Interpretation ist es ungewiss, ob der hoheitliche Besuch überhaupt stattgefunden hat, und die gierig nach den Schmuckstücken greifenden, Spitzen-umflorten königlichen Hände sich nicht in einen Fiebertraum Cardillacs ausgestreckt haben.

Ambivalent wirkt auf mich auch der Schluss. Der Offizier verklärt den Mörder zum Helden, die Tochter streift sich den Mantel des Goldschmiedemeisters über – sollte hier vielleicht doch blankes Kalkül am Werke gewesen sein? Spannende Gedanken, aus einem spannenden Abend mitgenommen.


Paul Hindemith – Cardillac
Musikalische Leitung – Peter Sommerer
Inszenierung – Markus Hertel
Ausstattung – Martin Fischer
Choreinstudierung – Bernd Stepputtis
Dramaturgie – Elisabeth Kühne

Der Goldschmied Cardillac – Kai-Moritz von Blankenburg
Die Tochter – Anna Schoeck
Der Offizier – Junghwan Choi
Der Goldhändler – Markus Wiessiack
Der Kavalier – Jin-Hak Mok
Die Dame – Svitlana Slyvia
Der Führer der Prévôté – Jorge Martinez Mendoza

Opernchor, Extrachor, Statisterie, Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester

4. Juni 2015

City of Birmingham SO – Andris Nelsons.
Laeiszhalle Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang links, Loge 4, Reihe 1, Platz 3

Richard Wagner – „Karfreitagszauber“ (Parsifal)
Richard Wagner – „Amfortas, die Wunde“ (Parsifal, 2. Aufzug)
Richard Wagner – „Nur eine Waffe taugt“ (Parsifal, 3. Aufzug)
Richard Wagner – Lohengrin, Vorspiel zum 3. Akt
Richard Wagner – „Höchstes Vertrauen hast Du mir schon zu danken“
(Lohengrin, 3. Akt)
Richard Wagner – Gralserzählung (Lohengrin, 3. Akt)

Zugabe: Richard Wagner – „Winterstürme wichen dem Wonnemond“
(Die Walküre, 1. Aufzug)

(Klaus Florian Vogt – Tenor)

(Pause)

Antonín Dvořák – Sinfonie Nr. 7 d-Moll op. 70

Zugabe: Antonín 
Dvořák – Slawischer Tanz Nr. 2, e-Moll op. 72


Dem City of Birmingham Symphony Orchestra gebührt seit eh und je ein Ehrenplatz in den Tiefen heimischer CD-Regale, errungen durch die Referenzeinspielung der Sinfonien Sibelius’ unter Simon Rattle. Hatte dessen Nach-Nachfolger Nelsons beim letzten von mir besuchten Gastspiel noch eine Arbeitsprobe des schwerblütigen Finnen im Gepäck (Link), bot heute deutsch-böhmische Repertoirepflege die Grundlage für die Zeichen des Abschieds – Nelsons zieht es weiter gen Boston. Nach Triumphen in Bayreuth und an den übrigen ersten Adressen der klassischen Musikwelt scheint Birmingham mittlerweile vielleicht doch eine Spur zu gediegen für die Ambitionen des lettischen Kometen.

Ambitionen sind überhaupt ein gutes Stichwort. Viel deutlicher als üblicherweise trennen sich für mich beim heutigen Konzert die aus einer bestimmten Erwartungshaltung gespeisten Eindrücke in klar separierte Bereiche, das Triumvirat Dirigent, Orchester und Solist als einzelne Facetten erleb- und beurteilbar werden lassend. Das kann auf ein starkes Qualitätsgefälle der Beteiligten hindeuten, ist diesmal aber vielmehr Ausdruck einer Kombination, die meine persönlichen Vorlieben nicht zur Gänze bedient. Die Geschmäcker sind halt verschieden.

Das Orchester ist sicher kein schlechtes (etwas anderes zu behaupten könnte angesichts meiner Kolportage von 2012 natürlich auch leicht als Wankelmut ausgelegt werden – wobei, einen gewissen Zug der Unberechenbarkeit sieht doch insgeheim jeder gern an sich), aber für den Wagner’schen Rausch fehlt mir einfach eine gewisse Opulenz der Klangfarben. Die Streicher ziemlich herb, man könnte auch stumpf sagen, die Holzbläser mit Ausnahme der Soloklarinette relativ unsensibel, das Blech sattelfest, aber auch hier ohne den letzten Nachdruck – zusammenfassend ergibt sich daraus für mich ein eher neutrales, böse formuliert etwas unspannendes Gesamtbild des Klangkörpers.

Dabei folgen die Damen und Herren den ausgefeilten Anweisungen ihres Noch-Chefs weitgehend mit der nötigen technischen Finesse – von kleinen Aussetzern wie dem verpatzten Horneinsatz zu Beginn der Dvořák-Sinfonie einmal abgesehen. Dennoch drängte sich bei mir der Eindruck auf, daß Nelsons für das, was ihm – jedenfalls bei Wagner – konzeptionell so vorschwebt, doch besser ein anderes Orchester mitgebracht hätte, Abschiedstour hin, Abschiedstour her.

Nelsons Wagner ist in jedem Fall ein organischer, ungemein differenzierter, fein ziselierter, gleichsam ein Wagner der großen fließenden Bögen. Beschwörend mäandert sich der Maestro mit raumgreifenden Gesten durch die Partitur, sucht auch mimisch unentwegt den Kontakt zu den einzelnen Stimmgruppen, mit der Linken nahezu pausenlos nachregulierend, Dynamik und Fluß gestaltend, in besonders delikaten Momenten ganz ohne Taktstock mit beiden Händen formend – Das Orchester als Tonklumpen.

Und zu eben dieser hochsensiblen, dem schillernd-somnambulen Mischklang des Parsifal nachforschenden Lesart will in meinen Ohren der durch und durch bodenständige Sound der Engländer so gar nicht passen. Ein Bild wird mir dabei – so isoliert wie ungerecht die Beobachtung sein mag – hängen bleiben: Nelsons, wie er, nachdem er bei einem für seine Begriffe offenbar viel zu forschen Holzbläsereinsatz zu Beginn des ruhigen Mittelteils des Vorspiels zum dritten Akt Lohengrin blitzartig mehrmals herunterzuregeln sucht und schließlich den Finger vielsagend ans Ohr legt.

Wobei sein Ansatz weit davon entfernt ist, in Schönheit zu sterben. Spätestens besagtes Vorspiel offenbart den Elan, der von dem zu Recht hoch gehandelten Letten ausgeht – ohne dabei jedoch in extreme Schärfe oder Brutalität umzuschlagen. Das Vulgäre scheint Nelsons Sache nicht, der das Feuer offenbar immer noch mit einer gewissen Eleganz zu bändigen weiß. „Rund“ ist so eine gern bemühte, etwas hilflose Vokabel, die mir für diesen Stil aber wie gemacht zu sein scheint.

Womit wir zum einen wieder bei Geschmack und damit verbunden bei der einzigen Einschränkung dieser Meisterleistung am Pult angekommen wären: Sicher verblendet von der nostalgischen Verklärung der Einspielung unter Rafael Kubelik, ist mir Nelsons Dvořák fast schon eine Spur zu rund. Oder anders herum ausgedrückt, mir fehlte – zumindest in den ersten beiden Sätzen – jenes derbe, mitunter schroffe, fast schon bockige Moment, mit dem Kubelik dies Füllhorn melodischer und rhythmischer Einfälle vor der Latz zu knallen pflegt. Im Laufe der Sätze 3 und 4 verflüchtigte sich dieser Eindruck jedoch zusehends. Den mitreißenden Final-Sog mit einem schlichten „fulminant“ abzuspeisen, hieße, einer außergewöhnlichen Leistung Ungerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Fehlt schließlich noch die dritte Kraft im Bunde, der Solist des Abends. Über Klaus Florian Vogt könnte ich jedesmal ein Buch schreiben – mache es jedoch so gut wie nie. Auch über seinen kürzlich bewunderten Paul an der Staatsoper (Link) habe ich nicht viele Worte verloren, obwohl – oder gerade weil – er mich zwischen Ehrfurcht und Verzückung zurückließ. Dennoch: Es gibt in meinen Augen nur zwei Herren, die den lyrischen Kern der Wagner-Partien in dieser Qualität und Tiefe auszuloten vermögen – und ich wähle den anderen. Trotzdem fiebere ich Vogts Darbietung als Johannes in Schmidts „Das Buch mit Sieben Siegeln“ hier in Hamburg entgegen. Denn noch einmal: Die Geschmäcker sind halt verschieden.