6. Juni 2015

Cardillac – Peter Sommerer.
Landestheater Flensburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 53



Warum ich diese Oper und seinen Komponisten verehre:

Ich lese im Zusammenhang mit Cardillac viel über die Abwesenheit des (operntypischen) Pathos, dem Fernbleiben des Opulenten, Schwelgenden. Wenig anzufangen weiß ich mit dem in diesem Zusammenhang formelhaft fallen gelassenen Begriff der Neuen Sachlichkeit. Eine ganze Menge jedoch gibt mir diese elektrisierende Musik aus sich selbst heraus: Konfrontation und Konzentration. Unglaublich, wie das aufgebrachte, verängstigte Volk rast, wie es hetzt und peitscht, von der verzweifelten Ohnmacht getrieben, den Mörder entlarvt zu wissen, vor dem sich kein Einzelner in Sicherheit wiegen kann – und wie Hindemith für dies musikalische Umsetzung findet, mit Mitteln, die uns die nackte Panik mit aller Konsequenz, nahezu naturalistischer Wucht, entgegenschleudert.

Auf der anderen Seite haben wir Szenen wie die Arie der Dame, die in ihrem schwebend-verzehrenden Sehnen zum Schönsten gehört, dem ich musikalisch überhaupt erliegen durfte. Eine Art herber, bittersüßer Schreker, der Hindemiths Gespür für das Sinnliche – So viel zur Sachlichkeit – eindrucksvoll beweist. Und zu guter Letzt die Einbindung dieser emotionalen Kontraste in ein Gefüge bedrückend holzschnittartiger Charaktere, das mich in seiner fast schon abstrakt wissenschaftlichen Obduktion menschlicher Motivation nicht minder anfasst und ins Grübeln bringt als das Konzept individueller, tiefenpsychologischer Charakterzeichnung.


Warum der Flensburger Cardillac eine Reise wert ist:

Ein gut aufgelegtes Orchester, offenkundig motiviert durch das energische Dirigat Peter Sommerers, bildete die Basis für das musikalische Gelingen des Abends. Das Sängerensemble ist erfreulich ausgewogen und von guter Qualität, einzig Herr Choi mit seinem eigentlich nur ab dem Forte genieß- und wahrnehmbaren Tenor bereitete mir ein wenig Kummer. Es tut mir leid, aber größtenteils habe ich ihm schlicht weder akustisch noch von der Diktion her folgen können. Glücklicherweise blieb dies aber auch die einzige spürbare Einschränkung, bei seinen Kollegen gab es durch die Bank wenig zu meckern. Klar, die angesprochene Lieblingsarie der Dame kann man differenzierter, gerade zu Beginn und zum Schluß noch zarter gestalten, aber da muß man auch mal die Kirche in Flensburg lassen.

Kai-Moritz von Blankenburg ist der stimmliche und darstellerische Motor der Produktion, deren größter Vorzug eine durchdachte Personenregie darstellt. Diese erschöpft sich nicht nur auf die Hauptakteure, sondern schafft auch für die zahlreichen Chorszenen sinnvolle und lebendige Umsetzungen. Das Eintreffen der Gäste im dritten Akt, das sehr individuell von Statten geht, ist ein schönes Beispiel dafür. Hat mich ein bißchen an Harry Kupfers Tannhäuser erinnert, da gibt es ebenfalls ein paar gehetzte Nachzügler beim Einzug auf der Wartburg.

Natürlich erzielt dabei im Einzelfall nicht jede individuelle Geste oder Mimik Lee-Strasberg-Wirkung, zumal das der Stummfilm-Ästhetik entlehnte Repertoire teilweise mit Vorsicht zu genießen ist – obwohl es zum Gesamtkonzept bzw. der an den Expressionismus angelehnten Ausstattung passt. Jene scheint generell ein probates Mittel der Regisseure, sich dem Werk zu nähern, zumindest verfolgte auch die von mir vor Jahren besuchte Braunschweiger Version einen ähnlichen Ansatz. Spricht ja auch einiges dafür, dem Grellen, Kontrastreichen, Artifiziellen in der Musik darin Entsprechung zu geben.

Mit Bedacht gesetzte Gesten-Details beleuchten den Kern der marionettenhaft-unnahbaren Charaktere ebenso treffend wie einfach – ganz gleich, ob der Chef der Geheimpolizei in versonnener Arroganz seine Fingernägel betrachtet oder die Eitelkeit des Offiziers in der Ticstörung des permanenten Zurückstreichens der Haare und Zurechtrückens der Uniform visuelle Gestalt erhält. Die Aufteilung des Täters in mehrere gesichtslose Schattenabbilder ist ein starkes Bild für seine Unberechenbarkeit und die permanente Angst, der sich die Bürger ausgesetzt sehen, ebenso wie der multiplizierte König für den Wahn und die Angst Cardillacs, doch alles zu verlieren. In dieser Interpretation ist es ungewiss, ob der hoheitliche Besuch überhaupt stattgefunden hat, und die gierig nach den Schmuckstücken greifenden, Spitzen-umflorten königlichen Hände sich nicht in einen Fiebertraum Cardillacs ausgestreckt haben.

Ambivalent wirkt auf mich auch der Schluss. Der Offizier verklärt den Mörder zum Helden, die Tochter streift sich den Mantel des Goldschmiedemeisters über – sollte hier vielleicht doch blankes Kalkül am Werke gewesen sein? Spannende Gedanken, aus einem spannenden Abend mitgenommen.


Paul Hindemith – Cardillac
Musikalische Leitung – Peter Sommerer
Inszenierung – Markus Hertel
Ausstattung – Martin Fischer
Choreinstudierung – Bernd Stepputtis
Dramaturgie – Elisabeth Kühne

Der Goldschmied Cardillac – Kai-Moritz von Blankenburg
Die Tochter – Anna Schoeck
Der Offizier – Junghwan Choi
Der Goldhändler – Markus Wiessiack
Der Kavalier – Jin-Hak Mok
Die Dame – Svitlana Slyvia
Der Führer der Prévôté – Jorge Martinez Mendoza

Opernchor, Extrachor, Statisterie, Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester