10:15 Uhr Einführung, 11:00 Uhr, Saal links, Reihe 7, Platz 12
(NDR Chor, Staatlicher Akademischer Chor Latvija, Klaus Florian Vogt (Tenor), Georg Zeppenfeld (Bass), Inga Kalna (Sopran), Bettina Ranch (Mezzosopran), Dovlet Nurgeldiyev (Tenor), Volker Krafft (Orgel))
Es gab wohl kein anderes Konzert, auf das ich mich bislang in diesem Jahr so sehr gefreut hatte, wie die Aufführung des gewaltigen Schmidt-Oratoriums. Eine Live-Premiere, von der ich mir nach intensiver Beschäftigung und Ins-Herz-Schließung über die letzten Jahre hinweg nun nicht weniger erhoffte, als eine sprichwörtliche wie musikalische Offenbarung. Ein besonderes Werk, prädestiniert für besondere Anlässe – Simone Youngs letztes Abokonzert als Chefin ihrer Philharmoniker nach zehn Jahren Hamburger Intendanz ist so einer.
Nun muß ein besonderes Konzert nicht zwangsläufig besonders gut werden, aber heute war einer der Tage, an denen einer großen Erwartungshaltung Großartiges nachfolgte. Auch wenn ich mich nicht unbedingt als bedingungslosen Young-Fan bezeichnen würde – so eine Wirkung wie die heutige muß man erst mal hinbekommen. Bis auf die wundervolle Passage, in der die vier Wesen den Herrn preisen, die für meinen Geschmack ein wenig zu flott und dadurch weniger kontemplativ als gewohnt verlief, muss ich Frau Young gerade was die Tempi angeht ein großes Kompliment machen. Generell recht zügig – gleich das eröffnende Schreitmotiv nimmt entschlossen energische Schritte – was die Gefahr einer bemüht weihevollen Verschleppung vom Start weg bannte.
Überhaupt gab es an Orchesterleitung wie Ausführenden nichts auszusetzen, Frau Young führte ihre Philharmoniker und die Choristen mit Energie und Übersicht durch die Klüfte der Partitur, ob inniges Solo oder Fugen-Armageddon – die Apokalypse wurde entfesselt, ohne die Mitwirkenden ins Verderben zu stürzen. Das Werk knallt einfach!
Ein mindestens ebenfalls siebenfaches Rätsel, warum es so selten live erklingt (Ja, ja, die Erfordernisse – erzähl das mal den Mahlerianern). Dabei sind es nicht allein die Krassheiten und dynamischen Gipfel, die mich daran begeistern, als vielmehr die Fülle an unterschiedlichsten musikalischen Ideen und Formaten, die Schmidt zu einem ungeheuer abwechslungsreichen, gleichzeitig stimmigen Ganzen gefügt hat. Das verwunschen-mysteriöse Buch-Thema, die bereits angesprochene Melodie des „Heilig ist Gott der Allmächtige“, die großen Chorszenen, beispielsweise der sich bildlich aufschaukelnde Gesang bei der ansteigenden Flut oder das abschließende „Halleluja“ sind sicher nicht das Werk eines Epigonen oder belächelnswerten Zu-Spätromantikers.
Allein schon die vier Stimmungsbilder zum Auftreten der Reiter suchen bezogen auf ihre dramaturgische Verknüpfung und illustrativ-involvierende Wirkung Ihresgleichen. Vom euphorisch-heldischen Jubel über „Das Wort Gottes“, über das martialische Inferno des Krieges (ebenso simpel wie nackenhaarsträubend der räumliche Effekt der vorüberziehenden und sich akustisch entfernenden Blechfratzen beim Schluß „Und die Hölle folgte ihm nach“), zum wohl anrührendsten Teil des Werkes, dem zwischen Schmerz und Hoffnung changierenden Zwiegesang von Mutter und hungernder Tochter, um beim letzten Reiter eine Vision des Todes heraufzubeschwören, die an Mittel der zweiten Wiener Schule oder Brittens (deutlich jüngeres)War Requiem (Gespräch der Gefallenen) denken läßt.
Ich liebe auch die Orgelsoli, besonders das erste, in der das Buch-Thema verarbeitet wird. Auch hier tauchen harmonische Reibungen auf, die Schmidts Musik ungemein spannend macht und auf eine spröde Art funkeln, vielmehr glühen läßt. Oder der Schluß des Oratoriums. Wenn man schon einen Knaller wie das „Halleluja“ aus dem Ärmel schüttelt – wem könnte man es da verdenken, es beim effektvollen Ausklang desselben zu belassen? Die Fallhöhe aber, die Schmidt hier aufbaut und mit dem anschließenden meditativen, verlöschenden Männerchor im Stile der Gregorianik zu atemberaubendem Kontrast bringt, unterscheidet für mich ein gutes Werk von einem Großen. Bezeichnend auch, daß er beim letzten Anschwellen des Schreitmotivs das gewaltige Tutti nicht ausklingen, sondern abrupt abreißen lässt – so als habe sich die wundersame Vision des Johannes schlagartig wieder unseren Blicken bzw. Ohren entzogen.
Aber jetzt habe ich viel über das Werk und wenig über das Konzert selbst geschwärmt, was nicht so stehenbleiben kann. Gerade die Gesangssolisten verdienen großes Lob, beziehungsweise hat man hier auch über die Besetzung der „Stars“ Vogt und Zeppenfeld hinaus ein glückliches Händchen gehabt. Inga Kalna gehörte vor zehn Jahren zu der Besetzung von Mathis der Maler – der ersten Produktion die ich unter der Ägide von Frau Young besucht habe – und heute schloss sich gewissermaßen auch auf diese Weise der Kreis. Gemeinsam mit Frau Ranch gestaltete sie die bewegende Tochter/Mutter-Passage mit großem Einfühlungsvermögen. Sopran und Mezzo ergänzten sich auf das Berührendste.
Dovlet Nurgeldiyev habe ich als Ensemblemitglied der Staatsoper schon das ein oder andere Mal in Hamburg gehört, allerdings ist mir bislang nie aufgefallen, über welch klangschöne, elegante Stimme voller Schmelz dieser Tenor doch verfügt. Georg Zeppenfeld habe ich urigerweise 2005 das erste Mal live erlebt, nämlich als ersten Nazarener im Zuge einer konzertanten Salome-Aufführung beim Schleswig-Holstein Musik Festival – natürlich ohne zu ahnen, daß mir dieser Herr eines Tages in Bayreuth als König Heinrich wiederbegegnen sollte. Was soll man da groß sagen – ein umwerfender Bass, der sich ebenso gut in das Viergestirn der Solisten integrierte, wie er als Stimme Gottes den Worten des Herrn volltönenden Nachdruck verlieh. Bleibt noch Herr Vogt als Prophet der Apokalypse.
Es ist schon faszinierend, wie unterschiedlich die Wirkung einer Stimme doch je nach dem Werk, in dem sie Einsatz findet, ausfallen kann. Auch wenn Klaus Florian Vogt vielleicht nicht der Lohengrin oder Parsifal meiner Wahl ist, mein Johannes ist er ohne Zweifel. Ich wüßte niemanden, der ihm in dieser Partie das Wasser reichen könnte. Eben jene Charakteristika, die mich ihn als Wagnersänger zumindest diskussionswürdig erscheinen lassen, kommen hier bedingungslos positiv zum Tragen. Ein zwar durchaus heldischer, aber immer auch oratorienhaft entleibter Gesang, von einer Strenge und fast schon knabenhaft silbriger Reinheit, wie ich ihn mir für die bildgewaltige Erzählung des Propheten nicht fesselnder vorstellen könnte. Diktion und Ausdruckskraft sind vorbildlich, etwa bei der unheimlich schwebenden Erkenntnis, niemand könne das Buch öffnen oder der fahl zerknirschten Beschreibung des „Feuersee“. Vogts Leistung ist insgesamt eine Lehrstunde in Sachen lebendiger Inhaltsvermittlung und bildhafter Stimmgestaltung über den bloßen Notentext hinaus.
Fazit: Eine Sternstunde für Schmidts selten gespieltes Hauptwerk und ein mehr als gelungener Abschluss der Philharmonischen Konzerte unter Simone Young.