10. Juni 2015

Simon Boccanegra – Simone Young.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, 1. Rang rechts Balkon, Reihe 4, Platz 10 


Als ich anfangs des Jahres nach sporadischen Besuchen auf der Homepage der Staatsoper eines guten Tages doch noch einige versprengte freie Plätze für den bis dato immer als ausverkauft gebrandmarkten Boccanegra erspähe, schlage ich freudig erregt zu. Der Grund für die Begehrlichkeit gerade dieser Aufführung war keine Neuproduktion oder gar rauschende Premiere, sondern ein einzelner Name auf der Besetzungsliste: Plácido Domingo. 

Es ergibt jetzt wenig Sinn, sich über Star-Rummel und Namens-Herdentrieb zu belustigen, lag meine Teilnahme doch ebenfalls im erhofften Erscheinen des weltbekannten Sänger-Seniors begründet. Genauso wenig, wie in das Lamento derer einzustimmen, die in seiner Absage nun Böswilligkeit oder Unvermögen der Staatsoper wittern, wie man kopfschüttelnd in einigen Kommentaren auf der Facebook-Präsenz der Hamburger Oper nachlesen konnte.

Verschwörungstheoretiker gibt es wohl in jedem Bereich, bedauerlich und dumm wird es, wenn fehlgeleitete „Experten“ auf diese Weise ihrer Enttäuschung Luft verleihen und am besten noch bei der Gelegenheit gleich mit allem und jedem abrechnen möchten, was schon lange ihr enges Herzchen belastete. Natürlich habe ich nach Monaten der Vorfreude ebenfalls kein Freuden-Feuerwerk auf meinem Balkon abgebrannt, aber so läuft es halt mal.

Zumal als „Ersatz“ mit George Gagnidze – bis auf die beiden geplanten Domingo-Termine ohnehin die Hamburger Stammbesetzung als Boccanegra – kein Notnagel aus dem Hut gezaubert werden musste. Aber gut, darum geht es den meisten eh nicht. „Man hätte den Domingo halt gern noch mal erlebt“, wie ich einer älteren Dame in der Pause ablauschte. Ging mir nicht anders, auch da ich mich vor einigen Jahren in Berlin von der außergewöhnlichen Qualität seines Bariton-Rententeils überzeugen konnte – ebenfalls in der Rolle des Dogen-Korsaren.

Aber genug des „hätte“ und des „was wäre, wenn“, hinein in die Realität des Abends. Wobei damit gleichsam auch der Kern des Stückes, zumindest in der Inszenierung durch Claus Guth, umrissen wäre. Parallel zu den schicksalhaften Entwicklungen der Biografie Boccanegras, lässt er in einzelnen Sequenzen einen alternativen Lauf der Geschichte aufblitzen, eine Art positives Spiegelbild der tragischen Handlung. Boccanegra sitzt mit seiner Frau Maria, seiner Tochter, Adorno und Fiesco gemeinsam zu Tisch – eine Utopie des „es hätte doch auch“, wie es bei einem anderen, günstigeren Verlauf der Dinge durchaus denkbar gewesen wäre.

In der aktuellen Realität des Stückes jedoch verlassen die nicht Beteiligten wortlos rückwärts schreitend die Szene, das hier und jetzt setzt sich immer wieder durch. Das Thema Spiegelung findet darüber hinaus in der zentral angebrachten, als goldgefasster Spiegel oder Gemälde angelegten rahmenförmigen Durchsicht eine weitere eindrucksvolle Umsetzung. So hält diese Bühne in der Bühne wortwörtlich eine weitere Ebene der Geschehnisse bereit, am berührendsten wahrscheinlich in der allerletzten Szene, die im Vordergrund den verstorbenen Boccanegra, im Rahmen dahinter sein Wiedersehen mit Maria zeigt.

Dominiert wird die Inszenierung auch von der omnipräsenten Bedrohung, die als visuelles Leitmotiv von dem riesigen Felsbrocken ausgeht, der im Laufe der einzelnen Bilder der Oper jeweils wie in Standbildern seinen unausweichlichen Einschlag durch die Decke in den Boden vollzieht. Ein ungeheuer starkes Bild für die nicht abwendbare Tragödie, gleichzeitig verdeutlichend, daß diese bereits vor 25 Jahren unwiderruflich in Gang gesetzt wurde.

Bedauerlicherweise gab es am heutigen Abend eine kleine Panne mit dem imposanten Requisit, das, anders als ich es bei meinem ersten Kennenlernen dieser Regiearbeit vor Jahren in der ersten Stufe der Oberlichtdurchbohrung als unbewegliche Momentaufnahme eingesetzt sah, heute erst nach dem Öffnen des Vorhangs in seiner ganzen baumelnden Pappmachepracht heruntergelassen wurde. Ich unterstelle bewusst keine Absicht, bzw. möchte nicht über die Möglichkeit nachdenken, dass jemand damit das Erscheinen des Felsen hervorzuheben gedachte – sowohl bezogen auf die Illusion der Last als auch auf die inhaltliche Wirkung ging dieser „Effekt“ so leider in die Hose.

Jenes ärgerliche Detail blieb dann aber auch der einzige Wermutstropfen eines rundum gelungenen Abends. Die Inszenierung mag für konservative Gemüter in ihrer reduziert-konzentrierten Ausstattung vielleicht etwas nüchtern daherkommen, in meinen Augen ist sie ein ästhetischer Hochgenuss und offeriert neben der bereits angedeuteten klugen szenischen Kommentarebene eine Regie, die absolut dem Primat des Verständnisses der doch mitunter verworrenen Handlung dient.

Schlüsselszenen oder -Elemente werden als solche klar akzentuiert – wie zum Beispiel die Bereitstellung und Aufnahme des Gift-Trankes. Oder: Nachdem Adorno erkennt, wen er da in fast fataler Absicht zu töten gedachte, reicht er Boccanegra deutlich sichtbar seine Waffe, um seinerseits gerichtet zu werden – wozu es natürlich nicht kommt. Das dramaturgische Prinzip der Irrungen, Wirrungen und (vorgeblich) unvorhersehbaren Wendungen, welches die italienische Oper, zumindest viele Werke Verdis, soweit ich sie kenne, bestimmt, ist meine Sache nicht – diese Umsetzung durch Guth und sein Team aber sehr wohl.

Musikalisch gesehen war der Abend für mich eher ambivalent. Ich genoss große gesangliche Qualität, gleichzeitig aber überraschend wenig emotionale Einbindung, insbesondere Rührung, was angesichts der nachhaltigen Erinnerung an meinen Erst-Boccanegra an gleicher Stätte in gleicher Inszenierung weder auf selbige, nimmt man zusätzlich den atemberaubenden Berliner Eindruck unter Barenboim als Gradmesser, noch auf das Stück selbst zurückzuführen ist. Ich möchte wetten, daß der banale Hauptgrund dafür meine Platzwahl darstellt. Man mag vom Balkon aus eine nette Aussicht haben, erkauft wird diese mit der weitgehenden Abnabelung vom Geschehen in puncto involvierende Lautstärke und szenische Unmittelbarkeit; ein dumpfer, unscharfer Gesamtklang komplettiert die Zutaten für ein lauwarmes Erleben.

Dabei konnte man sich heute insbesondere sängerisch ganz und gar nicht beschweren. John Tomlinson beeindruckte wie eh und je mit Ehrfurcht einflößendem, schwarzdröhnendem Bass (in Sachen Intonation drückt man bei solch einer Stimme gern mal ein Auge zu), das junge Paar stimmlich harmonisch und dynamisch ausgewogen (Memo an die Facebook-Nörgler: wer sich über Giuseppe Filianoti das Maul zerreißt, lebt entweder in der geschlossenen Abteilung des Caruso-Bergonzi-Wolkenkuckucksheims für ewig Gestrige oder ist über das allgemeine tenorale Niveau bundesdeutscher Bühnen nicht ganz im Bilde – klar, der Mann forciert vielleicht bei manchem Spitzenton, aber das ist mir angesichts seiner wunderbar timbrierten Stimme sowas von Wumpe!).

Den größten Eindruck hat neben der Hauptpartie wohl Robert Bork als Intrigant vom Dienst hinterlassen. Eine durchdringende Stimme, die die ganze zerknirschte Härte, das kalte Gift dieses im seinem Stolz verletzten Meuchel-Beamten transportierte. Bliebe noch Boccanegra selbst, beziehungsweise sein Verkörperer, George Gagnidze. Herrliche Stimme, tragfähig, rund, fast schon mild, besonders für die zarten und leisen Momente der Partie geeignet. Trotzdem auch hier: wenig wirklich Berührendes – wie gesagt, dem Sänger laste ich dies weit weniger an als meiner Buchung.

Eines jedoch wurde mir unmissverständlich klar: Auch eine starke Regiearbeit wie diese wird erst durch einen großen Sängerdarsteller, wie ich ihn in Franz Grundheber erleben durfte, zu etwas Unvergesslichem. Als ich ihn 2007 als Boccanegra sah, führte ich diese kleinen Berichte noch nicht in ihrer heutigen (digitalen) Form, im Zuge der wunderbaren Erfahrung eines Sängersalons 2013 habe ich nachträglich versucht, sein darstellerisches Ausnahmetalent anhand einer einzelnen Szene, des Todes Boccanegras, zu fassen (Link).

Gagnidze ist ein sehr guter Boccanegra – Grundheber ist (für mich) Boccanegra. Ähnlich, wenn auch auf eine ganz andere Art, geht es mir durch das Berlin-Gastspiel mit Domingo. Der eine singt den Dogen wohl nicht mehr, der andere schon. Vielleicht ergibt es sich ja noch einmal, daß der alte Korsar in für mich schiffbaren Gewässern segelt. Ich werde weiter aufs Meer schauen.


Giuseppe Verdi – Simon Boccanegra
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Claus Guth
Bühnenbild und Kostüme – Christian Schmidt
Licht – Wolfgang Göbbel
Chor – Eberhard Friedrich
Spielleitung – Wolfgang Bücker

Simon Boccanegra – George Gagnidze
Jacopo Fiesco – John Tomlinson
Paolo Albiani – Robert Bork
Pietro – Alin Anca
Amelia Grimaldi – Barbara Frittoli
Gabriele Adorno – Giuseppe Filianoti
Un Capitano dei Balestieri – Daniel Todd
Un Ancella di Amelia – Anat Edri
Boccanegra-Doubles – Sebastian Faust, Valeri Engel Maria – Britta Siebels

Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmoniker Hamburg