28. Juni 2015

Gespräche der Karmeliterinnen – Werner Seitzer.
Stadttheater Hildesheim.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 110



In der (nebenbei bemerkt vorbildlich inhaltsvollen) Einführung wurde angesprochen, daß ein derart aufwändiges Werk eigentlich eine Nummer zu groß für ein kleines Haus wie dieses sei. Nach dem, was ich hier und heute erlebt habe, kann ich dem Theater für Niedersachen nur inständig dazu raten, sich unbedingt weiter und möglichst oft in dieser Form zu übernehmen. Poulencs Karmeliterinnen mögen nach den theoretischen Anforderungen an Ensemble und Umfang an größeren Häusern besser aufgehoben sein, besser umgesetzt kann ich sie mir an selbigen jedoch nicht denken. Und das in wirklich jeder Beziehung:

Das Orchester unter der ungeheuer differenzierten, ja märchenhaft subtilen Leitung Werner Seitzers verströmt einen Klang, der insbesondere die zarten, betörenden Passagen der Partitur geradezu vorbildhaft umsetzt, wozu die ohrenscheinlich fabelhafte Akustik des Saals ihren Teil beiträgt. Feines klingt hier fein und nie dünn oder trocken, das mitunter leicht Süßliche bei Poulenc nie abgeschmackt, sondern von erlesenstem Parfüm. Die nervöse Angst Blanches, ihr entrücktes Wesen, dem gegenübergestellt Constances Unbeschwertheit; die kontemplative Welt der Ordensfrauen, schroff kontrastiert durch die martialisch skandierende Musik der Revolution – die Karmeliterinnen warten, wenn auch wohl dosiert, mit extremen Stimmungen auf, die ich in Hildesheim in Vollendung miterleben durfte. Gestus, Klangfarben – hier stimmt einfach alles. Meinen tiefen Respekt an diese Orchesterbehandlung und die ausführenden Musiker.

Aber dabei bleibt es ja nicht. Was für eine Besetzung! Wie selten, ketzerisch gesagt, wie unwahrscheinlich ist doch der Fall, daß man mit einem Ensemble rundum zufrieden ist, noch dazu bei einem an Protagonistinnen nicht eben schmal ausgestatteten Werk wie diesem. Hier in der sogenannten „Provinz“ tritt das Unwahrscheinliche ein – und wie! Ich könnte nicht eine Nebenrolle nennen, die für sich und im Zusammenhang betrachtet einen schwachen oder zu vernachlässigenden Auftritt gehabt hätte, im Gegenteil. Ob ich beispielhaft Konstantinos Klironomos nehme, dessen warm timbrierter Tenor voller Einfühlungsvermögen und Schmelz in Poulencs Partitur handlungsbedingt fast ein wenig zu selten zu hören ist, oder eine noch kleinere Rolle wie den Beichtvater, bei dem Jan Kristof Schliep mit vorbildlicher Textverständlichkeit und schmerzlich ambivalenter Charakterzeichnung überzeugt, oder bei den Nonnen Neele Kramer als Mère Marie, deren resolutes, dann eiferndes Wesen sie ebenso glaubhaft wie stimmgewaltig umsetzt wie den Moment der Erkenntnis des eigenen Versagens im Ton der Verzweiflung – gerade die kleineren Partien sind es, die den starken Gesamteindruck vervollkommnen.

Von den Hauptpartien ganz zu schweigen. Aber anstelle in Begeisterung zu verstummen, gilt es Qualität beim Namen zu nennen: Christiane Oertels darstellerisches Talent durfte ich bereits einige Male bewundern, unter anderem ebenfalls als alte Priorin in der Umsetzung dieses Werkes an der Komischen Oper. Damals wie heute zeichnet sie eine besondere Intensität der Verkörperung dieser Figur aus, eine ehrwürdige Härte an der Schwelle zur Verbitterung, die der Todeskampf schließlich in der offenen Anklage Gottes kollabieren läßt. Eine Meisterleistung Oertels, in der prophetischen Schreckensvision kulminierend.

Oder nehmen wir ihre Nachfolgerin, die neue Priorin, deren anfangs gestelzt bemühtes, oberlehrerhaftes, im weiteren Verlauf jedoch immer besonnenes und im besten Sinne leitendes Auftreten einen spannenden Gegenpol zum Fanatismus (oder doch im dogmatischen Sinne vorbildhaften Standfestigkeit?) Maries bildet – in Stimme und Spiel ideal gestaltet durch Frau Bringmann. In einer Reihe von starken Momenten ist ihr stärkster wohl der anrührende, tief empfundene Gesang der Szene im Gefängnis, durch den sie die in Verzweiflung kauernden Nonnen um sie herum physisch wie seelisch wieder aufrichtet.

Aber es geht hier nicht allein um große darstellerische Momente, sondern eben auch durch die Bank um musikalische Qualität, um schöne Stimmen. Stellvertretend sei hierfür abschließend das Gegensatzpaar Constance und Blanche etwas eingehender beleuchtet. Martina Nawrath und Antonia Radneva kann man wohl als eine Idealbesetzung der beiden Partien bezeichnen. Die eine mit kristallklarem, makellos-frisch-jugendlichem Sopran, der Constanzes ursprüngliche, unbeschwerte Art und ihren sich daraus speisenden reinen, unbeirrbaren Glauben beeindruckend lebendig und klangschön verkörperte, die andere in der Rolle der angstdurchsetzten, fast schon irreal fragilen Blanche, für die sie genau die richtige, ungemein zarte, mit leichter Mezzofärbung betörend anrührende Stimme mitbrachte. Das Konzept dieser beiden Rollen, anfangs basierend auf dem Reiz des scheinbar Unvereinbaren, schließlich in der Erkenntnis des verbindenden Elements vollendet, fand in den beiden Sängerinnen optimale Vertreter.

Und dann wäre da ja noch diese Inszenierung. Eike Gramss und sein Team machen hier alles, aber auch wirklich alles richtig. Die trichterförmige Grundstruktur des Bühnenbildes ist einerseits akustisch vorteilhaft und schafft andererseits durch eine Vielzahl von äußerst variabel kombinierbaren Wanddurchbrüchen für die stetigen Bildwechsel die Illusion verschiedenster Räumlichkeiten von der kargen, dunklen Einzelzelle im Kloster zum lichtdurchfluteten Gemeinschaftsraum. Wenige sorgsam platzierte Möbel und Requisiten (Den Globus aus dem Anwesen des Marquis sehen wir am Ende der Oper zerbrochen in Blanches Händen – Symbol für eine ganze Welt in Trümmern) tun ihr übriges.

Wobei die wohl mit Abstand wichtigste Zutat für einen starken optischen Gesamteindruck und eindringliche Bilder der konsequente Einsatz von Licht darstellt. Goldgelbe Strahlen, die seitlich durch Fensterfronten fluten, Interieur und Gesichter plastisch akzentuieren, starke Hell-Dunkel Kontraste mit langen Schatten, so manchem Bild wohnt ohne Übertreibung die Suggestivkraft Rembrandt’scher Gemälde inne. Interessant hier vor allem der Kontrast zwischen dem warmen Licht, das im ersten Teil der Handlung vorherrscht und der ungleich kälteren, fahlen Stimmung, die im späteren Verlauf beispielsweise in der Kerkerszene oder beim finalen Gang zum Schafott gesetzt wird.

Ein weiterer Baustein dieser stimmigen Produktion ist ihr Realismus. Sicher, das hat auch etwas mit Maske und Kostümen zu tun, die ihrerseits viel zum authentischen Ganzen beitragen, weiter gefasst geht es aber bereits hier um Belange einer Personenregie, die das Leben mitfühlbar abbildet. Der (Arbeits-)Alltag der Nonnen, ihre Gartenpflege, kurz unterbrochen durch den Seitenblick bei Blanches Ankunft, die Gebete, die Szene der Totenwache oder die gemeinschaftliche Handarbeit – alles Beispiele für das umsichtige Etablieren eines Realismus, der die titelgebenden Gespräche der Karmeliterinnen geschickt verbindet, gerade in jenem alltäglichen Gefüge aber eine persönliche, dringliche Note verleiht. Ebenso unspektakulär wie wirksam vielleicht die erste intensive Unterhaltung zwischen Blanche und Constance, bei der diese parallel der Hausarbeit nachgeht.

Der besondere Effekt, den diese Herangehensweise zudem mit sich bringt, liegt in dem Kontrast, der sich aus der abgeschotteten, reguliert-ritualisierten Welt des Klosters und dem Furor des Revolutions-Terrors ergibt, der in selbige auf ebenfalls authentische, jedoch ungleich lautere und brutalere Weise einfällt. Wo es Umsturz gibt, da gibt es Nutznießer – Gesinnung hin oder her – auch das kommt in dieser Regie deutlich zum Tragen. Die Plünderung des Klosters durch ehemals sicher lammfrommes Volk setzt in dieser Beziehung den Gipfel tumber Aggression und Vorteilsnahme.

Umso erschütternder dann der menschenverachtende Text des Revolutionsführers St. Just, der nach der Inhaftierung der Nonnen vor geschlossenem Vorhang verlesen wird. Hier lässt sich noch einmal gewissermaßen aus erster Hand der ganze in kalter Abstraktion gedachte pseudophilosophische Überbau einer Bewegung erfahren, die wahrscheinlich in bester Absicht gestartet zur Perversion ihrer eigenen Bestrebungen auswuchs. Befremdlich, wie der Blut- und Reinigungstenor dieser Rede doch dem so vieler anderer Pläne zum Wohle eines neuen Menschseins ähnelt, ganz gleich, ob nun Volk, Rasse oder wer auch immer sonst bemüht wird.

Bei all dem Leid und der Verzweiflung, die die letzten Episoden der Oper bestimmen, entschließt sich die Regie jedoch das starke Bild des Zusammenhalts der Frauen bis in den Tod mit einem versöhnlichen, hoffnungsvollen Blick abzuschließen. Es obliegt wiederum dem Licht, dieser Hoffnung Ausdruck zu verleihen, indem es mit ihr, in gegenläufiger Bewegung zum fallenden Vorhang zentral aufsteigend, die Bühne zu den letzten Klängen warm durchflutet. Ein Bild, das mehr von Menschlichkeit und Menschsein weiß, als all die vermeintlich großen Gedanken der Pamphlete der Geschichte.


Francis Poulenc – Gespräche der Karmeliterinnen
Musikalische Leitung – Werner Seitzer
Inszenierung – Eike Gramss
Bühne und Kostüme – Philippe Miesch

Marquis de la Force – Levente György
Blanche, seine Tochter – Antonia Radneva
Der Chevalier, ihr Bruder – Konstantinos Klironomos
Madame de Croissy, Priorin des Klosters – Christiane Oertel
Madame Lidoine, die neue Priorin – Isabell Bringmann
Mère Marie, Subpriorin – Neele Kramer
Sœur Constance, eine sehr junge Novizin – Martina Nawrath
Mère Jeanne, Klosterälteste – Karin Schibli
Sœur Mathilde –Tanja Westphal
Der Beichtvater des Klosters – Jan Kristof Schliep
Erster Kommissar – Daniel Käsmann
Zweiter Kommissar – Stephan Freiberger
Erster Offizier – Peter Kubik
Der Kerkermeister / Rede St. Just – Peter Frank
Thierry, Diener im Haus des Marquis – Piet Bruninx
Javelinot, ein Arzt – Michael Farbacher

Opernchor und Extrachor des TfN
Orchester des TfN