9. Juli 2015

The Turn of the Screw – Zsolt Hamar.
Staatstheater Wiesbaden.

19:30 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 14



„Wenn es schön wird, fress ich nen Besen!“ – Das ist genau die Art bedingungslose Aufgeschlossenheit, die den Zauber der Musik im Herzen zur Entfaltung kommen läßt! ... „Naja, es ist ein ganz neues Werk, es wurde erst vor kurzem uraufgeführt.“ – In Reihe drei hat man Nachsicht mit der Moderne, gut, es geht sicher vielen der Anwesenden so, als wären die Fünfziger erst gestern gewesen. ... „Du, wir gehen in der Pause – es sei denn, es ist schön.“ – Genau! Verpisst euch! Schön mich am Arsch!

Der heutige Abend stand, sagen mir mal, atmosphärisch, unter keinem ganz günstigen Stern. Das Staatstheater Wiesbaden hatte zur letzten Drehung der Schraube in dieser Spielzeit geladen – und Dumm und Dümmer folgten dem Ruf. Eigentlich war alles dabei, was man als Konzentrationswilliger so gar nicht gebrauchen kann. Die Zuspätkommer, die Laberfritzen, die Tütenknisterer und Bonbonraschler, Krupphustler, gackernde Teenies, und zu guter Letzt ein ebenso seltenes wie nervtötendes Exemplar – die Ledertaschenwürgerin. Sicher schlimm, wenn man seine Flossen nicht mehr ruhig halten kann, aber dann soll sie halt einen Knautschball oder ihren Steiff-Teddy aus alten Tagen drangsalieren – das permanente Geräusch von quietschendem Leder macht sich in etwa so gut wie lange Fingernägel auf einer Kreidetafel.

Man könnte nun mit einer gewissen Häme von Glück im Unglück sprechen, daß heute auch auf der Bühne nicht viel zu holen war. Als Hauptmanko dabei erwies sich die in der Einführung vollmundig angepriesene Regiearbeit Robert Carsens. Die Inszenierung gibt sich hochästhetisch, zeichnet sich jedoch in erster Linie durch gepflegte Langeweile, biederen Realismus und Video-Versatzstücke aus, die in entscheidenden Momenten Chancen für Kulminationspunkte vergeben. Gleich nach dem hölzern vorgetragenen (Thomas Piffka sollte sich auch im Folgenden nicht als Britten-Tenor erweisen), von Schwarzweißaufnahmen begleiteten Prolog im Stile einer Vorlesung nimmt das Elend seinen Lauf, indem es Carsen vorzieht, die Gedanken der Gouvernante während ihrer Anreise komplett als Film umzusetzen, statt der Protagonistin mehr als Gesang aus dem Off abzuverlangen.

Ich will gar nicht sagen, daß das generell eine dumme Idee ist, obwohl ich schon sagen muss, daß in diesem konkreten Fall Musik und Gesang zur bloßen Untermalung eines Opernkurzfilms verkamen, viel entscheidender ist jedoch die Qualität des Filmes an sich, bzw. vielmehr der in Großaufnahme gezeigten Emotionen der Darstellerin. Carsen und/oder seine Filmleute verstehen technisch ihr Handwerk, das Filmchen sieht gut aus und wartet mit „professionellen“ Einstellungen und Schnitten auf – allein was nützt es, wenn Claudia Rohrbachs Minenspiel irgendwo zwischen Karikatur und Miss Marple-Handwerk anzusiedeln ist. Schade auch, daß sich diese Form des Overactings bei ihr die gesamte Handlung hindurch nicht legte. Da habe ich die Gouvernanten in Bremen (Link) und Düsseldorf (Link) doch auf deutlich subtilere Art dem Wahn verfallen sehen.

Kommen wir auf den angesprochenen Realismus zurück. Daß Realismus oder Naturalismus für mich keine Schimpfworte sind, sollte in meiner Eloge für die Hildesheimer Umsetzung der Karmeliterinnen (link) deutlich geworden sein. Hier wird jedoch wieder einmal die alte Binsenweisheit offenkundig, demzufolge sich das Einfache mitunter als das Schwerste herausstellt. Die Figuren haben hier nicht viel zu tun, als der Handlung gemäß dem Libretto zu folgen, und das tun sie so gut oder schlecht sie eben Kraft mehr oder weniger vorhandenen schauspielerischen Talents im Stande sind. Bei ausgewiesenen Sängerdarstellern mag das reichen, heute in Wiesbaden wurde eigentlich niemand so recht der intimen Intensität dieses Kammerspiels gerecht.

Ein weiterer, daraus resultierender Umstand lag darin, daß die Geschehnisse enorm von ihrer mysteriösen, ambivalenten Stimmung einbüßten und teilweise erschreckend banal daher kamen. Dabei steckt darin doch ungleich mehr als eine öde Spukgeschichte. Bei Carsen sind Szenen à la Hui Buh das Schlossgespenst an der Tagesordnung. Einfach nur unfreiwillig komisch beispielsweise die Versuche der Gouvernante, Mrs. Groose die in bester Schlotterstein-Tradition mit Kerze am Fenster vorbeigruselnde Ms. Jessel zu zeigen, die sich aber jedesmal in letzter Sekunde den Blicken der Alten entzieht, die dadurch ziemlich vertrottelt rüber kommt. Sollte es nicht vielmehr darum gehen, dass sie entweder noch nicht den Involvierungsgrad der Gouvernante erreicht hat oder schlichtweg nichts sehen will? Egal.

Im Gegensatz zu all dem braven und biederen Mummenschanz (Bei dem übrigens zumindest die Technik halbwegs mitspielen sollte – Der „Effekt“, bei dem Quint Miles Bett im Abstand von zwei, drei Metern „wie von Geisterhand“ vor sich her schiebt, gehört in seiner ruckelnden, timingbefreiten Amateurhaftigkeit in eine Geisterbahn, nicht auf die Theaterbühne) gibt sich Carsen bei der nächtlichen Heimsuchung der Kinder dann (Möchtegern-)provokant. In der verschwurbelten, das Traumhafte verbildlichen wollenden aber verfehlenden Videosequenz werden Miles und Flora (erneut?) Zeuge des Beischlafs von Quint und Ms. Jessel. Auch hier gilt: Der wirkliche Horror speist sich ungleich stärker aus Andeutungen und den Wegen der eigenen Ahnungen als aus ein bisschen nackter Haut. Einzig starker Carsen-Moment in zwei Stunden: Der flüchtige Versuch Miles, die Gouvernante bei der Unterredung auf der Bettkante zu küssen – dies allein hätte (ohne die vorangehende Peepshow) viel radikaler die Frage gestellt, was sich zwischen den Kindern und den verschiedenen „Verführern“ wohl in diesem Haus abgespielt haben mag.

Dieses Werk muß einfach in der Schwebe gehalten werden, das Konkrete ist der Tod dieser Oper! Aber geschenkt, vielleicht hätte ich schon bei dem Stichwort „Opernkrimi“ aus der Einführung das Weite suchen sollen. Nun denn, ich wäre um eine durchweg gute Orchesterleistung und das sehr engagierte Dirigat des Herrn Hamar gebracht worden. Für die Sänger muß niemand nach Wiesbaden fahren. Herr Piffka blaß und erschreckend undämonisch, Frau Lambourn zwar optisch eine Idealbesetzung für die sich erotisch verzehrende Ms. Jessel, aber stimmlich, so hart das auch sein mag, ein wahrer Abtörner. Frau Rohrbach als Gouvernante besitzt eine wirklich schöne Stimme, sie steht sich aber mit nicht immer sauberer Intonation und ihrem exaltierten Spiel (Große Augen! Hände am Revers festgewachsen! Schluchz!) selbst im Weg. Yorick Ebert gibt einen guten Miles, obgleich mir – auch wenn das vielleicht seltsam klingt – seine Stimme fast schon zu alt bzw. reif erschien. So fehlte dem schmerzhaft traurigen „Malo“ Gesang die letzte Prise Unschuld. Helen Donath überzeugte mit überraschend frischer Stimme, die Gewinnerin des Abend war für mich aber Stella An als Flora – schon in so jungen Jahren solch ein samtenes Timbre bei absoluter Präsenz, das lässt hoffen!

Fazit: Herr Carson sollte lieber einen Opernfilm machen, nicht inszenieren. Ohne Ideen wird es auf der Bühne schwierig. Die Wiesbadener spendeten freundlichen Applaus, die Mitwirkenden wurden gar mit manchem Bravo bedacht, wobei am Ende schon deutlich wurde, daß der zu feiernde Geburtstag von Frau Donath schon eher ein Ereignis nach dem Geschmack des Publikums war als so ein „unbekanntes“, „modernes“ Werk aus dem nebligen Britannien.


Benjamin Britten – The Turn of the Screw
Musikalische Leitung – Zsolt Hamar
Inszenierung – Robert Carsen
Spielleitung – Maria Lamont
Bühne und Kostüme – Robert Carsen, Luis Carvalho
Licht – Robert Carsen, Peter van Praet
Video – Finn Ross
Associated Video Designer – Leo Flint
Dramaturgie – Ian Burton

Prolog / Peter Quint – Thomas Piffka
Gouvernante – Claudia Rohrbach
Mrs. Groose – Helen Donath
Miss Jessel – Victoria Lambourn
Flora – Stella An
Miles – Yorick Ebert

Hessisches Staatsorchester Wiesbaden