19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 70
Da dachte ich: Wo Du grad in der Gegend bist, fährste mal nach Darmstadt und schaust Dir endlich einen Freischütz an. Tja, leider wird diese peinliche Bildungslücke in meiner Vita vorerst weiter bestehen, da Frau Höckmayr in Darmstadt nicht Willens war, einen Freischütz auf die Bühne zu bringen. Oder sagen wir mal mehr als ein Stück Therapietheater frei nach Webers Freischütz. Ziemlich schade das, steht doch die musikalische Güte dieses Abends vollkommen außer Frage. Blöd nur, wenn man dem Werk und seiner Musik offenbar nicht vertraut und lieber sein eigenes Süppchen kochen möchte. Oder vielmehr ein Psycho-Gulasch aus dem Freischütz Kinds und Webers und der Vorlage von Apel.
Klar kann ich verstehen, daß man nach der x-ten, in braver Repertoirepflege gegossenen Freikugel mal eine neue Legierung probieren möchte – nur sollte diese dann auch treffen. Man kann ja gern hübsch artig seine Sekundärliteratur wälzen und schlaue Dinge über Werk und Entstehung ausgraben, welchem ernsthaften Musikfreund machte dies keinen Spaß. Als Regisseur sollte man allerdings, so schwer dies auch fallen mag, die Freude über seine spannenden Entdeckungen im Interesse aller Beteiligten tunlichst kanalisieren und nicht dazu verwenden, den eigentlichen Gegenstand der Betrachtungen bis zur Unkenntlichkeit zuzustellen. Es ist nämlich kein Geheimnis, daß Ließchen Müller eh nichts davon durchholt und selbst interpretationszugängliche Zeitgenossen im Zweifel die Oper sehen wollen, die auf dem Ticket ausgewiesen steht. Aber vielleicht bin ich als Freischütz-Jungfrau ja auch auf dem Holzweg.
Ist die Dramaturgie von Kind tatsächlich so mies, daß es all dies Soundbrimborium, das Atmogesäusel aus David Lynchs Papierkorb und die bedeutungsschwangeren „Textcollagen“ braucht? Ist ja schön und gut, daß die Vorlage ein anders, offenkundig diffuseres Licht auf die handelnden Personen wirft, aber könnte es nicht sein, daß Weber und Kind sich etwas bei ihrer Einrichtung für die Bühne gedacht haben? Was ist so falsch daran, mit einer klaren Gut/Böse-Konstellation zu arbeiten – ungeachtet der Erkenntnis, daß es sich dabei um zwei mehr ersehnte und verwünschte als in der Realität eindeutig trennbar anzutreffende Zustände handelt?
Die verwirrende, durch permanente, fragmentarische Vermischung der verschiedenen Textquellen und -Ebenen evozierte (Pseudo-)Ambivalenz, die dem Stück durch die Regie übergestülpt wurde, führt weniger zu der wohl beabsichtigten differenzierteren Seelenschau, sondern unterbindet in erster Linie den Fluß der Handlung, ja verschleiert diese regelrecht und weicht insbesondere den inneren Konflikt des Bräutigams in spe sogar auf. Ok, Max ist also nicht allein die von Selbstzweifeln geplagte gute Seele, sondern ein ziemlicher Waschlappen, der immerzu Stimmen hört und auch sonst seinem Gebaren nach besser von Schusswaffen ferngehalten werden sollte. Ach komm, geben wir noch einen obendrauf – machen wir einen Kriegsverbrecher aus ihm!
Die arme Agathe, obwohl, so richtig rund läuft das Mädel auch nicht, fragt in bester „Wir müssen mal drüber reden“-Beziehungsdrama-Peinlichkeit, wiederholt ob sie Max gefällt und scheint angesichts ihrer psychischen Konstitution auch eher der Zwangsjacke als dem Brautkleid zuzustreben. Ein schönes Paar! Aber eigentlich hat hier eh niemand alle Latten am Jägerzaun, zumindest suggeriert das die verworrene, schubweise „Erzählweise“. Da möchte man sich beinahe auf die Seite Kaspars schlagen, damit es endlich ein Ende mit dem Genöle des Psychopärchens hat.
Dem Carsen in Wiesbaden hatte ich ja nahegelegt, lieber Opernfilme zu drehen, vielleicht sollte es Frau Höckmayr mit Hörspielen versuchen. Freischütz, das Hörbuch, oder: Was Sie sich schon immer nie über dieses Werk gefragt haben – hier wird es ausgesprochen. Und das gleich mehrfach! Monologisiert wird wirklich viel, gern auch da, wo man vielleicht besser mal etwas altmodischen Bühnenzauber bemüht hätte – die Wolfsschluchtszene ist der Gipfelpunkt dieser Offtext-Orgie. Was gibt es spannenderes auf einer Opernbühne, als eine unglaublich atmosphärische, stimmungsvolle Szene einfach nur erzählt zu bekommen, eben so ganz OHNE Atmosphäre und Stimmung! Wie gesagt, nicht mal gesungen, nein, in dröger Litanei ins Auditorium geraunt, gewissermaßen als innerer Film Agathes, die ihrem Schatzi (gedanklich) als Stalker beim Freikugelritual nachsteigt, das in etwa so fesselnd ausfällt wie Bleigießen zu Sylvester. Schade um Webers im doppelten Sinne fantastische Musik, über die brutal hinweggelabert wird.
Die Musik, ach ja, da war ja was – wir befinden uns ja nach wie vor in einer, wie ich mir habe sagen lassen, recht bekannten und beliebten Oper. Zumindest sind mir die musikalischen Gründe für diese ungebrochene Beliebtheit trotz aller Sabotageversuche durch die Regie nicht verborgen geblieben. Oder anders ausgedrückt: Das Staatstheater Darmstadt hat es durchaus drauf! Wohlige Klänge entsteigen bereits mit der wunderbar kontrastreich vorgetragenen Ouvertüre dem Orchestergraben, Klangkörper, Dirigat und Akustik befinden sich auf hohem Niveau, das ist sofort klar. Auch im Folgenden steht das musikalische Vermögen turmhoch über der szenischen Umsetzung.
Diese Diskrepanz wird an den Sängern, die in diesem kleinen Fernsehspiel für Arme agieren müssen, auf besonders tragische Weise deutlich. So unsympathisch jammerlappig Mark Adler auch in seiner Rolle wirkt, so ungetrübt ist sein musikalischer Beitrag. Susanne Serfling gibt stimmlich eine wundervolle Agathe, gerade intime Szenen wie das bekannte „Leise, leise ...“, das ich heute ebenfalls zum ersten Mal hörte, wurden zu stillen Triumphen des Abends. Frau Serflings Stimme besitzt nicht allein eine schöne, warme Färbung, sondern bringt genau die innige Pianoqualität mit, die den Zuhörer berührt. Auch die anderen Ensemblemitglieder hätte ich gern in einer vernünftigen Produktion kennengelernt, so bleibt letztendlich nur die Ahnung von Größe in kleinlichem Gewande.
Fazit: Trotz aller dramaturgischen Entstellungen macht diese Musik Lust auf mehr. Mehr Weber, mehr Freischütz, mehr Musiktheater!
Carl Maria von Weber – Der Freischütz
Musikalische Leitung – Marc Piollet
Inszenierung – Eva Maria Höckmayr
Bühne und Kostüm – Julia Rösler
Video und Komposition – Martin Baumgartner
Dramaturgie – Mark Schachtsiek
Einstudierung Chor – Thomas Eitler-de Lind
Einstudierung Kinderchor – Ines Kaun
Der Ahnherr (Ottokar) – David Pichlmaier
Kuno, kurfürstlicher Erbförster – Thomas Mehnert
Agathe, seine Tochter – Susanne Serfling
Ännchen, eine junge Verwandte – Jana Baumeister
Kaspar, erster Jägerbursche – Renatus Mészár
Max, zweiter Jägerbursche – Mark Adler
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Samiel) – Andreas Wellano
Die Autorität im Dorf (Akt I und II – Eremit) – Stefan Bootz
Kilian, ein reicher Bauer – Andreas Wagner
Brautjungfern – Kinderchor des Staatstheaters Darmstadt (Julia Degenhardt, Thekla Gerspach, Amelie Gorzellik, Lea Hammerschmidt, Emilie Heinz, Iris Kißner, Kara Saliger, Elisabeth Schäffter, Violetta Schreider, Larissa Seibel, Marie-Luise Stephan, Meike Suszka)
Erster fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Malte Godglück
Zweiter fürstlicher Jäger, Sprechrolle – Tom Schmidt
Ein Freund Kunos – Horst Rosenfeld
Opernchor des Staatstheaters Darmstadt
Statisterie des Staatstheaters Darmstadt
Staatsorchester Darmstadt