24. Juni 2012

West Side Story – Ju Hyun Jeong.
Landestheater Coburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 10


















Wird in Musicals eigentlich generell so viel gelabert? Also im Publikum meine ich ... auf der Bühne ist das ja ok ... Ne, anfangs war der Geräuschpegel, der von den Nichtmitwirkenden ausging, schon unerträglich. Da herrscht im Kino während des Werbeblocks mehr Aufmerksamkeit als beim Erklingen der wunderbaren Ouvertüre. Aber das Orchester gibt ordentlich Stoff, insbesondere das Blech darf sich mal so richtig austoben. Da muß man als geneigter Ignorant den Nebensitzer regelrecht anschreien, um den Kaffeeklatsch aufrecht zu halten. Nun denn, mit Beginn der Handlung stellte man diese Unart glücklicherweise (weitgehend) ab.

Bleiben wir gleich beim Orchester. Ju Hyun Jeong gewinnt den bekannten Klängen mit seinen Musikern eine knackig-herbe, im positiven Sinne schroffe, gleichsam unverkitschte Lesart ab, die vor allem die Urgewalt der Rhythmen betont, ohne jedoch an entsprechender Stelle Intimität und Wohllaut einzubüßen. In jedem Fall ist gewaltig Dampf auf dem Kessel, alles strotzt vor Vitalität, darüber hinaus schwingt eine gute Portion Aggressivität mit – eine Herangehensweise, die dem wenig verklärungswürdigen Konflikt der Banden und somit dem Faktor Realität sinnvoll Rechnung trägt.

Bernsteins Musik tritt unter dieser Behandlung, vielleicht mehr noch als sonst, als Hauptkraft in Erscheinung, schafft für jede Seite einen unverwechselbaren Kosmos. Vom schroffen Skandieren der Jets-Musik zum berstenden Überschwang der Latino-Gegenwelt gelingt den Coburgern heute alles in bemerkenswerter Intensität. Wobei sich diese Energie zu gleichen Teilen auch aus dem vorzüglichen Ensemble speist. Hierbei überzeugt vor allem das Zusammenspiel der Vertreter unterschiedlicher Darsteller-Gewerke. Je nach Anforderung füllen Opernsänger, Musicaldarsteller, Schauspieler und Tänzer die Rollen aus, was nicht nur den musikalischen, sondern vor allem auch den szenischen Belangen zu Gute kommt. Die akustische Verstärkung – auch beim Singen – war anfangs etwas gewöhnungsbedürftig für mich, ist aber wohl Musical-Usus.

Das Darstellerische ist enorm wichtig für die Glaubwürdigkeit des Ganzen und wird größtenteils sehr gut gemeistert. Auf der Opernbühne gern und mit unbelehrbarem Peinlichkeitsgespür eingesetzte „Jugendgesten“, wie Abklatschen oder den Stinkefinger zeigen, wirken hier tatsächlich einmal aus dem Leben und nicht einfach nur danebengegriffen. Die Körperlichkeit der Gangs, die Ausgelassenheit im Tanz – das alles kommt so selbstverständlich und ungekünstelt daher, daß man über die bemühten Kulturstereotypen hinaus ganz leicht den Zugang zur individuellen Tragödie findet. Die Inszenierung schafft dabei einen bemerkenswerten Spagat zwischen (Theater-)Kunst-Welt und authentischem Drama. In einigen Punkten scheint die Regie zudem auf eine Verdeutlichung der Konflikte durch Verschärfung abzuzielen.

So wird Officer Krupke während ihres beschwingten Liedchens über soziale Mißstände von den Jets nicht nur aufs Übelste zugerichtet, sondern am Ende mit Freuden erschossen. Der frech-ironische Ton der Äußerungen (an dieser Stelle wird bewußt auf die Originalsprache verzichtet) verzerrt sich in Sadismus und blanke Menschenverachtung. Die Beinahe-Vergewaltigung der Anita ist ein weiteres Beispiel für den Ansatz der Regie, den gewalttätigen Ernst eines Stückes zu transportieren, das häufig nur als gefälliges Folklore-Allerlei mit Hitgarantie herhalten muß. Daß es seinen Machern einmal um mehr gegangen sein mag, wurde heute in vielen eindringlichen Momenten in Erinnerung gerufen. Der hinzugefügte Selbstmord Marias am Schluß geht dann noch einen Schritt weiter und erstickt auch den letzten Funken Versöhnungshoffnung.

Neben guten Darstellern wartet das Landestheater auch mit starken Stimmen auf. Die Partien der Maria und des Tony bündeln naturgemäß das Hauptinteresse und erhalten mit Marie Smolka und Christian Alexander Müller nicht nur szenisch sondern auch stimmlich vortreffliche Repräsentanten. Beide Sänger verfügen insbesondere über jenes Feingefühl, das bei der Gestaltung gerade der leisen, sinnlichen Augenblicke unabdingbar ist. Qualitativ zum Triumvirat komplettiert werden die beiden durch Ulrike Barz, deren Anita feuriger kaum zu denken ist.

Noch einmal zurück zum Stück selbst. Mit dieser persönlichen Musicalpremiere habe ich es erwartungsgemäß sehr gut getroffen. Die Partitur hält eine derartige Fülle unkaputtbarer Klassiker bereit, daß es einem beinahe unheimlich wird. Als Höhepunkt des ersten Aktes empfand ich das Duett zwischen Tony und Maria, im zweiten Akt ging von Marias Liebesappell und ihrem anschließenden Duett mit Anita eine unglaubliche Wirkung aus. Schon kein ganz Schlechter, der Lenny. Läßt der Gute tatsächlich eine Celesta beim ersten Zusammentreffen der Liebenden erklingen? Er befände sich damit schließlich in guter Gesellschaft. Der Song „Somewhere“ – eine Art Mischung aus Harold Arlen und Aaron Copland – scheint in seinem hymnischen Pathos den Amerikanischen Traum beschwören zu wollen, oder in diesem Fall eine Amerikanische Utopie. Das Finale, zumindest dieser Produktion, ist erstaunlich musikarm, das Drama behält gewissermaßen das letzte Wort.

So schließt meine Dreistädtetour also mit einem besonders gelungenen Abend – ein Urteil, bei dem ich das Coburger Publikum offenkundig auf meiner Seite wissen durfte, läßt man die überschwängliche, ehrliche Begeisterung meiner Saalgenossen für sich sprechen. Nach meiner ersten Operette vor zwei Tagen nun also Musical – wohin das noch führen mag? Am Ende landet man gar bei Kammermusik! Ich kann für nichts garantieren.


Leonard Bernstein – West Side Story
Musikalische Leitung – Ju Hyun Jeong
Inszenierung – Pascale Chevroton
Bühnenbild – Alexandra Burgstaller
Kostüme – Tanja Liebermann
Choreographie – Mark McClain
Dramaturgie – Susanne von Tobien

Jets
Tony, Gründer der Jets – Christian Alexander Müller
Riff, ihr Anführer – Benjamin Werth
Action – Vivian Frey
A-rab – Maximilian Widmann
Baby John – Jörn Ortmann
Snowboy – Philipp Georgopoulos
Diesel – Simon van Rensburg
Big Deal – Adrian Stock
Gee-Tar – Niko Ilias König
Mouthpiece – Takashi Yamamoto

Jets’ Girls
Velma – Jana Kristina Lobreyer
Anybody’s – Friederike Pasch
Graziella – Johanna Mertl / Paulina Mertl
Clarice – Emily Downs

Erwachsene
Doc – Thomas Straus
Leutenant Schrank – Helmut Jakobi
Officer Krupke – Boris Stark
Glad Hand – Boris Stark

Sharks
Bernardo, ihr Anführer – Thorsten Ritz
Chino, sein Freund – Frederik Leberle
Pepe – Marcello Mejia-Mejia
Indio – Po-Sheng Yeh
Louis – Marius Czochrowski
Anxious – Martin Trepl
Nibbles – Tae-Kwon Chu
Juano – Kostas Bafas

Sharks’ Girls
Maria, Bernardos Schwester – Marie Smolka
Anita, Bernardos Freundin – Ulrike Barz
Rosalia – Hayley Sugars
Consuela – Vanessa Atuh
Teresita – Anastasia Scheller
Francisca – Chih-Lin Chan
Estella – Eriko Ampuko
Marguerita – Miki Nakamura

Philharmonisches Orchester Landestheater Coburg

23. Juni 2012

Das Liebesverbot – Philippe Bach.
Theater Meiningen.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 1, Platz 11


















Das Meininger Theater ist wahrlich ein Kleinod. Malerisch gelegen am Großen Teich des Englischen Gartens, das Eingangsportal zur von klassizistischen Nachbarn reich gesäumten Straße gereckt, legt es imposantes Zeugnis von historisch gewachsener, aber bis heute spürbarer kultureller Strahlkraft ab. Außen wie innen erst kürzlich liebevoll saniert, rangiert es auf meiner imaginären Liste besonders schöner Theaterbauten auf einem der vorderen Plätze.

Doch was nützt die glanzvollste Hülle ohne entsprechenden Inhalt? Daß an diesem Ort solch ein Museumseffekt nicht zu befürchten ist, spürt man deutlich. Diverse angesetzte Premieren unterschiedlichster Richtungen, dazu ein ambitioniertes Wagner-Programm zum kommenden Jubiläumsjahr. Andreas Schager, der triumphale Rienzi-Einspringer an der Deutschen Oper Berlin, hatte zuvor an dieser Stätte bereits den Tribun verkörpert und wird auch im nächsten Jahr hier zu erleben sein.

Von Wagners Liebesverbot war mir bislang nur die schmissige Ouvertüre bekannt, die meiner Ansicht nach durchaus Ohrwurmpotential besitzt. Ob sich diese Einschätzung auf die gesamte Oper übertragen läßt, möchte ich nach erstmaliger Begegnung lieber offen lassen. Sicher gab es diverse musikalische Kostbarkeiten, insbesondere in Passagen der Ruhe, die insgesamt jedoch in einem naiv-lärmenden Ganzen unterzugehen drohten. Die ätherische Klosterszene mit den Glocken, die suggestive Überzeugung des Friedrich durch Isabella oder die düstere Arie des Friedrich allein in seinen Amtsgemächern sind Beispiele für musikalische Eindrücke, die hängen blieben – vieles andere rauschte nur so an mir vorbei.

Was sicher nicht aus der Darbietung zu begründen ist. Orchester und Ensemble führten wie schon beim gestrigen Eisenacher Gastspiel ohne nennenswerte Schwächen durch den Abend, einzig die Bühnenmusik am Schluß war meilenweit von der Taktgebung des Dirigenten entfernt – sofern die jungen Herren diesen überhaupt wahrgenommen haben. Äußerst direkt hingegen ereilte mich der Klang in Reihe 1, in der man gefühlt fast schon über den Musikern im Graben thront, auch die Distanz zur Bühne ist ungewöhnlich gering. Da bin ich wohl bei der Platzwahl ein wenig auf meine Hamburger Gewohnheiten reingefallen.

Von den Sängern möchte ich Dae-Hee Shin als profunden und stimmschönen Friedrich, Rodrigo Porras Garulo als schmelzstrahlenden Claudio und wiederum Camila Ribero-Souza – leider nur in einer kleinen Rolle – hervorheben, deren Arie auch heute das Maß der Dinge in Bezug auf Phrasierung und Ausdruck war. Vielleicht ist es etwas unfair, ihre Leistung mit der immensen Partie der Isabella-Sängerin zu vergleichen, dennoch möchte ich nicht verschweigen, daß jene im Laufe des Abends ungeachtet ihrer an sich schönen Stimme ein ums andere mal deutliche Intonationsprobleme vernehmen ließ. Generell kann man aber von einem sehr homogenen Ensemble sprechen, das auch szenisch zu überzeugen wußte – Bettine Kampp als leidenschaftliche Novizin und Stan Meus als verschlagener Pontio Pilato seien da nur als zwei Beispiele von vielen genannt.

Zur Inszenierung: Wieder mal ermöglichte die Umpflanzung der Handlung in die End-Weimarer Republik, mit dem beliebten Nazi-Aufreger aufzuwarten. In diesem Falle am Schluß in Form einer Braunhemden-Bühnenkapelle – wobei mich persönlich hier mehr die etwas konstruierte Happy-End-Sabotage als Rausschmeißer-Überraschung irritiert hat. Klar, kann man machen. Viel interessanter fand ich jedoch die generelle Einbettung der Geschichte in eine Zeit, in der es gärt. Vor diesem Hintergrund eine absolut plausible Wahl. Sehr beeindruckend übrigens der Einsatz der Drehbühne mit ihren Versenkungselementen, um verschiedenste Räume zu schaffen (Offener Platz, Tribünen, Gefängnis ...)

Was bleibt vom Erstkontakt mit dem Wagnerschen Frühwerk? Bereits hier fungiert die Frau als Erlöserfigur. Das Moment der Erotik, oder besser der Erotisierung, ist allgegenwärtig. Der Rienzi winkt hier und da am Horizont, das Musikdrama schlummert noch fest. Alles in allem kein musikalisches Erweckungserlebnis, aber ein rauschhafter, bunter Abend ohne Katergefahr.


Richard Wagner – Das Liebesverbot
Musikalische Leitung – Philippe Bach
Regie – Ansgar Haag
Bühnenbild – Helge Ullmann
Kostüme – Renate Schmitzer
Dramaturgie – Dr. Klaus Rak
Chor – Sierd Quarré

Friedrich – Dae-Hee Shin
Luzio – Xu Chang
Claudio – Rodrigo Porras Garulo
Antonio – Maximilian Argmann
Angelo – Steffen Köllner
Isabella — Bettine Kampp
Mariana – Camila Ribero-Souza
Brighella – KS Roland Hartmann
Danieli – Ernst Garstenauer
Dorella – Sonja Freitag
Pontio Pilato – Stan Meus

Chor und Extrachor des Meininger Theaters
Meininger Hofkapelle
Big Band des Martin-Pollich-Gymnasiums Mellrichstadt



22. Juni 2012

Die Csárdásfürstin – Sierd Quarré.
Landestheater Eisenach.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 2, Platz 9












Die Operette – unendliche Weisen. Wir schreiben das Jahr 2012. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Lautsplitter, das mit seiner 1 Mann starken Besatzung einen Tag lang unterwegs ist, um neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen. Viele Lichtjahre von der Oper entfernt, dringt die Lautsplitter dabei in Galaxien vor, die nie ein Wagnerianer zuvor gehört hat.

Zugegeben – ein platter, zudem geklauter Einstieg. Aber liebenswerte Plattheiten, die am Ende vielleicht doch mehr Tiefe und Wahrheit besitzen, als manches hehre Gegrübel, sind zufällig heute das Thema. Wobei man Sätze wie den vorigen auch häufig antrifft, wenn es darum geht, ganz besonders platten Fällen den Nimbus des künstlerisch Hochstehenden überzustülpen. Dazu besteht – Stand heute – bei der Operette kein Anlaß, zumindest bei dieser nicht.

Was ist die Csárdásfürstin? Eine Ansammlung von sehr bekannten Melodien, die jede Schlagerparade in Grund und Boden schunkeln könnte? Sicherlich. Eine Handlung, die mit ihrem konstruierten Beziehungsgeflecht jeder Telenovela zur Ehre gereichte? Auch (ein Umstand, der jedoch auf nicht wenige Opern gleichermaßen zutrifft). Doch inmitten all der Plattheiten, Witzchen und Lebensweisheiten aus der Kugler-Bonbondose wird auf leichten Schwingen scheinbar beiläufig Tiefsinniges vermittelt. KuK-Schmäh hin, Zuckermelodei her, das Stück trifft ein ums andere Mal ins Herz, zumindest in solch sentimentale Exemplare, wie ich eines in meinen Diensten weiß.

Letztendlich ist hier jede Figur trotz aller Tingeltangelei und Wechselspielchen doch auf der Suche nach der großen Liebe. Sehnsucht, Wehmut, Liebesschmerz – die Zutaten für großes Gefühlskino. Insbesondere durch die Kontrastierung mit den scheinbar unbeschwert heiteren, übermütig sorglosen Momenten ergibt sich eine nicht zu unterschätzende Fallhöhe.

Im dritten Akt wird das Bühnenleben als Tröster für Sylvas Liebesleid beschworen. Wohnt nicht jedem Theaterbesuch ein Fünkchen Streben nach Tröstung inne? In Bezug auf den Alltag, auf Sorgen, bei manchem unter Umständen tatsächlich auf mehr? Das Theater als kathartischer Ort. Zu hochtrabend? Aber wie sonst sollte man über ein Phänomen sprechen, das, wenn vielleicht auch nicht immer Reinigung, jedoch zumindest Linderung verspricht?

Ach ja, musiziert wurde auch noch. Und das ebenfalls alles andere als gehaltlos. Die Meininger Hofkapelle im Eisenacher Außendienst läßt ihrem klangvollen Namen entsprechende Taten folgen. Die Tänzer des ansässigen Balletts sind als Bühnenvolk stimmig in die Handlung integriert. Aus der Sängerriege sticht Camila Ribero-Souza für meine Ohren hervor. Eine schöne, weiche Stimme, sehr tragfähig und dabei äußerst geschmeidig. Ihre Kollegen können da nicht ganz mithalten, dennoch gibt es genug Gelegenheit, sich an geborenen Sympathieträgern wie Francis Bouyer als Graf Boni oder Stan Meus als Feri bacsi zu erfreuen.

Gemessen am Schlagerfaktor des Stücks war das Haus eher passabel besucht, an der Inszenierung mit seiner aufwändigen Ausstattung dürfte es nicht gelegen haben. Einige Details der Regie konnte ich zwar nicht zweifelsfrei deuten, dies hatte jedoch keinen Einfluß auf die positive Gesamtwirkung. Welche Absicht stand beispielsweise in den sporadischen Hust- und Schwächeanfällen der Diva? Zeigten die Choristen Flagge auf ihren Mündern? Und was hatte es mit der Fotowand zu Beginn des dritten Aktes auf sich? Ging es einfach um Erinnerungen? Der „bedrohliche“ Schluß hingegen scheint mir als Vorbote für das Ende der Habsburger-Herrlichkeit zu fungieren, wohl auch in Hinblick auf die „gute alte Operettenzeit“.

Nach dem flachen Ein- nun ein entsprechender Ausstieg: Wie wurde die Csárdásfürstin eigentlich zu DDR-Zeiten angenommen – begegnet einem die Stasi hier doch auf Schritt und Tritt? In diesem Sinne: Kugler-Bonbon mit Soljanka gefällig?


Emmerich Kálmán – Die Csárdásfürstin
Musikalische Leitung – Sierd Quarré
Regie – Rudolf Frey
Choreographie – Andris Plucis
Bühnenbild – Christian Rinke
Kostüme – Elke Gattinger
Dramaturgie – Gerda Binder
Chor – Sierd Quarré

Leopold Maria, Fürst von und zu Lippert-Weylersheim – Ernst Volker Schwarz
Anhilte, seine Frau – Uta Müller
Edwin Ronald – Erwin Belakowitsch
Komtesse Stasi – Sonja Freitag
Graf Boni Kancsianu – Francis Bouyer
Sylva Varescu – Camila Ribero-Souza
Feri von Kerekes – Stan Meus
Eugen von Rohnsdorff — Steffen Köllner
Notar Kiss – Lars Kretzer

Ballett Eisenach
Chor des Meininger Theaters
Meininger Hofkapelle

10. Juni 2012

Hamburger Symphoniker – Jeffrey Tate.
Laeiszhalle Hamburg.

19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 15














Camille Saint-Saëns – Phaéton
Benjamin Britten – Les Illuminations (Anne Schwanewilms – Sopran)

(Pause)


Maurice Ravel – Shéhérazade (Anne Schwanewilms)

Albert Roussel – Sinfonie Nr. 3



Frankreich-Wochen in der Laeiszhalle, Teil 2: Phaéton mag zündeln, zünden will er nicht, obwohl der Maestro und seine Mannschaft mit Verve zu Werke gehen – wie in letzter Zeit schon so oft bestaunt und besprochen. Die Ausführenden tragen keine Schuld, das Werk selbst scheint dem ersten Vernehmen nach lärmende Langeweile.

Ganz im Gegensatz zum wohlvertrauten Werk des genialen Insulaners, der sich per Sprachregelung in den Abend gemogelt hat. Frau Schwanewilms knüpft dort an, wo sie in der Ariadne aufgehört hatte – feinstziselierte Phrasierungs- und Nuancierungswonnen aus goldener Kehle. Gleichwohl die Sopranfassung für meine Pears-geeichten Ohren überaus gewöhnungsbedürftig im Wortsinne war – es dauerte eine ganze Weile, um reinzukommen, danach war der Weg frei, das Stück von ganz anderer Warte gewissermaßen neu zu entdecken. Sehr interessant, wie sich der gesamte Ausdruck, aber auch Details in der Wahrnehmungs-Gewichtung durch die alternative „Instrumentation“ verschieben.

Ungeachtet ihrer Leistung im Britten scheint sich Frau Schwanewilms bei Ravel eine Spur wohler zu fühlen. Stimmlich ist dies der Höhepunkt des Abends – wenn ich mich doch nur für diese Musik erwärmen könnte. Vielleicht kommt das ja noch. Gestern hatte Ravel mich, heute blieb ich „L’indifférent“.

Aber endlich höre ich einmal ein Werk von diesem Roussel. Das schätze ich so an den Konzerten der Hamburger Symphoniker – eine inspirierte Programmgestaltung jenseits der altbewährten Konzertschlachtrösser. Und siehe da: Der Neue kann sich hören lassen. Eine Art französischer Westentaschen-Mahler. Ein bärbeißiges Allegro, Marsch- und immer wieder Tanzelemente, groteske Einschläge, urige Instrumentation (z.B. tiefes Blech plus Triangel), ein episodenhaftes Adagio, ein Mini-Scherzo, das Finale fast schon Ives-mäßig. Und immer wieder interessante Harmonien.

Anstelle eines Fazits einige Überlegungen zum Konzertbetrieb. Heute lag ein Fragebogen der Hamburger Symphoniker aus, in dem man unter anderem auch angeben konnte, was man von einem Konzert dieses Orchesters erwartet. Programme wider den Klassik-Mainstream, vollendet interpretiert von Herrn Tate und anderen Dirigenten sowie Gastsolisten mit diesem wunderbaren Orchester – das ist es, was ich erwarte und zum Glück auch erhalte. Aber wie sieht das die Mehrheit im Saal?

Das Konzert heute war sehr gut besucht, soweit ich das überblicken konnte, das habe ich speziell bei den Hamburger Symphonikern schon ganz anders erlebt. Dennoch schnappe ich nach Programmen dieser Art – mit ein oder gar mehreren Werken unbekannterer Bauart – an der Garderobe oder am Bahnsteig der U-Bahn eher Kommentare auf, die den Vortrag, nicht aber das Vorgetragene loben. Oder gleich unverblümt ihrem Sehnen nach Mozart und Brahms Ausdruck verleihen. Britten? Hindemith? Sibelius? Womöglich das böse S-Wort gar – Schönberg? Stirnrunzeln. Kopfschütteln. Schwere Seufzer. Modernes Zeugs.

Seit über hundert Jahren zu modern – nicht schlecht. Aber zurück zur Frage: wie sieht das die Mehrheit im Saal? Zumindest im Radio wird ja immer die gleiche Sülze gewünscht. Gestern im Fauré geht ein erleichtertes Raunen durch den Saal, als „das bekannte Stück“ aus der Suite erklingt. Vielleicht sind Konzerte auch einfach nur zu einem guten Teil eine Art geheime Absprache. Man mag es nicht – man klatscht trotzdem. Denn was wäre ein Konzertbesuch ohne den abschließenden Satz der Sätze: „Schön war’s“.

PS: Wenn „nett“ bekanntermaßen der kleine Bruder des anderen bösen S-Wortes ist, in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis steht dann „schön“?

9. Juni 2012

Orchestra of the Age of Enlightenment –
Sir Simon Rattle.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16















Gabriel Fauré – Pelléas et Mélisande / Suite op. 80
Maurice Ravel – Klavierkonzert Nr. 2 / Klavierkonzert für die linke Hand
(Pierre-Laurent Aimard)
Zugabe: Claude Debussy – Ondine

(Pause)

Claude Debussy – Prélude à l'après-midi d'un faune

Claude Debussy – La Mer
Zugabe: Erik Satie / Claude Debussy – Gymnopédie Nr. 1



So klingt er also, der vielzitierte Erard, oder vielmehr ein Exemplar aus seiner traditionsreichen, mittlerweile jedoch weitgehend ausgestorbenen Familie. Macht sich optisch ganz gut auf der Bühne der alten Dame Laeiszhalle, das braungemaserte Ungetüm auf Schnörkelpfoten. Der Klang, den Herr Aimard ihm entlockt, ist für den historisch interessierten Konzertgänger nicht uninteressant, dokumentiert in erster Linie jedoch den Fortschritt, mit dem ein moderner Steinway das Gehör zu ergötzen vermag.

Mögen Authentizitäts-Fetischisten diesen speziellen Ton zu schätzen wissen, um dem Idiom eines Konzertes zur Ravel-Zeit nachzuspüren, halte ich es lieber mit den Errungenschaften des Instrumentenbaus in Bezug auf Volumen, Differenzierung und Ausgewogenheit. Der braune Schwan singt schon eine ganze Ecke dünner, unrunder. Insbesondere die mittlere Lage verrät das Alter und die Nähe zur Herbheit der historischen Aufführungspraxis. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß man von diesem „archaischen“ Klang eingenommen wird – ist halt Geschmackssache.

Genau wie die Frage, ob man durch das tierische Geschnaufe von Herrn Aimard von seinem intensiven, faszinierenden Vortrag abgelenkt wird oder nicht. Ich hatte da so meine Probleme (und das als glühender Gould-Verehrer!). Im Ernst: das Ravel-Konzert zog mich über die Maßen in seinen Bann – woran das französische Duo ganz klar seinen Anteil hatte. Auch auf das Programm bezogen für mich der Höhepunkt des ganzen Abends. Das ist der Ravel, wie ich ihn mag, messerscharf, phantasievoll, kontrastreich, mit einem Hang zum Grotesken – eben Elemente, wie ich sie z.B. auch an Britten liebe.

Verliebt habe ich mich auch in dieses Orchester. Was für ein Klang! Der Samt der Streicher, die Anmut der Holzbläser, der Stolz des Blechs – sind das historische Instrumente, wie das Programmheft vermeldet? Hätte ich nicht herausgehört. Keine Ahnung, wie alt die Geigen sind – gut sind sie und ihre Bediener, und wie!

Dazu Sir Simon als der gewohnte Klangfuchser. Immer wieder scheint es, als halte er ob des Farbenreichtums der verschiedenen Partituren mit seinem Orchester einen Moment inne, um eine besonders schöne Stelle wie ein funkelndes Stück Kristall von allen Seiten im Sonnenlicht zu betrachten. Dabei besteht jedoch nie die Gefahr, das große Ganze könne auseinanderfallen, zu verwoben, zu organisch ist der mäandernde Fluß des Klangkörpers.

Vertrauteste Gestade wie Debussys Dichtungen werden mit frischem Zugang angesteuert. Traumpianissimi, wohligste Bögen, atmende Steigerungen, druckvollste dynamische Entladungen. Unter solcher Behandlung gelingt selbst ein Kitschnäpfchen wie Saties Gymnopédie als scheue Neuformung.

Konzerte wie dieses bringen mich Debussy & Co. vielleicht am Ende des Tages nicht nachhaltig näher, gewähren mir aber einen versöhnlichen Blick in jene, mir fremde Welt. Das ist doch etwas.

7. Juni 2012

Liederabend – Chen Reiss.
Laeiszhalle Hamburg, Kleiner Saal.

19:30 Uhr, Parkett Mitte links, Reihe 6, Platz 8, nach der Pause: Parkett Mitte links, Reihe 1, Platz 3


















Georg Friedrich Händel – aus „Neun Deutsche Arien“: Meine Seele hört im Sehen HWV 207
Franz Schubert – Frühlingsglaube, D686; Romanze, D797; Lachen und Weinen, D777; Ganymed, D544; La pastorella, D528; Guarda, che bianca luna, D688 no. 2; Da quel sembiante appresi, D688 no. 3; Mio ben ricordati, D688 no. 4; Vedi quando adoro, D510

(Pause)


Franz Liszt – Wie singt die Lerche schön; Der Fischerknabe; Comment, disaient-ils; Oh! Quand je dors

Camille Saint-Saëns – Une flûte invisible
Léo Delibes – Le Rossignol
Gaetano Donizetti – aus „Nuits d’étè à pausillipe: A mezzanotte; Il barcaiolo; La zingara
Zugabe: Gaetano Donizetti – La connochia

(Chen Reiss – Sopran, Alexander Schmalcz – Klavier, Susanne Barner – Flöte)



Stell Dir vor es ist Liederabend und niemand geht hin – oder: Kleiner Saal, große Lücken. Wobei „Lücken“ noch geschmeichelt ist. Vereinzelt besetzte Plätze trifft es besser. Einfach traurig. Dabei wartet die Liedreihe der Hamburger Symphoniker heute bereits zum zweiten Male mit einer der feinsten lyrischen Sopranstimmen auf, die mir geläufig sind – denn über eben jene verfügt ohne Zweifel Chen Reiss.

Daß fein allein jedoch nicht immer das Mittel der Wahl ist, wurde in den auf Heißblütigkeit angelegten Abschnitten des insgesamt ungewöhnlich heterogenen Programms deutlich. Liegt die Stärke der Sängerin fraglos in der Vermittlung des Scheuen, Zarten, Melancholischen, Überweltlichen, bleibt sie in den rassigen Koloraturen Donizettis auf der Stufe technischer, virtuoser Perfektion, ohne ihr stimmliches Feuer auch auf die Ebene nur allzu weltlicher Emotionen übergreifen zu lassen. Ihr Äußeres scheint Frau Reiss für die Rolle des Vamps zu prädestinieren, der Ausdruck ihrer Stimme spricht eine andere Sprache.

Die Sprache Schuberts beispielsweise, den sie vor allem in der „Romanze“ zum Niederknien in die Herzen der Zuhörer trägt. Aufs Einfühlsamste begleitet von Alexander Schmalcz scheint die Sängerin hier ganz bei sich, ein Sehnen und Wähnen erfüllt die Kleine Laeiszhalle, Poesie der Worte, Poesie der Töne. Eine Musik wie die Erinnerung an ein vergangenes Glück – dankbare Wehmut und süße Trauer.

Oder Liszts „Der Fischerknabe“: eine fragile Träumerei zwischen Naturidyll und Todesromantik, für die Frau Reiss’ Ausdruckspalette wie geschaffen ist. Warum also diese Ausflüge ins vermeintlich leichte Fach? Im Hinblick auf große Taten an großen Häusern? Ich weiß nicht. So selten wie Stimmen zu finden sind, durch die der Begriff der Unschuld zu mehr als einer bloß sentimentalen Phrase erhoben wird, so aussichtslos erscheint es mir, Leidenschaft oder gar Erotik einer solchen Stimme aufzuzwingen. Auch da gibt es sicher genug Gegenbeispiele, aber meine Skepsis in Bezug auf Frau Reiss’ Weg bleibt. Es wäre schade, wenn sie diesen silbrig-feinen Stimmschatz, den sie in ihrer Kehle hütet, auf Eilmärschen Richtung Rampenruhm von ihren Lippen verbannte.