24. Juni 2012

West Side Story – Ju Hyun Jeong.
Landestheater Coburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 10


















Wird in Musicals eigentlich generell so viel gelabert? Also im Publikum meine ich ... auf der Bühne ist das ja ok ... Ne, anfangs war der Geräuschpegel, der von den Nichtmitwirkenden ausging, schon unerträglich. Da herrscht im Kino während des Werbeblocks mehr Aufmerksamkeit als beim Erklingen der wunderbaren Ouvertüre. Aber das Orchester gibt ordentlich Stoff, insbesondere das Blech darf sich mal so richtig austoben. Da muß man als geneigter Ignorant den Nebensitzer regelrecht anschreien, um den Kaffeeklatsch aufrecht zu halten. Nun denn, mit Beginn der Handlung stellte man diese Unart glücklicherweise (weitgehend) ab.

Bleiben wir gleich beim Orchester. Ju Hyun Jeong gewinnt den bekannten Klängen mit seinen Musikern eine knackig-herbe, im positiven Sinne schroffe, gleichsam unverkitschte Lesart ab, die vor allem die Urgewalt der Rhythmen betont, ohne jedoch an entsprechender Stelle Intimität und Wohllaut einzubüßen. In jedem Fall ist gewaltig Dampf auf dem Kessel, alles strotzt vor Vitalität, darüber hinaus schwingt eine gute Portion Aggressivität mit – eine Herangehensweise, die dem wenig verklärungswürdigen Konflikt der Banden und somit dem Faktor Realität sinnvoll Rechnung trägt.

Bernsteins Musik tritt unter dieser Behandlung, vielleicht mehr noch als sonst, als Hauptkraft in Erscheinung, schafft für jede Seite einen unverwechselbaren Kosmos. Vom schroffen Skandieren der Jets-Musik zum berstenden Überschwang der Latino-Gegenwelt gelingt den Coburgern heute alles in bemerkenswerter Intensität. Wobei sich diese Energie zu gleichen Teilen auch aus dem vorzüglichen Ensemble speist. Hierbei überzeugt vor allem das Zusammenspiel der Vertreter unterschiedlicher Darsteller-Gewerke. Je nach Anforderung füllen Opernsänger, Musicaldarsteller, Schauspieler und Tänzer die Rollen aus, was nicht nur den musikalischen, sondern vor allem auch den szenischen Belangen zu Gute kommt. Die akustische Verstärkung – auch beim Singen – war anfangs etwas gewöhnungsbedürftig für mich, ist aber wohl Musical-Usus.

Das Darstellerische ist enorm wichtig für die Glaubwürdigkeit des Ganzen und wird größtenteils sehr gut gemeistert. Auf der Opernbühne gern und mit unbelehrbarem Peinlichkeitsgespür eingesetzte „Jugendgesten“, wie Abklatschen oder den Stinkefinger zeigen, wirken hier tatsächlich einmal aus dem Leben und nicht einfach nur danebengegriffen. Die Körperlichkeit der Gangs, die Ausgelassenheit im Tanz – das alles kommt so selbstverständlich und ungekünstelt daher, daß man über die bemühten Kulturstereotypen hinaus ganz leicht den Zugang zur individuellen Tragödie findet. Die Inszenierung schafft dabei einen bemerkenswerten Spagat zwischen (Theater-)Kunst-Welt und authentischem Drama. In einigen Punkten scheint die Regie zudem auf eine Verdeutlichung der Konflikte durch Verschärfung abzuzielen.

So wird Officer Krupke während ihres beschwingten Liedchens über soziale Mißstände von den Jets nicht nur aufs Übelste zugerichtet, sondern am Ende mit Freuden erschossen. Der frech-ironische Ton der Äußerungen (an dieser Stelle wird bewußt auf die Originalsprache verzichtet) verzerrt sich in Sadismus und blanke Menschenverachtung. Die Beinahe-Vergewaltigung der Anita ist ein weiteres Beispiel für den Ansatz der Regie, den gewalttätigen Ernst eines Stückes zu transportieren, das häufig nur als gefälliges Folklore-Allerlei mit Hitgarantie herhalten muß. Daß es seinen Machern einmal um mehr gegangen sein mag, wurde heute in vielen eindringlichen Momenten in Erinnerung gerufen. Der hinzugefügte Selbstmord Marias am Schluß geht dann noch einen Schritt weiter und erstickt auch den letzten Funken Versöhnungshoffnung.

Neben guten Darstellern wartet das Landestheater auch mit starken Stimmen auf. Die Partien der Maria und des Tony bündeln naturgemäß das Hauptinteresse und erhalten mit Marie Smolka und Christian Alexander Müller nicht nur szenisch sondern auch stimmlich vortreffliche Repräsentanten. Beide Sänger verfügen insbesondere über jenes Feingefühl, das bei der Gestaltung gerade der leisen, sinnlichen Augenblicke unabdingbar ist. Qualitativ zum Triumvirat komplettiert werden die beiden durch Ulrike Barz, deren Anita feuriger kaum zu denken ist.

Noch einmal zurück zum Stück selbst. Mit dieser persönlichen Musicalpremiere habe ich es erwartungsgemäß sehr gut getroffen. Die Partitur hält eine derartige Fülle unkaputtbarer Klassiker bereit, daß es einem beinahe unheimlich wird. Als Höhepunkt des ersten Aktes empfand ich das Duett zwischen Tony und Maria, im zweiten Akt ging von Marias Liebesappell und ihrem anschließenden Duett mit Anita eine unglaubliche Wirkung aus. Schon kein ganz Schlechter, der Lenny. Läßt der Gute tatsächlich eine Celesta beim ersten Zusammentreffen der Liebenden erklingen? Er befände sich damit schließlich in guter Gesellschaft. Der Song „Somewhere“ – eine Art Mischung aus Harold Arlen und Aaron Copland – scheint in seinem hymnischen Pathos den Amerikanischen Traum beschwören zu wollen, oder in diesem Fall eine Amerikanische Utopie. Das Finale, zumindest dieser Produktion, ist erstaunlich musikarm, das Drama behält gewissermaßen das letzte Wort.

So schließt meine Dreistädtetour also mit einem besonders gelungenen Abend – ein Urteil, bei dem ich das Coburger Publikum offenkundig auf meiner Seite wissen durfte, läßt man die überschwängliche, ehrliche Begeisterung meiner Saalgenossen für sich sprechen. Nach meiner ersten Operette vor zwei Tagen nun also Musical – wohin das noch führen mag? Am Ende landet man gar bei Kammermusik! Ich kann für nichts garantieren.


Leonard Bernstein – West Side Story
Musikalische Leitung – Ju Hyun Jeong
Inszenierung – Pascale Chevroton
Bühnenbild – Alexandra Burgstaller
Kostüme – Tanja Liebermann
Choreographie – Mark McClain
Dramaturgie – Susanne von Tobien

Jets
Tony, Gründer der Jets – Christian Alexander Müller
Riff, ihr Anführer – Benjamin Werth
Action – Vivian Frey
A-rab – Maximilian Widmann
Baby John – Jörn Ortmann
Snowboy – Philipp Georgopoulos
Diesel – Simon van Rensburg
Big Deal – Adrian Stock
Gee-Tar – Niko Ilias König
Mouthpiece – Takashi Yamamoto

Jets’ Girls
Velma – Jana Kristina Lobreyer
Anybody’s – Friederike Pasch
Graziella – Johanna Mertl / Paulina Mertl
Clarice – Emily Downs

Erwachsene
Doc – Thomas Straus
Leutenant Schrank – Helmut Jakobi
Officer Krupke – Boris Stark
Glad Hand – Boris Stark

Sharks
Bernardo, ihr Anführer – Thorsten Ritz
Chino, sein Freund – Frederik Leberle
Pepe – Marcello Mejia-Mejia
Indio – Po-Sheng Yeh
Louis – Marius Czochrowski
Anxious – Martin Trepl
Nibbles – Tae-Kwon Chu
Juano – Kostas Bafas

Sharks’ Girls
Maria, Bernardos Schwester – Marie Smolka
Anita, Bernardos Freundin – Ulrike Barz
Rosalia – Hayley Sugars
Consuela – Vanessa Atuh
Teresita – Anastasia Scheller
Francisca – Chih-Lin Chan
Estella – Eriko Ampuko
Marguerita – Miki Nakamura

Philharmonisches Orchester Landestheater Coburg