Es war einmal ein Mann, der lebte, nachdem er seine Frau verloren und ihr Andenken in ein grotesk übersteigertes Heiligenbild verzerrt hatte, ganz in seiner eigenen bigotten Selbsttäuschung, in der er seine eigentlichen Wünsche und Triebe auf Kosten der einzig ihm nahe stehenden Frau zu verleugnen suchte.
Karoline Gruber liefert mit ihrer Inszenierung eine vielleicht extreme, aber grundweg stimmige und starke Interpretation dieser Geschichte, die man natürlich auch ganz anders auffassen könnte:
Es war einmal ein Mann, dem, da er nicht über den Verlust seiner geliebten Frau hinwegkommen konnte, in einer Traumvision die fatale Ausweglosigkeit seines Nichtloslassenkönnens vor Augen geführt wurde.
In meinen Augen spricht es umso mehr für Werk und Stoff, daß die bloße Handlung offenbar eine Fülle verschiedenster Gedanken, insbesondere bezogen auf die Motivation und Innenwelt der Beteiligten, freisetzt. Für die seinerzeit von mir besuchte Inszenierung in Hof (Link) müßte man beispielsweise als Konklusion einer Interpretation der Geschichte diesen Nachsatz ergänzen:
..., so daß er als Ausweg nur den Freitod sah und antrat.
Genauso denkbar wäre aber auch:
..., so daß er sich entschloss, ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen.
In den Regieanweisungen findet sich nichts, das einen anderen Schluß – im doppelten Sinne – als letzteren stützt? Nun ja, ganz so einfach sollte man es sich nicht machen. Zum einen spricht Paul davon, er wolle es „versuchen“ mit dem Freund die Stadt zu verlassen, darüber hinaus mögen zuvor die Worte aus seinem Mund zwar von Selbsterkenntnis und Katharsis zeugen – die Töne, in der sehnenden Stimmung des Lautenliedes aus dem ersten Akt verharrend, legen einen anderen Zustand nahe.
Was ist also richtig und falsch? Was rechtfertigt das obligatorische Buhen für die Regie bei Premieren? Jeder mag gutheißen oder verdammen, was er oder sie mag – beklagenswert wird es nur immer dann, wenn eine sensible Arbeit aus Unkenntnis, Unbedarft- oder Dummheit Ablehnung erfährt. Zum Glück – oder doch leider? – habe ich die Premiere dieser Produktion nicht besucht. Ich möchte Frau Gruber und ihrem ganzen Team an dieser Stelle nur sehr herzlich für diesen Abend und eine Interpretation danken, die nicht vordergründig gefallen, sondern zur Auseinandersetzung anhalten möchte. Ein Meisterwerk wie „Die Tote Stadt“ hat eben mehr verdient als eine szenische Umsetzung von Ausstattungs- und Spielvorschlägen.
Warum ich diese Regiearbeit so wertvoll erachte? Weil sie dem (männlich geprägten) Fokus des zerrissenen, leidenden, trotz allem Krankhaften letztlich doch romantisch verklärten (Anti-)Helden ein spannendes Gegengewicht in Form der weiblichen Dimension der Geschichte, der Folgen seines Handelns für die Frau(en) entgegensetzt. Hier namentlich Brigitta, die offenbar in einer Art therapeutischem Rollenspiel die Verkörperungen der weiblichen Sehnsuchtsphantasien Pauls übernimmt. Heilige oder Hure, Dienende oder Vamp – zwischen diesen Extremen oszilliert der Witwer, wobei es hier letztendlich ohne Bedeutung ist, ob die unantastbare Marienfigur und die Verderberin Marietta wirklich realen Ursprung besitzen. Das erscheint nur folgerichtig, denn auch ohne diesen radikalen Ansatz der Regie dürfte das von Paul propagierte Bild seiner verstorbenen Frau in erster Linie als ein Produkt konsequenter Verklärung gewertet werden. Wer ist schon (im Leben) so gut, so rein, so keusch, so – heilig?
Paul ist es jedenfalls nicht, daher schwingt er die Keule der Heiligkeit immer dann am bestimmtesten, wenn er mit seiner eigenen verleugneten Triebhaftigkeit konfrontiert wird. Im Grunde ist ohnehin alles seiner persönlichen Inszenierung unterworfen. Bestes Beispiel dafür stellt die Prozession dar, die daher in dieser Produktion auch keine katholische, religiöse ist, sondern eine reine Selbstprozession Pauls, eine grausam-egomane Mischung aus rauschhafter Selbsterhöhung und zerknirschter Selbstgeißelung. Der goldene Schrein – das goldene Haar, der Zug der Büßer – Pauls eigene wahnhafte Pseudoreligion, mit der er sein Leben umgeben hat, tritt hier grell und unmaskiert zutage.
Aber die Regie nutzt auch durchaus subtilere Momente, um die Handlung als seine Privatinszenierung zu entlarven: Gleich von Beginn an ist Paul anwesend, als Betrachter. Während Marietta das ihm bekannte Lied singt, hält nicht sie, sondern er selbst versonnen die Laute. Vollends auf die Spitze getrieben wird die Ahnung, es spiele sich wohl alles nur (noch) in Pauls Kopf ab, durch das einfache wie wirkungsvolle Requisit des leeren Bilderrahmens, der ja angeblich das Antlitz Maries beinhaltet. Wohlgemerkt kein unkenntliches oder leeres Bild, sondern ein Bilderrahmen ohne Inhalt – das wird an der Stelle deutlich, wenn Paul den Rahmen liebevoll putzt und dabei durch ihn hindurch greift. Es stellt sich die Frage, ob dieser Rahmen je ein reales Bildnis beherbergte.
Überhaupt ist der intelligente wie vielschichtige Einsatz von Requisiten hervorzuheben. Der Schal der Verstorbenen erfährt im kunsthistorisch tradierten Blau der Mutter Gottes als Tuch unterschiedlicher Größe mehrfache Verwendung. So beispielsweise bei der „Marienerscheinung“ im ersten Akt, wo das Ballett der Untoten aus Marietta Marie werden läßt – aber eben auch als Ausdruck für Pauls Verständnis von Sünde bzw. Untreue, wenn das blaue Gewebe die Stätte seiner ersten Liebesnacht mit Marietta markiert. Oder die Schneiderpuppe: Als Träger des roten Kleides die verkörperte Gegnerschaft in Mariettas Kampf gegen das Phantom Marie – als Teil der Prozession zu Pauls Privat-Monstranz umfunktioniert. Ein weiterer gelungener Kunstgriff besteht darin, die frivole Teufels-Pantomime als Schattenspiel mit zweckentfremdeten Requisiten zu gestalten. Allein das Bild, wie der durch die Perspektive vergrößerte Teufelsarm den Rettungsring-Heiligenschein von Helene fortnimmt, sucht an ästhetischer Qualität und inhaltlichem Witz seinesgleichen.
Häufig weist die Inszenierung durch bestimmte Elemente gerade auf deren Doppelbödigkeit hin. Das Goldene Haar ist allgegenwärtig als Zeichen von Pauls größtem Schatz – Haar als solches fungiert hier jedoch immer wieder auch als Vanitassymbol. Die Frauengestalten werden (als Folge eines Eingriffs?) ihrer Haarpracht teilweise beraubt und auch dem Neugeborenen werden die blonden Strähnen ausgerissen. Der die Bühne dominierende Sand spiegelt einerseits die Farbe des Haares wieder, steht andererseits für das versandete Brügge und Pauls verschüttetes Inneres, aus dem die Requisiten der Handlung freigelegt werden. Verstörend auch, wie einfach die Nähe zwischen feierlich getragenem Prozessionsaltar und Sarg hergestellt wird. Der ins Riesenhafte vergrößerte Zopf schließlich, in seiner Funktion eher ein ausgewachsenes Seil, findet mit dem Bild des Tauziehens noch einmal eine Entsprechung für den grundsätzlichen Konflikt – Mann und Frau heißt hier Mann gegen Frau.
Und auch bezogen auf die Personenregie verstehen die Verantwortlichen ihr Handwerk. Niemand steht dumm herum, die Abläufe vom großen Ganzen bis zur Geste im Detail sitzen. Zudem werden die Darsteller bei den wichtigen Stellen erfreulich sängerfreundlich positioniert – Rampennähe ohne tumbe Rampensteherei. Die Behandlung der Ensemble- und Chorszenen erfolgt in der gleichen plausiblen, organischen Weise – selbst wenn es sich um etwas Artifizielles wie den zombiehaften Gang des Prozessionschores handelt. Der sinnhafte Einsatz von Statisten trägt zudem – neben den überaus gelungenen Kostümen – einiges zur dichten Atmosphäre der Inszenierung bei. Ein Beispiel hierfür sind die braven Bürger Brügges, die in ihrem maskenhaften, zugeknöpften Auftreten, die immergleichen, beinahe übersprungshandlungsartig ausgeführten floskelhaften Gesten repetierend – der Blick auf die Uhr, eine knappe stumme Begrüßung – die schon fast mumifiziert-moralinsaure Kleinbürgerlichkeit umherstolzieren lassen.
Zur musikalischen Güte des Abends möchte ich gar nicht so viele Worte verlieren. Außer Frage steht, daß Simone Young uns mit ihren Philharmonikern heute eine der stärksten Leistungen geschenkt hat, die ich in ihrer Hamburger Amtszeit erleben durfte. Besser ist der Korngoldsche Klangfarbenrausch live nicht umzusetzen. Für eine besonders angenehme Überraschung sorgte das herrlich aufgelegte Ensemble der Komödiantentruppe mit ihrer schillernd morbiden Spiegelung Brügges in den Kanälen Venedigs.
Bei der Betrachtung der Solisten ragt Herr Vogt turmhoch heraus. Auch die übrigen Sänger liefern Ordentliches ab, aber hier kann man wohl tatsächlich von einer absoluten Idealbesetzung für die Rolle des Paul sprechen. Während Herr Vasar als angehender Todesbote seine schöne Stimme weitgehend unlyrisch mit Schwerpunkt auf Lautstärke ins heldisch-gaumige verdröhnt, Frau Damian ihre ebenfalls schöne Stimme relativ diktionsschwach ins Auditorium sendet und Frau Miller zwar hier und da mit den Tutti zu kämpfen, ihre eindrucksvollsten Momente aber ohnehin in den zarten Passagen des 3. Bildes hat, ist der unbestreitbare stimmliche wie darstellerische Dreh- und Angelpunkt durch den Ausnahmetenor reserviert.
Auch wenn ich persönlich dem mitunter fast androgynen, entkörperlicht-klaren Charakter von Vogts Stimme in der Vergangenheit durchaus eher zwiespältig gegenüberstand, gerät seine Kunst zum Ereignis des Abends. Überraschend heldisch in den dynamischen Spitzen, auch das ärgste Orchestertutti durchschneidend, durchweg mit lupenreiner Diktion und schließlich in den innigen Momenten der Partie von einer berückend-fragilen Anmut, die in ihrem dem Leben entrückten Kristallklang der Zerrissenheit Pauls verstörenden Ausdruck verleiht. Die Darstellung, zwischen wahnhafter Raserei und Selbstauflösung changierend, unterstreicht den Eindruck eines Mannes, der, seiner geistigen und seelischen Gesundheit beraubt, das Diesseits für sich und sein direktes Umfeld zum permanenten Fegefeuer werden läßt. Das ungeborene Leben als reale Konsequenz seiner auf Verdrängung ausgerichteten Existenz ist ein eindringliches Bild und unmißverständlicher Appell, aus Traum zu Verantwortung zu gelangen – der im Falle Pauls leider ungehört bleibt.
Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Karoline Gruber
Bühnenbild – Roy Spahn
Kostüme – Mechthild Seipel
Licht – Hans Toelstede
Chor – Eberhard Friedrich
Hamburger Alsterspatzen – Jürgen Luhn
Dramaturgie – Kerstin Schüssler-Bach
Choreografie – Stefanie Erb
Spielleitung – Heide Stock
Musikalische Assistenz – Daniel Carter
Paul – Klaus Florian Vogt
Marietta/Die Erscheinung Mariens – Meagan Miller
Frank/Fritz – Lauri Vasar
Brigitta – Cristina Damian
Juliette – Mélissa Petit
Lucienne – Gabriele Rossmanith
Victorin – Jun-Sang Han
Graf Albert – Jürgen Sacher
Philharmoniker Hamburg
Karoline Gruber liefert mit ihrer Inszenierung eine vielleicht extreme, aber grundweg stimmige und starke Interpretation dieser Geschichte, die man natürlich auch ganz anders auffassen könnte:
Es war einmal ein Mann, dem, da er nicht über den Verlust seiner geliebten Frau hinwegkommen konnte, in einer Traumvision die fatale Ausweglosigkeit seines Nichtloslassenkönnens vor Augen geführt wurde.
In meinen Augen spricht es umso mehr für Werk und Stoff, daß die bloße Handlung offenbar eine Fülle verschiedenster Gedanken, insbesondere bezogen auf die Motivation und Innenwelt der Beteiligten, freisetzt. Für die seinerzeit von mir besuchte Inszenierung in Hof (Link) müßte man beispielsweise als Konklusion einer Interpretation der Geschichte diesen Nachsatz ergänzen:
..., so daß er als Ausweg nur den Freitod sah und antrat.
Genauso denkbar wäre aber auch:
..., so daß er sich entschloss, ein neues Leben in einer anderen Stadt zu beginnen.
In den Regieanweisungen findet sich nichts, das einen anderen Schluß – im doppelten Sinne – als letzteren stützt? Nun ja, ganz so einfach sollte man es sich nicht machen. Zum einen spricht Paul davon, er wolle es „versuchen“ mit dem Freund die Stadt zu verlassen, darüber hinaus mögen zuvor die Worte aus seinem Mund zwar von Selbsterkenntnis und Katharsis zeugen – die Töne, in der sehnenden Stimmung des Lautenliedes aus dem ersten Akt verharrend, legen einen anderen Zustand nahe.
Was ist also richtig und falsch? Was rechtfertigt das obligatorische Buhen für die Regie bei Premieren? Jeder mag gutheißen oder verdammen, was er oder sie mag – beklagenswert wird es nur immer dann, wenn eine sensible Arbeit aus Unkenntnis, Unbedarft- oder Dummheit Ablehnung erfährt. Zum Glück – oder doch leider? – habe ich die Premiere dieser Produktion nicht besucht. Ich möchte Frau Gruber und ihrem ganzen Team an dieser Stelle nur sehr herzlich für diesen Abend und eine Interpretation danken, die nicht vordergründig gefallen, sondern zur Auseinandersetzung anhalten möchte. Ein Meisterwerk wie „Die Tote Stadt“ hat eben mehr verdient als eine szenische Umsetzung von Ausstattungs- und Spielvorschlägen.
Warum ich diese Regiearbeit so wertvoll erachte? Weil sie dem (männlich geprägten) Fokus des zerrissenen, leidenden, trotz allem Krankhaften letztlich doch romantisch verklärten (Anti-)Helden ein spannendes Gegengewicht in Form der weiblichen Dimension der Geschichte, der Folgen seines Handelns für die Frau(en) entgegensetzt. Hier namentlich Brigitta, die offenbar in einer Art therapeutischem Rollenspiel die Verkörperungen der weiblichen Sehnsuchtsphantasien Pauls übernimmt. Heilige oder Hure, Dienende oder Vamp – zwischen diesen Extremen oszilliert der Witwer, wobei es hier letztendlich ohne Bedeutung ist, ob die unantastbare Marienfigur und die Verderberin Marietta wirklich realen Ursprung besitzen. Das erscheint nur folgerichtig, denn auch ohne diesen radikalen Ansatz der Regie dürfte das von Paul propagierte Bild seiner verstorbenen Frau in erster Linie als ein Produkt konsequenter Verklärung gewertet werden. Wer ist schon (im Leben) so gut, so rein, so keusch, so – heilig?
Paul ist es jedenfalls nicht, daher schwingt er die Keule der Heiligkeit immer dann am bestimmtesten, wenn er mit seiner eigenen verleugneten Triebhaftigkeit konfrontiert wird. Im Grunde ist ohnehin alles seiner persönlichen Inszenierung unterworfen. Bestes Beispiel dafür stellt die Prozession dar, die daher in dieser Produktion auch keine katholische, religiöse ist, sondern eine reine Selbstprozession Pauls, eine grausam-egomane Mischung aus rauschhafter Selbsterhöhung und zerknirschter Selbstgeißelung. Der goldene Schrein – das goldene Haar, der Zug der Büßer – Pauls eigene wahnhafte Pseudoreligion, mit der er sein Leben umgeben hat, tritt hier grell und unmaskiert zutage.
Aber die Regie nutzt auch durchaus subtilere Momente, um die Handlung als seine Privatinszenierung zu entlarven: Gleich von Beginn an ist Paul anwesend, als Betrachter. Während Marietta das ihm bekannte Lied singt, hält nicht sie, sondern er selbst versonnen die Laute. Vollends auf die Spitze getrieben wird die Ahnung, es spiele sich wohl alles nur (noch) in Pauls Kopf ab, durch das einfache wie wirkungsvolle Requisit des leeren Bilderrahmens, der ja angeblich das Antlitz Maries beinhaltet. Wohlgemerkt kein unkenntliches oder leeres Bild, sondern ein Bilderrahmen ohne Inhalt – das wird an der Stelle deutlich, wenn Paul den Rahmen liebevoll putzt und dabei durch ihn hindurch greift. Es stellt sich die Frage, ob dieser Rahmen je ein reales Bildnis beherbergte.
Überhaupt ist der intelligente wie vielschichtige Einsatz von Requisiten hervorzuheben. Der Schal der Verstorbenen erfährt im kunsthistorisch tradierten Blau der Mutter Gottes als Tuch unterschiedlicher Größe mehrfache Verwendung. So beispielsweise bei der „Marienerscheinung“ im ersten Akt, wo das Ballett der Untoten aus Marietta Marie werden läßt – aber eben auch als Ausdruck für Pauls Verständnis von Sünde bzw. Untreue, wenn das blaue Gewebe die Stätte seiner ersten Liebesnacht mit Marietta markiert. Oder die Schneiderpuppe: Als Träger des roten Kleides die verkörperte Gegnerschaft in Mariettas Kampf gegen das Phantom Marie – als Teil der Prozession zu Pauls Privat-Monstranz umfunktioniert. Ein weiterer gelungener Kunstgriff besteht darin, die frivole Teufels-Pantomime als Schattenspiel mit zweckentfremdeten Requisiten zu gestalten. Allein das Bild, wie der durch die Perspektive vergrößerte Teufelsarm den Rettungsring-Heiligenschein von Helene fortnimmt, sucht an ästhetischer Qualität und inhaltlichem Witz seinesgleichen.
Häufig weist die Inszenierung durch bestimmte Elemente gerade auf deren Doppelbödigkeit hin. Das Goldene Haar ist allgegenwärtig als Zeichen von Pauls größtem Schatz – Haar als solches fungiert hier jedoch immer wieder auch als Vanitassymbol. Die Frauengestalten werden (als Folge eines Eingriffs?) ihrer Haarpracht teilweise beraubt und auch dem Neugeborenen werden die blonden Strähnen ausgerissen. Der die Bühne dominierende Sand spiegelt einerseits die Farbe des Haares wieder, steht andererseits für das versandete Brügge und Pauls verschüttetes Inneres, aus dem die Requisiten der Handlung freigelegt werden. Verstörend auch, wie einfach die Nähe zwischen feierlich getragenem Prozessionsaltar und Sarg hergestellt wird. Der ins Riesenhafte vergrößerte Zopf schließlich, in seiner Funktion eher ein ausgewachsenes Seil, findet mit dem Bild des Tauziehens noch einmal eine Entsprechung für den grundsätzlichen Konflikt – Mann und Frau heißt hier Mann gegen Frau.
Und auch bezogen auf die Personenregie verstehen die Verantwortlichen ihr Handwerk. Niemand steht dumm herum, die Abläufe vom großen Ganzen bis zur Geste im Detail sitzen. Zudem werden die Darsteller bei den wichtigen Stellen erfreulich sängerfreundlich positioniert – Rampennähe ohne tumbe Rampensteherei. Die Behandlung der Ensemble- und Chorszenen erfolgt in der gleichen plausiblen, organischen Weise – selbst wenn es sich um etwas Artifizielles wie den zombiehaften Gang des Prozessionschores handelt. Der sinnhafte Einsatz von Statisten trägt zudem – neben den überaus gelungenen Kostümen – einiges zur dichten Atmosphäre der Inszenierung bei. Ein Beispiel hierfür sind die braven Bürger Brügges, die in ihrem maskenhaften, zugeknöpften Auftreten, die immergleichen, beinahe übersprungshandlungsartig ausgeführten floskelhaften Gesten repetierend – der Blick auf die Uhr, eine knappe stumme Begrüßung – die schon fast mumifiziert-moralinsaure Kleinbürgerlichkeit umherstolzieren lassen.
Zur musikalischen Güte des Abends möchte ich gar nicht so viele Worte verlieren. Außer Frage steht, daß Simone Young uns mit ihren Philharmonikern heute eine der stärksten Leistungen geschenkt hat, die ich in ihrer Hamburger Amtszeit erleben durfte. Besser ist der Korngoldsche Klangfarbenrausch live nicht umzusetzen. Für eine besonders angenehme Überraschung sorgte das herrlich aufgelegte Ensemble der Komödiantentruppe mit ihrer schillernd morbiden Spiegelung Brügges in den Kanälen Venedigs.
Bei der Betrachtung der Solisten ragt Herr Vogt turmhoch heraus. Auch die übrigen Sänger liefern Ordentliches ab, aber hier kann man wohl tatsächlich von einer absoluten Idealbesetzung für die Rolle des Paul sprechen. Während Herr Vasar als angehender Todesbote seine schöne Stimme weitgehend unlyrisch mit Schwerpunkt auf Lautstärke ins heldisch-gaumige verdröhnt, Frau Damian ihre ebenfalls schöne Stimme relativ diktionsschwach ins Auditorium sendet und Frau Miller zwar hier und da mit den Tutti zu kämpfen, ihre eindrucksvollsten Momente aber ohnehin in den zarten Passagen des 3. Bildes hat, ist der unbestreitbare stimmliche wie darstellerische Dreh- und Angelpunkt durch den Ausnahmetenor reserviert.
Auch wenn ich persönlich dem mitunter fast androgynen, entkörperlicht-klaren Charakter von Vogts Stimme in der Vergangenheit durchaus eher zwiespältig gegenüberstand, gerät seine Kunst zum Ereignis des Abends. Überraschend heldisch in den dynamischen Spitzen, auch das ärgste Orchestertutti durchschneidend, durchweg mit lupenreiner Diktion und schließlich in den innigen Momenten der Partie von einer berückend-fragilen Anmut, die in ihrem dem Leben entrückten Kristallklang der Zerrissenheit Pauls verstörenden Ausdruck verleiht. Die Darstellung, zwischen wahnhafter Raserei und Selbstauflösung changierend, unterstreicht den Eindruck eines Mannes, der, seiner geistigen und seelischen Gesundheit beraubt, das Diesseits für sich und sein direktes Umfeld zum permanenten Fegefeuer werden läßt. Das ungeborene Leben als reale Konsequenz seiner auf Verdrängung ausgerichteten Existenz ist ein eindringliches Bild und unmißverständlicher Appell, aus Traum zu Verantwortung zu gelangen – der im Falle Pauls leider ungehört bleibt.
Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Simone Young
Inszenierung – Karoline Gruber
Bühnenbild – Roy Spahn
Kostüme – Mechthild Seipel
Licht – Hans Toelstede
Chor – Eberhard Friedrich
Hamburger Alsterspatzen – Jürgen Luhn
Dramaturgie – Kerstin Schüssler-Bach
Choreografie – Stefanie Erb
Spielleitung – Heide Stock
Musikalische Assistenz – Daniel Carter
Paul – Klaus Florian Vogt
Marietta/Die Erscheinung Mariens – Meagan Miller
Frank/Fritz – Lauri Vasar
Brigitta – Cristina Damian
Juliette – Mélissa Petit
Lucienne – Gabriele Rossmanith
Victorin – Jun-Sang Han
Graf Albert – Jürgen Sacher
Philharmoniker Hamburg