19:30 Uhr, freie Platzwahl
Es scheint was dran zu sein an dem alten Spruch, des Menschen liebste Tätigkeit sei es doch, anderen Menschen bei der Arbeit zuzusehen. Zumindest legt dies der gleichsam verblüffende wie erfreuliche Anblick einer gut gefüllten Laeiszhalle nahe, wo heute weder die Aussicht auf Solisten von Weltgeltung noch ein besonders straßenfegerartiges Programm lockte, sondern ein schlichter Blick über probende Musikerschultern. Nun gut, der Faktor „Freier Eintritt“ wird seinen Anteil daran gehabt haben – geschenkt. Ohne ein ehrliches Interesse an der gemeinsamen Arbeit der Hamburger Symphoniker und ihres Chefs scheint mir ein derartiger Zuspruch dennoch unwahrscheinlich, schließlich gibt es durchaus andere Möglichkeiten kurzweiliger Abendgestaltung.
Nach einer guten Stunde „Close-Up“ hat sich schließlich freudige Erwartung in wohlige Gewissheit gewandelt – Es ist eine Wonne, Jeffrey Tate und sein Orchester bei der Probenarbeit begleiten zu dürfen. Die verschiedenen Kameras sorgen mit ihren Möglichkeiten der visuellen Orientierungshilfe für den idealen Rahmen, ansonsten ist die Angelegenheit erfreulich wenig an etwaige Befindlichkeiten der Beiwohnenden angepasst. Zu Beginn eines jeden Satzes der zu probenden Suite on English Folk Tunes „A Time there was“ von Benjamin Britten spricht Tate ein paar Worte zu Herkunft oder Inhalt der jeweiligen darin vom Komponisten verarbeiteten Melodien bzw. Lieder, deren musikalische Urform wiederum vom Konzertmeister oder einer Sängerin vorgestellt wird.
Das war es dann auch schon an Interaktion mit dem Publikum – glücklicherweise, schließlich versprach die Veranstaltungsankündigung einem „echten“ Einblick in die Probenarbeit eines Orchesters und nicht etwa eine moderierte Probe oder gar Crashkurs in Orchesterarbeit. So folgt nach dem ersten Durchspielen die gewissenhafte, mitunter mühsame und kleinteilige Arbeit an der Umsetzung der Partitur im Sinne des Dirigenten, der wiederum den Intentionen des Komponisten möglichst genau Rechnung zu tragen gewillt ist. An kritischen Stellen wird solange neu angesetzt, bis Tate seine Vorstellung zumindest weitgehend vermittelt sieht.
Diese Arbeit stellt die tongewordene Antwort auf die gern in naiv-provokanter Banausenweise geäußerte Frage, wozu ein Dirigent denn überhaupt Nutze sei. Sicher, die Instrumentalisten der Hamburger Symphoniker haben – Profis wie sie sind – ihre jeweiligen Stimmen gelernt oder aufgefrischt und wären sicher auch ohne einen Taktgeber in der Lage, vor allem altbekannte und oft intonierte Werke unfallfrei durchzuspielen. Nun handelt es sich bei Brittens Suite offenbar um ein opus, das neu für die Damen und Herren Musiker zu sein scheint, und das Verblüffende wie gleichsam Verständliche liegt darin, daß man dies – Profi hin, Profi her – beim ersten Durchspielen teilweise auch deutlich vernimmt.
Bitte nicht falsch verstehen – ich schätze die Hamburger Symphoniker als herausragenden Klangkörper, es ist nur für mich, der ihr Wirken gewöhnlich in der vollendeten Einstellung eines Konzertabends bewundert, besonders spannend zu sehen, daß auch in dieser Liga die Meister nicht vom Himmel fallen, sondern vor akustischer Perfektion harte Arbeit steht. Stellen, die sich besonders hartnäckig widersetzen, werden beispielsweise in verlangsamten Tempo mit den entsprechenden Orchestergruppen verinnerlicht, um sie dann auch in Regulärgeschwindigkeit zu bestehen.
Interessanter als das Umschiffen dieser rein technischen Klippen ist jedoch die Erarbeitung der Feinheiten in Interpretation und Ausdruck. Tates Schwerpunkt liegt hier – wie man schon aus dem Konzertbetrieb erahnen konnte – häufig im Herausarbeiten dynamischer Abstufungen. Im Zweifel wird eher heruntergeregelt, gemäßigt, um dann den Kontrast zu den Spitzen besonders deutlich zu gestalten. Weiterhin kommt der feinfühligen Realisierung von gesanglichen Linien eine große Bedeutung zu, sei es im Ganzen, in den Stimmen oder auch in Solopassagen („Peter!“) – zur Not trägt der Maestro auch mal die Ausführung eins Bogens aus eigener Kehle vor.
Dabei ist Tates Tonfall generell zwar bestimmt und fordernd, aber immer geduldig und aufbauend. Er verwendet wenig Worte für die Umschreibung dessen, was ihm vorschwebt, gerade in Bezug auf den angestrebten Ausdruck ist es faszinierend, wie knapp und präzise Tate formuliert, ohne sich in elegischen Umschreibungen zu ergehen. Trotzdem setzt er hier und da illustrative Vokabeln ein, wo es beispielsweise aus dem dem Lied zugrunde liegenden Text ableitbar und hilfreich für seine Musiker ist („hier mehr drohend – die Mutter ist böse!“).
Bei alledem ist die Atmosphäre konzentriert, aber, soweit ich das als Außenstehender überhaupt beurteilen kann, durch die besonnene Art des Chefdirigenten gleichzeitig fern jeder Drangsal. Tate weiß genau, was er will und geht dem konsequent nach, vergisst dabei aber z.B. auch nicht zu loben, wenn etwas gelungen oder auf dem richtigen Weg ist. Ein trockener, dabei sehr herzlicher Humor („das klingt bei Britten nicht nett, eher Mittelalter – Game-of-Thrones-like“) läßt diesem großen Dirigenten neben tiefstem künstlerischen Respekt auch die Sympathien des Publikums zufliegen.
Ich kann nur hoffen, daß das Konzept „Close-Up“ in Zukunft als fester Bestandteil bei den Hamburger Symphonikern eingeplant wird – diesem Orchester und seinem Chef ist man gerne nah.