9. April 2015

Gustav Mahler Jugendorchester – Jonathan Nott.
Laeiszhalle Hamburg.

20:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 16



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 2 c-Moll „Auferstehung“
(Chen Reiss – Sopran, Christa Mayer – Alt, EuropaChorAkademie)



Eine Erinnerung aus Kindertagen: Der Kopf in wohlige Taubheit gepackt. Finger, die sich dick anfühlen. Ein seltsamer Geschmack im Mund. Kennt man das? Ich kenne das. Ein Gefühl, vielmehr ein Zustand, der in meiner Kindheit recht häufig auftrat – zumindest bilde ich mir das ein – und der aus meinem Alltag verschwunden scheint. Von Zeit zu Zeit zurückgerufen durch besonders intensive Sinneseindrücke – wie die rauschhafte Gewalt, mit der heute Mahlers Zweite, insbesondere ihr Finalsatz, auf mich einstürzte.

Jonathan Nott meint es wirklich ernst, und er macht Ernst. Nach einer kaum verwindbar schmerzensreichen Neunten (Link) legte er heute eine gemeingefährliche Zweite nach und hat sich damit bei mir endgültig einen Platz im Kreise der besten Mahler-Dirigenten der Gegenwart gesichert. Nach dem Verklingen des letzen Akkordes hielt der Eindruck, soeben von einem ungebremsten Güterzug überrollt worden zu sein, ebenso wie dessen nachtönendes Indiz in den Ohren noch eine beachtliche Weile an – letzteres muß beileibe nicht als Gütesiegel gelten, ruft sonst eher Sorge um die akustische Unversehrtheit hervor – diesmal dachte ich mir nur: Ums Verrecken durfte mir dieser Höllenritt gen Himmel nicht durch die Lappen gehen!

In Reihe Fünf, im Zentrum der Entladungen, wohnte ich einem Konzert bei, das zwar weder durch technische Perfektion noch die Befriedigung all meiner ästhetischen Vorlieben punktete, umso mehr jedoch durch die bedingungslose, schroffe Lesart des alt bekannten und jedesmal neu geliebten Werks. Auf jeden Fall nicht die schlechteste Einstiegsempfehlung in das Mahlersche Œuvre, spätestens das Finale ist in Sachen Beeindruckungspotenzial kaum zu toppen. Sollte man zumindest meinen – der mal abwesende, mal irritierte Blick aus nebensitzenden Schüleraugen war wieder einmal ein schöner Beleg für die alte Volksweisheit „Wo nichts drin ist, kann auch nichts rauskommen“.

Egal. Was nehme ich für mich – unabhängig vom süffigen Gefühl der Erbauung und Berauschung – aus dem Abend mit? Daß Jonathan Nott der ideale Sparringspartner für Jugendorchester zu sein scheint. Einfach den jungen Damen und Herren ordentlich Zunder geben, das Außerordentliche anstreben. Da spielt es am Ende kaum noch eine Rolle, daß das Orchester hier und da mit kleinen technischen Problemen (Zusammenspiel/Einsätze; Intonation) zu kämpfen hatte, die Partitur fordert eben auch gewaltig. Viel wichtiger, daß der leidenschaftliche Ansatz Notts auch die Leidenschaft der jungen Musiker entfesselte. Er forciert, bringt Schärfe, beschleunigt – gleich die treibenden Streicherakzente des ersten Satzes geraten in diesem Konzept zu regelrechten Hieben.

Insbesondere den agilen, voranstürmenden Passagen kommt die Interpretation zugute, die kontemplativen Momente geraten hingegen zum Teil weniger anrührend als gehofft, was in erster Linie jedoch dem Orchester als solchem geschuldet ist, das mitunter Schmelz und die kollektive wie individuelle Fähigkeit für die erforderlichen Feinheiten vermissen lässt. Besonders spannend war es jedoch zu erleben, wie trotz krassester Klangballungen das Gefüge weitgehend durchhörbar blieb – Ein verblüffender Effekt, der gerade mit geschlossenen Augen besonders intensiv zu bestaunen war und noch im ohrenbetäubendsten Tutti für die ein oder andere neue Entdeckung sorgte.

Einzig der Chor schien mir entweder zu dünn besetzt oder etwas schwach auf der Brust. Jedenfalls fiel es den Damen und Herren teilweise schwer, gegen das Orchester anzukommen. Aber auch der a capella Einsatz der Herren hätte beispielsweise durchaus kräftiger ausfallen dürfen. Noch ein paar Worte zu den Solistinnen. Während ich mit Frau Mayers Stimme als solche nicht viel anzufangen wußte – weder Klangfarbe noch Ausdruck konnten dem Urlicht zum gewohnten innigen Höhepunkt verhelfen – muß ich ihr in puncto Diktion mein Kompliment aussprechen. Davon kann sich Frau Reiss durchaus noch etwas abschauen – die abgesehen davon natürlich ohne Zweifel über ein bezauberndes Organ verfügt.

Jetzt habe ich doch letztendlich viel herumgekrittelt, viel mehr, als es der fulminante Gesamteindruck vielleicht verdient gehabt hätte. Aber auch hier gilt wieder mal: Das Ergebnis ist mehr als die Summe seiner Einzelteile. Und der Gewinner des Abends ist ohnehin der Schöpfer dieses großen wie großartigen Werkes, das wie kaum ein zweites der Frage nach den letzten Dingen das Menschenmögliche entgegensetzt.