22. Januar 2019

Münchner Philharmoniker – Valery Gergiev.
Elbphilharmonie Hamburg

19:00 Uhr Einführung, 20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 2, Platz 3



Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 4 G-Dur für großes Orchester und Sopran

(Pause)

Gustav Mahler – Das Lied von der Erde / Eine Sinfonie für eine Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-) Stimme und Orchester

(Münchner Philharmoniker, Genia Kühmeier – Sopran, Tanja Ariane Baumgartner – Mezzosopran, Andreas Schager – Tenor, Dirigent – Valery Gergiev)



Valery Gergiev macht es richtig: Die Sänger einfach erhöht hinter dem Orchester postieren – fertig. Hat schon bei Jolanthe (Link) geklappt, hat heute wieder geklappt. Scheint im Übrigen auch keine Atomphysik zu sein, denn bereits kurz nach dem Eröffnungskonzert war ich verblüfft ob der Tatsache, wie präsent doch die Sänger in Beethovens Missa solemnis (Link) waren, und – oh Wunder – wo hatte Herr Tate sie damals hingestellt? Ganz genau.

Daher muss auch nicht länger herumgefaselt werden, ob groß besetzte Werke mit Chor und/oder Gesangssolisten im großen Saal funktionieren – sie tun es. Wer sich immer noch darüber beschwert, dass er hinter dem Orchester sitzend nicht den gleichen Klangeindruck genießt wie im Parkett oder im Bereich 13 bzw. 15 vor der Bühne, pinkelt wahrscheinlich auch gern mal gegen den Wind und wundert sich dann, dass er nass wird. Haben diese Leute eigentlich mal ein Konzert in der Laeiszhalle oder in welcher Scheune auch immer besucht, bei dem die ein oder andere bemitleidenswerte Dame bei Brünnhildes Schlussgesang in Konkurrenz zum unverdeckten Orchester nicht im Flammenmeer, sondern Klangmassen untergegangen wäre? Aber wahrscheinlich sind das die gleichen Opfer die glauben, man käme nicht an Karten. Genug davon.

Die Münchner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten haben mit ihrem Mahler-Doublefeature heute aber mal so richtig gezeigt, was in diesem Saal möglich ist. Schon die „kleine“ Vierte wurde zum Triumph, das Lied von der Erde schließlich war buchstäblich nicht von dieser Welt. Dabei ist Gergievs Dirigat gar nicht mal so, wie ich mir das theoretisch wünschen würde – aber hier merkt man wieder, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind. Bei ihm liegt der Schwerpunkt weniger auf den scharfen Kontrasten, gerade im Tempo, wie ich es oft bei Dirigenten mag, sondern er gewinnt die Spannung eher aus einer Art dauernervösen Reibung, die das Energielevel unentwegt hoch hält. So kommt der „Schellenbeginn“ der Vierten im reinen Tempo eher bedächtig denn rasch daher, trotzdem entfaltet sich im Laufe des Satzes ein Sog, der seinesgleichen sucht. Natürlich kann Gergiev dabei auch auf die klangliche Qualität seines Orchesters bauen. Alles in allem eine sehr runde, organisch fließende Angelegenheit, aber eben wie angedeutet keinesfalls entspannt – das stünde Mahler auch schlecht zu Gesicht.

So sehr ich die Vierte liebe – von den Narrenschellen über die Todesfidel, dem himmlischen Adagio mit seinen vorweggenommenen Anklängen ans Adagietto und „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ bis zum wortgemäßen Finale im Himmel, heute wunderbar ätherisch getragen vom feinen Sopran Genia Kühmeiers – das Ereignis des Abends traf die Zuhörerschaft in Form eines Lied von der Erde, welches meinem elektrisierten Verstand und malträtiertem Herzchen kaum steigerungsfähig erscheint. Den Vergleich zum vielbejaulten Kaufmann-Konzert zu bemühen, kommt einer Majestätsbeleidigung Gergievs gleich, so immens differenzierter, zwingender und vor allem berührender, um nicht zu sagen bis ins Mark erschütternd ist dessen Interpretation im Gegensatz zur zähen Angelegenheit vor nicht einmal zwei Wochen.

Die Kombination Schager/Baumgartner darf in diesem Zusammenhang keinesfalls vernachlässigt werden. Ich bin der Stimme Kaufmanns verfallen, keine Frage, aber für die satzweisen Stimm-Kontraste in Bezug auf Ausdruck und Klangfarbe gibt es meiner Ansicht nach keine Alternative zur Besetzung zweier Sänger. Herr Schager mag vielleicht nicht über den Schmelz Kaufmanns verfügen, aber seine kraftvolle, ja überbordend virile Gestaltung der Tenor-Sätze transportierte das Unerbittliche, verbittert Trotzige dieser Gedichte ungleich packender. Der Kontrast zum warmen Timbre Baumgartners geriet umso bestechender, die alle Nuancen von Ruhe, Sehnsucht, Wehmut, Melancholie, Trauer bis hin zur entrückten Transzendenz des Abschieds auf das Berührendste durchlebte.

Ja, der Abschied. Sinfoniesatz? Lied? Gebet? Nahtoderfahrung? Wenn er so gegeben wird wie heute in jedem Fall eine der intimsten, unweltlichsten Äußerungen, die je in Töne gesetzt wurden. Eine Qualität von Bewußtseinsberührung, der man sich im Hinblick auf ein Funktionieren im Alltag nicht allzu oft aussetzen sollte, auch wenn das „Ewig“ noch so sehrend ruft.