28. Oktober 2017

Mathis der Maler – Rasmus Baumann.
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen.

19:30 Uhr, Parkett links, Tür 1, Reihe 4, Platz 110



„Was ist Kunst dem Menschen in Ausweglosigkeit? Beziehungsweise dem Künstler? Existenzielle Äußerung des Menschseins in unmenschlicher Zeit? Triebfeder einer Existenz ohne Perspektive?“ – die einleitenden Gedanken, welche ich nach meinem ersten Besuch an diesem Hause, zur Produktion „Der Kaiser von Atlantis“ (Link) an der kleinen Bühne des MiR festhielt, lassen sich in verblüffender Deckungsgleichheit auch auf das heute einen Steinwurf Erlebte übertragen. Bezog sich die Fragestellung seinerzeit insbesondere auf die Umstände der Entstehung, so trifft sie auf Hindemiths Oper gleich in doppelter Weise zu. Schrieb Ullmann sein Werk als Häftling in Theresienstadt, fällt die Entstehung von „Mathis der Maler“ in die Anfänge des Regime-Terrors gut zehn Jahre zuvor – die Bücherverbrennung im dritten Bild als erschreckender Widerhall der Geschehnisse 1933. Zum anderen stellt Hindemiths Arbeit aber auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Stellenwert des Künstlers und seiner Kunst in Zeiten gesellschaftlicher Zersetzung, im Angesicht von Krieg, Hunger und Not dar. Wenn man so will die letzte Konsequenz in der langen Tradition von Künstleropern wie dem Tannhäuser, den Meistersingern oder Pfitzners Palestrina.

Das Theater Gelsenkirchen beweist nach dem eindringlichen Kammerspiel Ullmanns, dass es auch ein Riesenwerk wie Hindemiths Mathis zu stemmen in der Lage ist, und das in bestechender musikalischer wie szenischer Qualität. Orchester, Chor und Ensemble hinterlassen einen durchweg starken, homogenen Eindruck. Der Sänger der Hauptpartie besitzt einen eher lyrischen Bariton, was dem Mathis eine deutlich weichere Färbung gibt, als ich sie vor Jahren in der Hamburger Inszenierung durch das imposant-ehrfurchtgebietende Organ eines Falk Struckmann vermittelt bekam. Yamina Maamar als Ursula hat einen leicht herben Einschlag, an den ich mich etwas gewöhnen musste, aber abgesehen davon füllt sie die Rolle darstellerisch wie stimmlich sehr intensiv aus. Tobias Haaks überzeugt mit strahlendem Tenor, Bele Kumberger als seine Tochter zart und verletzlich. Martin Homrich verkörpert den zerrissenen Fürsten mit all seinen Facetten – Autorität und Last der Macht, politische Verpflichtung sowie privater Glaube und persönliche Wünsche.

Die Regie siedelt den Konflikt zwischen den Konfessionen sowie zwischen einfachem Volk und Adel in einer Art überzeitlichen Gegenwart an. Mathis wird als avantgardistischer Künstler gezeichnet, dessen Werk von den „Schwarzröcken“ – in diesem Fall kunstsinnige Vernissage-Gänger statt Kleriker – in betont kritischer Pose bestaunt wird. Sein größter Fan und Mäzen, der Kardinal und Landesfürst, hat eine ganze Schatzkammer voll Exponate aus allen Epochen, da darf der neueste Mathis natürlich nicht fehlen. Wenig verwunderlich, dass angesichts des aktuellen Kriegs gegen Ketzer und Bauern die Staatskasse leer ist und die Erschließung neuer Geldquellen höchste Dringlichkeit besitzt.

Diese Situation suchen die Protestanten wiederum für ihre Ziele zu nutzen, indem sie, bzw. Luther selbst brieflich, dem Kardinal eine Vernunftehe mit Ursula, der Tochter eines reichen Bürgers und Neugläubigen, schmackhaft zu machen versuchen. Während sich an dieser Konstellation der politische Zündstoff des Stückes entzündet, ist Mathis’ Konflikt ein persönlicher. Gleich zu Beginn der Oper fragt er sich selbst, ob sein Schaffen genug sei im Angesicht der Auseinandersetzungen seiner Zeit. Der Bauernführer Hans Schwalb wird ihm wenig später die Frage erneut direkt stellen (interessanterweise mit der gleichen Gesangslinie), als er und seine Tochter bei dem Künstler Schutz vor ihren Verfolgern suchen. Diese Frage ist es, die Mathis in der Folge Partei ergreifen lässt für die Schwachen, ob geknechtete Bauern oder die durch eben jene bedrohte Gräfin Helfenstein, aber letztendlich, nach der großen Vision im zweitletzten Bild, doch wieder auf seine Kunst zurückwirft.

Die Inszenierung funktioniert auf allen Ebenen ausgesprochen gut. Das modulare Bühnenbild mit seinen frei verschiebbaren Wandelementen ermöglicht schnelle Wechsel zwischen den oft beinahe nahtlos ineinander übergehenden Bildern. So wird in Windeseile aus dem überschaubaren Atelier Mathis’ eine repräsentative Halle am Hofe Albrechts von Brandenburg. Die einzelnen Kompartimente zitieren wiederum in ihrem Stil die Architektur des Mittelalters, Rundbögen, verputzte Gewölbe und schaffen einen Kontrast zu den Kostümen aktueller Couleur: Mathis im weißen Anzug mit Fliege, leicht dandyhaft, seine Ausnahmestellung betonend; der Kardinal beim offiziellen Anlass mit Bischofshut und prächtiger Robe, aber auch verspiegelter Sonnenbrille, ansonsten in edlem Zwirn wie seine Entourage, bis er schließlich nach seinem Sinneswandel Pullunder und Käppi als Büßergewand wählt. Hans Schwalb martialisch mit Bomberjacke, Tarnhose und Armeestiefeln, das Bauernheer ein zusammengewürfelter Haufen, eine zeitgenössische Miliz. Die Soldaten der Staatsgewalt hingegen betont unkonkret, ausgestattet mit Protektoren und Helmen aus dem Sportbereich, ihre Führer geschmackvoll gekleidet mit Trenchcoat, auch wenn ihr Auftreten und Handeln wenig Geschmackvolles hat.

Brutalität und Gewalt durchziehen die Oper, in diesem Zusammenhang gebührt dem Regieteam großes Lob für die Visualisierung dieser Szenen. Die Erfahrung zeigt, dass allzu plattes Realismusstreben hier häufig kontraproduktiv wirkt, in diese Falle tappt man in Gelsenkirchen nicht. Drei Beispiele: Das Aufeinandertreffen zwischen Katholiken und Protestanten gipfelt in einer Tortenschlacht, was einerseits illustriert, wie kindisch der Glaubenszwist ist, es den Beteiligten andererseits ermöglicht, sehr physisch zu Werke zu gehen. Die Folter und Ermordung des Grafen durch den Bauernmob wird zwar sehr realistisch dargestellt, allerdings sorgt die Verwendung von schwarzer statt roter Farbe für das Blut für ein gewisses abstraktes Moment. Bei der Vergewaltigung seiner Frau übernimmt eine weibliche Darstellerin die Rolle des Schänders, was deutlich macht, dass Gewalt und Missbrauch geschlechtsunabhängig von den Menschen Besitz ergriffen haben.

Die Personenregie offenbart einen überaus genauen Blick auf den Text, etwa wenn gleich von Anfang ein eine Beziehung zwischen Mathis und Ursula gezeigt wird oder auch wie herrlich die Ironie unterstützt wird, wenn von der seltsamen Reliquienvermehrung die Rede ist: das „Heiligste“ wird von zwei kaugummikauenden Presenterinnen überaus weltlich in Szene gesetzt – Erlösung aus dem Teleshop. Die große Vision Mathis’ besticht durch überbordende Ideenfülle und Intensität: Das naive Bild der betenden Engel, Ursula gleichsam als Heilige (die Farbe Blau/Marienfigur) und Hure (Lackstiefel unter dem Gewand), generell alle „verzerrten“ Figuren, angefangen bei Schwalb, der als bizarrer General wiederkehrt bis hin zum grell-grotesken Personal der Hölle, die sich aus dem Bühnenschlund auftut. Einfach starke Bilder.

Und mit einem starken Bild endet auch diese Produktion: der Schlagbaum ins Nichts. Regina, nunmehr Aktivistin („Stop War“), wird direkt, nachdem sie ihn passiert hat, inhaftiert, abgeführt. Dann folgt Mathis. Er hat sein Päckchen gepackt, der Künstler geht in eine ungewisse Zukunft – Ullmann wurde in Ausschwitz ermordet, Hindemith verließ seine Heimat als Emigrant.


Mathis der Maler – Paul Hindemith
Musikalische Leitung – Rasmus Baumann
Inszenierung – Michael Schulz
Bühne – Heike Scheele
Kostüme – Renée Listerdal
Licht – Patrick Fuchs
Dramaturgie – Gabriele Wiesmüller
Chor – Alexander Eberle

Mathis, ein Maler am Hof Albrechts – Urban Malmberg
Albrecht von Brandenburg – Martin Homrich
Riedinger – Luciano Batinić
Ursula, Riedingers Tochter – Yamina Maamar
Hans Schwalb – Tobias Haaks
Regina, Schwalbs Tochter – Bele Kumberger
Wolfgang Capito – Edward Lee
Lorenz von Pommersfelden – Joachim Gabriel Maaß
Gräfin Helfenstein – Almuth Herbst
Truchseß von Waldenburg – Jacoub Eisa
Sylvester von Schaumburg – Tobias Glagau
Der Pfeifer des Grafen – Apostolos Kanaris

Opern- und Extrachor des Musiktheater im Revier
Statisterie des Musiktheater im Revier
Neue Philharmonie Westfalen