15. Februar 2017

Lulu – Kent Nagano.
Hamburgische Staatsoper.

19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 4, Platz 16



Seit beinahe zwei Jahren wieder in der hiesigen Staatsoper, das erste Mal unter der Stabführung des gar nicht mehr so neuen GMD – was für ein Abend! Diese Lulu stellt die Antennen neu ein. Für ein Orchester, das deutlich feiner klingt, als ich es in Erinnerung hatte. Nichts Grobes haftet ihm an, ob Streicher oder Bläser, Naganos Musiker sorgen für ein feines Klanggewebe. Die Akustik selbst ist etwas problematisch. Das Orchester ist sehr präsent, die Stimmen bedingt. An der Rampe geht es, sonst wird es teilweise schwierig. Ich bilde mir ein, dass es in der kompakteren Szenerie von Dr. Schöns Wohnung im zweiten Akt besser funktionierte, oder vielleicht hatten sich die elbphilharmonie-verwöhnten Ohren da bereits neu justiert.

Aber ob heute nun Antennen, Ohren oder der siebte Sinn berührt wurden – von akustischen Details abgesehen ist der komplette Abend ein Triumph. Ein Triumph Marthalers, ein Triumph Hannigans und nicht zuletzt ein Triumph Bergs. Natürlich wird die Aufführung von Frau Hannigan getragen, deren Auftritt die Grenzen des Sängerdarstellers sprengt. Gesang, Schauspiel, eine das Artistische mehr als streifende Körperlichkeit, Bewegung, Gestik und Tanz als voll integrierte Facetten der Charakterdarstellung und des Ausdruckstransports – einmal davon abgesehen, dass ihre Stimme allein sie bereits als Idealbesetzung für diese Rolle prädestinierte. Aber in Marthalers betont artifizieller Inszenierung wird diese Sängerin vollends zum Ereignis.

Nicht Naturalismus und „Realismus“, sondern die Entmenschlichung des Menschlichen unter dem Brennglas einer unnahbaren Dekonstruktion, die die Fallhöhe für Erschütterung und Anteilnahme etabliert. Fordernd, anstrengend, komplex. Die Darsteller halb angezogenen Puppen gleich, unfertig, unzulänglich – Ausnahmen: die Statisten, der Bühnenarbeiter und Lulu. Das Ausgestellte, wie es in der „Hereinspaziert, in die Menagerie“-Vorrede des Dompteurs postuliert wird, bleibt allgegenwärtig – Podeste; eine Bühne auf der Bühne. Symptomatisch der Dialog zwischen Lulu und dem Maler. Jeder sitzt auf einem Stuhl in größtmöglicher Entfernung, das Sprechen ist betont ausdruckslos, keine physische und inhaltliche Nähe ist erkennbar. Zerrüttend, zersetzend schließlich die Eheszene im 2. Akt. Er berührt sie am Arm, sie fasst die Stelle an – was ist Liebe? Nur Sentimentalität?

Schmeckenbecher schafft hier, trotz der unausweichlichen Unterlegenheit, ein intensives Gegengewicht zu Hannigan. Die Körperlichkeit der zur Schau gestellten Gewalt gegen Lulu im Parisbild bereitet größtes Unwohlsein, macht den Schmerz unmittelbar erlebbar. Ähnlich wie bei der Verfolgung Lulus durch den liebestollen Schwärmer eingangs des ersten Aktes, die als schier endlose Folge rückwärts von der Sängerin geschlagener Purzelbäume aus dem Bett abstrahiert wird, ist das halsbrecherische Moment hier keine Metapher, sondern greifbare Bedrohung.

Die Musik Bergs offenbart einmal mehr ihre emotionale Kraft jenseits analytischer Reißbrettkonzeptionen und ihre Vorbildfunktion für Komponisten wie Britten, musikalisch wie dramatisch – Der Mensch, die ärmste/traurigste Kreatur. Das nackte Particell des dritten Aktes funktioniert überraschend eindringlich, offenbart einen Violinkonzertmoment in der Parisszene. Schade, dass ebenfalls auf die instrumentierte Fassung des Finales verzichtet wurde, wahrscheinlich im Hinblick auf den daran anknüpfenden Einsatz des Violinkonzertes. Jenes als Schwanengesang ans Ende zu stellen, verfehlt, gerade im Zusammenhang mit der anrührend-fragilen „Gebärdensprachen“-Choreografie der Frauen um Lulu, seine Wirkung nicht. Verlöschende Gedanken über erloschenes Leben, Lebenswillen, gegenseitiges Verletzen, Anziehung und Abstoßung.

So wie sich Lulu und mit ihr das Werk einfachen, schwarzweißen Kriterien wie gut und böse, Schuldiger und Opfer entziehen, unterstreicht die Inszenierung die Zerrissenheit und Ambivalenz der Titelfigur und die daraus resultierende Radikalität in der Wirkung auf ihre Umwelt. Mehr Naturgewalt denn femme fatale, kommt mir weniger der häufig genannte Vergleich zum trotzigen Kind Salome in den Sinn, sondern seltsamerweise eher eine Figur wie die Königin von Schemacha aus Rimski-Korsakows Oper „Der goldene Hahn“ – ohne Zweifel erliegen dem „Überweib“ hier wie dort die Männer in Scharen, missbrauchen sie aber im Umkehrschluss als Projektionsfläche für ihre persönlichen (Macht-)Phantasien.

Fazit: Eine Produktion, mit der die Hamburgische Staatsoper in der Opernwelt zurecht für Gesprächsstoff gesorgt hat – der sprichwörtliche große Wurf gelang.


Alban Berg – Lulu
Musikalische Leitung – Kent Nagano
Inszenierung – Christoph Marthaler
Bühnenbild und Kostüme – Anna Viebrock
Licht – Martin Gebhardt
Mitarbeit Regie – Joachim Rathke
Mitarbeit Kostüm – Otto Krause
Dramaturgie – Malte Ubenauf
Spielleitung – Petra Müller, Anja Krietsch
Musikalischer Assistent des Generalmusikdirektors – Nathan Brock
Leitung der Bühnenmusik – Johannes Harneit

Lulu – Barbara Hannigan
Gräfin Geschwitz – Anne Sophie von Otter
Dr. Schön/Jack – Jochen Schmeckenbecher
Alwa – Matthias Klink
Tierbändiger/Athlet – Zachary Altman
Schigolch – Sergei Leiferkus
Der Maler/Neger – Peter Lodahl
Eine Theatergarderobiere/Gymnasiast – Marta Świderska
Der Prinz/Kammerdiener/Marquis – Dietmar Kerschbaum
Der Medizinalrat Dr. Goll/Polizist/Professor – Martin Pawlowsky
Theaterdirektor – Denis Velev
Auguste Artinelli – Marc Bodnar
Bianetta Gazil — Liliana Benini
Madelaine de Marelle – Begoña Quiñones
Ludmilla Steinherz – Sasha Rau
Kadéga di Santa Croce – Sylvana Sedding
Eine Violinistin — Veronika Eberle
Ein Pianist — Bendix Dethleffsen

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg