19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 85 / Reihe 16, Platz 311
Abgesehen davon, dass Oper per se eine äußerst artifizielle Angelegenheit darstellt – wohlgemerkt als bloße Feststellung und keinesfalls Makel begriffen – legen die Gesetzmäßigkeiten der Belcanto-Ära ein besonders eindringliches Zeugnis dieses Umstandes ab. Was wird hier zu den schönsten Klängen gehasst, verflucht und vor allem gestorben! Mit geschlossenen Augen und des Italienischen unkundig ist es da eine Herausforderung zu unterscheiden – Trinklied oder doch der Kelch der Rache? Beides im Dreiviertel-Leierkasten-Takt denkbar. Experten werden solch Simplifizierung sicher vehement widersprechen, für mich als seltener Gast auf Koloratur-Serpentinen und spitzentonbeschneiten Stretta-Gipfeln birgt das Ganze neben Momenten der Irritation aber gerade darin ein ungeheures Potenzial für emotionale Fallhöhe – nämlich aus dem scheinbaren Gegensatz zwischen Gesagtem und Gesungenem. Richtig spannend, da haben die Rezeptoren in Herz und Hirn ordentlich was zu tun.
Sofern Qualität, oder anders gesagt Schönheit und Eigenständigkeit der Melodien in dem Maße gegeben sind, dass sie die Stufen nett und gefällig hinter sich lassen. Was in dieser Oper zumindest nach der ersten Durchsicht erst dann so richtig der Fall ist, wenn es für die titelgebende Regentin in Ketten wahrlich schwarz aussieht. Natürlich hilft es auch, wenn in der Beichtszene gleich zwei der drei besten Sänger des Abends einfühlsam über das tragische Schicksal duettieren, aber insgesamt scheint Herr Donizetti sich die ergreifendste Musik für den dritten Akt aufgehoben zu haben – Belcanto-Formelbaukasten hin oder her. Virtuosität ist Pflicht, das ist schon klar, mir persönlich liegen allerdings eher die getragenen, jedoch durch ihr Beharren auf ohrschmeichelnder Melodik nie ins Rührselige abgleitenden Passagen. Die Menge beklagt Marias bevorstehende Hinrichtung ergreifend, aber wohltönend, getragen von einem stoisch-edlen Trauermarsch, den das gedämpfte Blech eingangs des letzten Bildes etabliert. Auch das folgende Gebet, welches die Scheidende zusammen mit ihrem Gefolge spricht, gehört zu den großen Momenten dieser Oper, die mit einer regelrechten Todesverklärung schließt. Schmerz aus der unberührten Reinheit der Musik heraus anstelle von Heulen und Zähneknirschen – Augenblick verweile doch, du bist so traurig schön.
Heutiger Neuzugang in meinem Sammelalbum Spielstätten der Republik: Landestheater Schleswig-Holstein, Filiale Rendsburg. Ein Bau beachtlicher Größe für ein Städtchen relativer Überschaubarkeit schmückt einen Platz unweit des Bahnhofs. Kurze Wege, ein Vorzug, der mir noch Zugute kommen sollte. Nach meinem erfolgreichen Besuch in Flensburg vor nicht ganz zwei Jahren nun die Neuauflage mit GMD Sommerer und seinen Musikern. Die an das Rendsburger Platzangebot angepassten Sinfoniker kuscheln sich im Orchestergrübchen aneinander, der Kollege an der Pauke wird gar ins Proszenium ausgelagert. Drehte sich in den letzten Wochen durch den neuen Hamburger Musikspeicher A vieles um das Thema Akustik, lässt sich auch hier im gediegenen Saal feststellen, welchen Einfluss die Platzwahl auf das musikalische Erlebnis hat. In Reihe 4 ist der Orchesterklang wenig homogen, die Nähe zur verkleinerten Besetzung sorgt bei erhöhter Lautstärke für einen kantigen, mitunter schroffen Sound, wohingegen Solostellen von der unstrittigen Sensibilität der Musiker zeugen, etwa gleich zu Beginn die zarte Klarinettenlinie.
Ganz anders dann der Eindruck, nachdem ich in der Pause den Rückzug an den Rand von Reihe 16 angetreten hatte, um beim heute leider unvermeidlichen Blitzaufbruch zwecks Bahnverpassungsvermeidung meine Mitmenschen nicht unnötig zu stören. Hier, knapp unter dem Balkon bzw. Rang, wirkt das Orchester nicht nur homogener, sondern trotz der Entfernung präsenter, die Sänger dafür etwas zurückgenommen, was für die großen Stimmen des Abends jedoch kein Problem darstellte. Interessant, welch voluminösen Klang die relativ kleine Streichergruppe aus dieser Hörperspektive entfaltet. Das Blech strahlt und droht, wie man es sich nicht besser wünschen könnte. Einzelheiten, beispielsweise im Holz oder eine wunderbare Passage der Celli, sind gut zu vernehmen. Das einfühlsame Dirigat Sommerers kommt viel besser zur Geltung.
Ein kleiner Wermutstropfen schmeckt allerdings auf beiden Plätzen gleich bitter: Die Leistung des Herrn Choi wird der Tenorpartie kaum gerecht und fällt im Vergleich zu dem ansonsten tadellosen Ensemble auf fast schon brutale Weise ab. Der Eindruck aus dem Cardillac, wo er seinerzeit als Offizier eine weidlich unelegante Figur machte, bestätigte sich leider sehr deutlich. Die Stimme besitzt zwar eine gewisse Strahlkraft ab dem Forte, in das sich Herr Choi offenbar wann immer es sich anbietet (oder auch nicht) zu retten sucht, Schmelz und Wohllaut sucht das Ohr jedoch in jeder Lage vergebens. Von Piano- oder gar Pianissimo-Kultur ganz zu schweigen. Das permanente Forcieren war neben der angesprochenen Überlegung der Hauptgrund, nach der Pause auf Abstand zu gehen. Auch als Freund von Schmackes lasse ich mich nicht gern anschreien.
Dafür umso lieber von den Beiträgen der erstklassigen Troika Elisabetta/Maria/Giorgio in den Bann ziehen. Frau Mintzer gibt eine zwischen Stolz und Arroganz pendelnde Elisabeth, die sich ihrer Macht ebenso wie der Wirkung ihrer weiblichen Reize bewusst ist, mit sinnlichem Mezzo und ausdrucksstarkem Schauspiel. Wunderbar herablassend und kühl einerseits, dabei aber nicht unerotisch. Kai-Moritz von Blanckenburg als Giorgio Talbot gefällt mir von den Herren eindeutig am besten und knüpft nahtlos an die starke Leistung als Cardillac an – schöne, präsente Stimme, die auch in einfühlsamen Momenten besteht. Jene sind die ausgemachte Domäne von Eun-Joo Park in der Titelrolle, wobei ihr agil-flexibler Sopran auch alle virtuosen Hürden der Partie meistert. Wunderbar, wenn eine Sängerin nicht nur eine feine Stimme besitzt, sondern diese auch über den gesamten Dynamikbereich mit lebendiger, involvierender Phrasierung zum Glänzen zu bringen weiß.
Zur Inszenierung ist nicht viel zu sagen, brav-bekömmlich trifft es vielleicht. Mehr Zickenkrieg als Beziehungsdrama; Weltgeschichte, die wie das Schoßhündchen der Elisabetta in eine Edel-Handtasche passt. Rein narrativ funktioniert das schon, wahrscheinlich am Ende besser, als Reflexionsbemühungen mit dem Holzhammer.
Epilog: Auch wenn es mich mit dem Vorhang unhöflicherweise drängte, den Saal fluchtartig zu verlassen, stand diese Unart in keinster Weise in Verbindung zum gerade Erlebten. Zumindest konnte ich das ungenutzte Applausverlangen umgehend in Bewegungsenergie für den Sprint gen Bahnhof umwandeln, um in jeder Hinsicht hochzufrieden in die Polster des Regionalexpresses zu sinken.
Maria Stuarda – Gaetano Donizetti
Musikalische Leitung – Peter Sommerer
Inszenierung – Peter Grisebach
Ausstattung – Michele Lorenzini
Choreinstudierung – Bernd Stepputtis
Dramaturgie und Übertitel – Anne Sprenger
Elisabetta – Julia Mintzer
Maria Stuarda – Eun-Joo Park
Roberto, Graf von Leicester – Junghwan Choi
Giorgio Talbot – Kai-Moritz von Blanckenburg
Lord Guglielmo Cecil – Marin Müller
Anna Kennedy – Paulina Schulenburg
Hofstaat, Wachen, Dienerschaft u. a. – Opern- und Extrachor
Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester