27. April 2012

Endstation Sehnsucht.
Staatsoper Hamburg.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 12, Platz 4 bzw. 6



Zur Abwechslung mal Ballett. Das ein oder andere Neumeier-Stück hatte ich in Hamburg bereits besucht, neu für mich war diesmal, auf ein Orchester verzichten zu müssen und den Graben als erweiterte Tanzfläche abgedeckt zu sehen. Also Musik vom Band, im ersten Teil ergänzt durch einen vorzüglichen Pianisten.

Meine erste Begegnung mit dem berühmten Werk Tennessee Williams’. Den Film mit Marlon Brando habe ich nie gesehen, geschweige denn das Buch gelesen. Meine alte Krankheit – die Klassiker der Literaturgeschichte sind mir zumeist nur anhand ihres Auftretens in der Musikgeschichte bekannt. Shakespeare, Goethe, Puschkin, Mann und ihre Kollegen habe ich häufig erst durch Verdi, Berlioz, Tschaikowsky, Britten & Co. näher kennengelernt. Ein klarer Fall von Fachidiotismus.

Die Vermittlung einer Handlung durch die Form der Oper, verglichen mit dem gleichen Ansinnen in der Welt des Balletts – darüber mußte ich heute wiederholt nachdenken. Vergleiche ich Neumeiers Arbeit mit den bekannten Opernschemata, so erkenne ich darin ein sehr klassisches, operngemäßes Konzept. Wenn ich es auf den Punkt bringen müßte, würde ich es mit einer durchkomponierten Struktur vergleichen, in der Rezitativ und Arie jedoch deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Da sind zum einen Passagen getanzter Handlungsentwicklung, für meine Begriffe stark dem Schauspiel zuzurechnen, darüber hinaus gibt es immer wieder Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint und der Emotion in Form von arioser, tänzerischer Virtuosität Raum gegeben wird.

Für den geneigten Ballettfreund liegt die Parallele sicher auf der Hand, mir ist sie bislang nie bewußt geworden. Stellt sich mir die Frage, ob es möglich und üblich ist – analog der verschiedenen Operntypen – auch Ballette in verschiedene Kategorien bzw. gar entwicklungsgeschichtliche Vertreter einzuteilen. Nummernballett? Ballettdrama? Ballettweihfestspiel? Nur so ein Gedanke.

Der Abend hat mir gut gefallen, vor allem der Einsatz der Musik. Im ersten Teil Prokofjews „Visions fugitives“ als Trauergesang für den Fall des Hauses duBois, im zweiten Zimmermanns Collage-Sinfonie als Ausdruck einer neuen, lärmend-triebregierten Welt. Blanche hingegen lebt in einem Kokon der Erinnerungen. Der tödliche Schuß verhallt wieder und wieder, ihre Dämonen lassen sie auch in der Folge nicht los. Szenisch sehr eindrucksvoll, dabei mit einfachsten Mitteln, wird der Verfall von Familie und Anwesen visualisiert. Der sinkende Fassaden-Vorhang, der Kronleuchter, die fallenden Stühle mit den hilflos-puppenhaften Dahinsiechenden.

Im zweiten Teil dann prallen die Kulturen unvermittelt aufeinander. New Orleans feiert das Neue, verschlingt das Alte – und mit ihm Blanche. Die Musik Schnittkes vermittelt ideal die Melange der Kontraste: Jazz, Marsch, Trauermusik, Spätromantik, Barock, eindeutige Zitate (z.B. Beethoven), ein stetiges Neben- und Gegeneinander. Zu einer Musik der Kontraste kommt ein Tanzen der Kontraste. Besonders deutlich wird dies an den gegensätzlichen (Tanz-)Entwürfen der beiden weiblichen Hauptpartien Blanche und Stella. Da geht es auch um eine gänzlich verschiedene Form von Körperlichkeit. Blanche ist nicht für diesen kraftvollen, ja brutalen Entwurf gemacht, es bleibt ihr schließlich nur die Flucht in die alte – ihre innere Welt.


John Neumeier – Endstation Sehnsucht
Musik: Sergej Prokofjew – Visions fugitives, op. 22; Alfred Schnittke – Erste Sinfonie (Musik vom Tonträger; Richard Hoynes – Klavier)
Choreografie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept – John Neumeier

Blanche duBois – Silvia Azzoni
Shaw – Konstantin Tselikov
Ein Soldat – Kiran West
Kiefaber – Thomas Stuhrmann
Stella – Leslie Heylmann
Allan Gray / Zeitungsjunge / Arzt – Alexandr Trusch
Allans Freund – Edvin Revazov
Hochzeitsgäste – Kristína Borbélyová, Zachary Clark, Xue Lin, Dao Yuan Chen, Yun-Su Park, Florian Pohl, Zhaoqian Peng, Braulio Álvarez, Miljana Vračarić, Lennart Radtke, Sofia Schabus
Brautjungfern mit ihren Begleitern – Lucia Solari, Orkan Dann, Mariana Zanotto, Silvano Ballone
Mutter / Pflegerin – Laura Cazzaniga
Vater – Vladimir Kocić
Tante Jessie – Maude Andrey
Margarete – Patricia Tichy
Der General – Eduardo Bertini
Stanley Kowalski – Carsten Jung
Harold Mitchell – Lloyd Riggins
Die Stadt New Orleans – Yun-Su Park, Orkan Dann, Lucia Solari, Emanuel Amuchástegui, Patricia Tichy, Marcelino Libao, Mariana Zanotto, Silvano Ballone, Maude Audrey, Mayo Arii, Florencia Chinellato, Fubata Ishizaki, Xue Lin, Taisia Muratore, Yuka Oishi, Lucia Rios, Marc Jubete Bascompte, Aleix Martínez, Alban Pinet, Sasha Riva, Constant Vigier, Lizhong Wang