19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 6, Platz 16
Mahagonny ist ja mittlerweile so etwas wie meine Lieblingsoper zur Erprobung mir unbekannter Spielstätten geworden, hat sich mit den Jahren irgendwie ergeben. Ist halt ein tolles Stück, dessen Umsetzung gerade die Regieteams an kleineren Häusern erfahrungsgemäß zu besonders kreativen, radikalen oder zumindest interessanten Inszenierungen anzuregen scheint.
Auch die Produktion hier in Cottbus kann sich in der Beziehung sehen lassen. Nicht so anarchisch wie seinerzeit in Bremen (Link), aber doch um einiges phantasievoller als in Münster (Link), stimmte die Balance zwischen Anlehnung an das Libretto und eigenen Interpretationen. Das heruntergekommene, dann wieder in Stand gesetzte Jahrmarks-Fahrgeschäft als physische Manifestation der Netzestadt ist sehr gelungen – hereinspaziert, hereinspaziert. Die häufige Einbeziehung des Zuschauer- bzw. bühnenfremden Raums (An- und Abreise der Kunden; Mahagonny-Bewohner sitzen angelnd um den Orchestergraben und haben ihre Ruten in denselben ausgeworfen) unterstützt die Intention des Stückes, mit den Gewohnheiten des Publikums zu brechen, aktiviert die Aufmerksamkeit und unterminiert im Brechtschen Sinne die Bühnenillusion. Der Umbau der Szene wird demzufolge einfach bei heruntergelassenem eisernen Vorhang vollzogen. Für die „Ewige Kunst“-Parodie wird das Gebet einer Jungfrau auf einem herrlich verstimmten Klavier auf der Bühne intoniert – ebenso effektvoll wie inhaltlich passend.
Generell gibt es diverse Regieeinfälle, die mir gut gefallen haben. Die Zwischentitel bzw. Ansagen werden von Kindern übernommen. Die Darstellung der vier „Vergnügen“ – Fressen, Boxen, Liebesakt, Saufen – werden von einem großen „mehr!“ überragt und jedes für sich zwingend umgesetzt. So erliegt Jakob Schmidt, sich und andere ekstatisch beschmierend, in der Schokopuddingbadewanne seinen magenkapazitären Grenzen, die käufliche Liebe ist eine nicht enden wollende, dabei penibel überwachte Reihe Fließband-Blowjobs, bei der jeder Kunden artig vom Feuchttuch Gebrauch zu machen hat. Für die Boxszene musste man sich ensemblebedingt etwas einfallen lassen, um den turmhohen Darsteller des Alaskawolf-Joe plausibel gegen den deutlich schmächtigeren Dreieinigkeitsmoses verlieren lassen zu können: Letzter bringt hier, obwohl körperlich bereits geschlagen, seinen Bezwinger mit dem ihm zugesteckten Elektroschocker auf die Bretter – ein abgekartetes Spiel bleibt auch so ein abgekartetes Spiel, schön gelöst! Jim endet schließlich martialisch am Galgen, im letzten Bild gehen der Regie dann ein wenig die Bilder durch – Demonstranten, Redner an Pulten, berauschte Virtual-Reality-Jünger, durch die Szene laufende Jogger, seltsame Trenchcoat-Gestalten und und. Vielleicht ein bisschen viel, aber irgendwie auch passend zu Chaos und Auflösung des Finales. Von den Nummern fehlt der „Gott im Whiskey“, dafür ist der Benares-Song mit von der Partie.
Über das rein Musikalische möchte ich nicht viele Worte verlieren, das Ensemble müht sich nach Kräften, die Solisten der Hauptpartien stoßen jedoch teilweise an ihre Grenzen, gerade mitunter der arg strapazierte Tenor von Herrn Wilde. Carola Fischer gibt die Witwe Begbick nicht unbedingt mit gesanglichem Wohlklang, kompensiert das aber mit ihrer resoluten Art, Liudmila Lokaichuk gehört vor allem darstellerisch zu den Besten. Teilweise sind es eher die Nebenrollen, die für die Höhepunkte sorgen, wenn etwa Dirk Kleine mit nahezu kantatenhaft geführtem Tenor seine Fressorgie besingt, oder Jims Kollegen als lupenreines Terzett die Vorzüge Mahagonnys preisen. Der Chor in Cottbus ist für die Anforderungen des Stückes etwas zu schmal bemessen, ob Hurrikan-Szene oder Finale, das muss wuchtiger, apokalyptischer kommen.
Alles in allem ein lohnenswerter Besuch in Cottbus mit seinem wunderschönen Theater. Bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Querelen um den Generalmusikdirektor die Zukunft dieses Hauses nicht gefährden.
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Oper in drei Akten
Musik: Kurt Weill
Text: Bertold Brecht
Musikalische Leitung – Evan Christ
Regie – Matthias Oldag
Ausstattung – Barbara Blaschke
Choreinstudierung – Christian Möbius
Choreografie – Dirk Neumann
Dramaturgie und Übertitel – Bernhard Lenort
Leokadja Begbick – Carola Fischer
Fatty – Hardy Brachmann
Dreieinigkeitsmoses – Ulrich Schneider
Jenny Hill – Liudmila Lokaichuk
Jim – Jens Klaus Wilde
Jakob Schmidt – Dirk Kleine
Sparbüchsenbill – Christian Henneberg
Alaskawolf-Joe – Ingo Witzke
Tobby Higgins – Thorsten Coers
Mädchen und Männer von Mahagonny – Damen und Herren des Opernchores
Girls and Boys – Damen und Herren des Balletts
Kinder – Jan Marius Hofmann, Fynn Namyslo, Hayden Pietralczyk, Eric Pöschel
Philharmonisches Orchester des Staatstheaters Cottbus