10. Juni 2018

Pelléas et Mélisande – Daniel Barenboim.
Staatsoper Berlin.

18:15 Uhr Einführung, 19:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 9, Platz 17



Das erste Mal, als ich mit dieser Oper in Berührung kam, war eine Produktion der Hamburgischen Staatsoper vor etwa 10 Jahren. Ich weiß noch, dass ich ziemlich gebannt war. Vom Werk, der Musik, dem ganzen Abend. Hatte ich gehofft, diese erste Begeisterung mit dem heutigen Besuch der Lindenoper zu vertiefen, stellte sich eher das Gegenteil ein. Woran lag dies? An den Sängern wohl kaum. Rolando Villazon mag es vielleicht (mittlerweile?) bei manchem Spitzenton an Durchschlagskraft mangeln, überhaupt wirkt seine Höhe seltsam gehemmt und limitiert, aber die Stimme an sich hat sich ihr besonderes, feuriges Timbre bewahrt, das gerade in der hier gefühlt häufig genutzten Mittellage überzeugt, hinzu kommt die darstellerische Präsenz dieses ausgemachten Bühnenmenschen. Eine Eigenschaft, die ihn mit Herrn Volle verbindet, dessen Stimme allerdings über jeden Zweifel erhaben ist – welch klangliche Autorität und Intensität! Schließlich die Sängerin der Mélisande, Marianne Crebassa, welche das Hauptrollen-Dreigestirn mit zauberhaft fein-entrückter Sensibilität komplettiert.

Und dennoch – auch das übrige Ensemble und selbstredend die Staatskapelle unter Barenboims Leitung liefern keinen Grund zur Beanstandung – funktioniert der Abend für mich nicht, oder nur an ganz wenigen Stellen, wofür ich in erster Linie die Arbeit von Ruth Berghaus und ihrem Team verantwortlich mache. In Hamburg war es seinerzeit eine Inszenierung Willy Deckers, der sich zu einem meiner Lieblingsregisseure entwickeln sollte, welche das Unwirkliche, Somnambule des Werkes in berückender Schönheit und gleichzeitig fremder Faszination sich in meine Wahrnehmung senken ließ. Ich kann den Ansatz von Frau Berghaus durchaus nachvollziehen, das Artifizielle von Werk und Handlung unterstreichen oder überhöhen zu wollen – es klingt erst mal durchaus spannend, die Akteure in ungemütlichen, grotesken Kostümen mit teilweise überzeichneten oder puppenhaften Gesten, theatralischen Tanzbewegungen agieren zu lassen, um das unheimliche, unbehagliche Moment zu unterstreichen, das über allem und jedem zu schweben scheint.

Im Ergebnis haben Ausstattung, Personenführung und ebenso die Abstraktion bestimmter Orte, Sachverhalte und Situationen bis zur Unkenntlichkeit bei mir lediglich eine mangelnde Bindung zu Stoff und Geschehen zur Folge. Vieles wirkt albern, unfreiwillig komisch oder – viel schlimmer noch – ist mir in dieser Darreichungsform einfach Wurscht, geht mich nichts an und fasst mich nicht an. Expressives Arthaus-Puppentheater in einem nett illuminierten, angesichts seiner Einfachheit überraschend variablen Bühnenbild. Überhaupt wird es eigentlich nur dann spannend, wenn jenes inhaltlich motiviert interessant eingesetzt wird, etwa wenn Golaud den Knaben auf der knallgelben Treppe bei seinem eifersüchtigen (neidischen?) Drängen nach Spitzeltätigkeit Stufe um Stufe höher treibt.

Aber wo wir gerade bei Intensität sind – gerade der Mangel daran führte zu jener schmerzlichen Teilnahmslosigkeit. Ich werde nie vergessen, wie sich in Golaud – pikanterweise damals ebenfalls von Michael Volle dargestellt – in der Decker-Inszenierung die aufgestaute Aggression gegen Mélisande Bahn brach, dass es beinahe physische Schmerzen bereitete, ihm dabei zusehen zu müssen, wie er seiner Frau Gewalt antat. Bei Berghaus ist Mélisande zu dem Zeitpunkt schon mit einem stattlichen Babybauch ausgestattet, und trotzdem ließ mich das bisschen inszenierte Vergewaltigung in all seiner Plump- und Abgegriffenheit kalt. Zack, Beine breit – Jupp, kann man so machen.

Überhaupt oszilliert die Inszenierung zwischen einer Art Überreduktion einerseits, die vieles einfach bis an die Grenze der Unkenntlichkeit weginszeniert (stilisierter Nicht-Brunnen, Riesenball und Rampe, das alberne Stöckchen als „Waffe“, die Tatsache, dass es eigentlich Wumpe ist, ob wir uns gerade im Wald, im Gewölbe oder sonstwo befinden) und einer Art superplumpen Symbolismus-Ausinszenierung andererseits. Der Hirtendialog über den Weg der Schafe beispielsweise macht für sich ein starkes Bild der Vergänglichkeit auf, die hier gewählte Umsetzung, in welcher der Hirte als eine Art Totengräber die Leichen der drei Bettler auf seinen Bollerwagen bugsiert, scheint mir eher der Kategorie „Wink mit dem Zaunpfahl“ entsprungen. Und wie Golaud mit seinem Sattel die Bühne betritt, als bedürfe es dieses Requisits, um seinen „Reitunfall“ im Moment des Ringverlustes noch mal zu illustrieren, will so gar nicht zum restlichen Grad der Abstraktion passen.

Man könnte noch so vieles im Detail über diese Regiearbeit ansprechen und hinterfragen – die Perücke der Mélisande, ihr Drang, in den offenen Mänteln der Männer Zuflucht zu suchen, die Kinderpuppe am Ende, die Reaktion des Chores, bei all dem hat sich Frau Berghaus sicher eine Menge schlauer Gedanken gemacht – doch würde das im Nachhinein auch nicht den lauwarmen Eindruck und damit verbunden mein Herz für diese Produktion erwärmen.

Kommen wir stattdessen lieber zum Werk selbst und seinem Autor. Die Geschichten über die anfängliche Begeisterung Debussys für Wagner und seine spätere Ablehnung lassen mich immer wieder schmunzeln, angesichts einer Musik, die so vom Parsifal geprägt ist, aber auch vom Siegfried und vielen anderen Beispielen, in denen sich Wagner von seiner „impressionistischen“ Seite zeigt. Ich kann schon verstehen, dass man sich als „Nachfahre“ mit eigenen Ambitionen gern von seinen übergroßen Vorbildern abgrenzen möchte, aber es ist schon niedlich, wie durchschaubar diese Aussagen sind, die eher an Parteipolitik denn an das musikalische Gewissen appellieren.

Es ist ja gut und schön, dass das Wagnerorchester für Debussys Geschmack zu redselig ist, bzw. er der Sinfonik im Bühnenwerk misstrauisch gegenübersteht, andererseits entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn man sich nach seinen Worten vom Streben nach „Wahrhaftigkeit“ und „Lebensechtheit“ die große Liebesszene im vierten Akt vor Augen und Ohren führt – Opernkonvention par excellence, tiefstes 19. Jahrhundert, Lichtjahre von der psychologischen wie emotionalen Tiefe eines Tristan entfernt. Aber jeder macht halt wie er kann, und Debussy kann leider doch nicht so richtig, wie mich der Verdacht nach heute Abend beschleicht. Ohne den Zauber der Decker-Inszenierung erlebe ich ein langatmiges, vor sich hin plätscherndes Werk, dem Kontraste ebenso abgehen wie die Schaffung einer wie auch immer gearteten, zur Anteilnahme anregenden Atmosphäre. Wenn so Wirklichkeit auf der Bühne aussieht, bleibe ich gern weiterhin ein Anhänger des Überkommenen.


Pelléas et Mélisande
Drame Lyrique in fünf Akten und zwölf Bildern
Musik – Claude Debussy
Text – Maurice Maeterlinck

Musikalische Leitung – Daniel Barenboim
Inszenierung – Ruth Berghaus
Bühnenbild, Kostüme – Hartmut Meyer
Chor – Raymond Hughes

Arkel – Wolfgang Schöne
Geneviève – Anna Larsson
Pelléas – Rolando Villazón
Golaud – Michael Volle
Mélisande – Marianne Crebassa
Yniold – Solist des Tölzer Knabenchors
Arzt, Hirte – Dominic Barberi

Staatsoperchor, Staatskapelle Berlin