20:00 Uhr, Mittelschiff rechts, Reihe 10, Platz 2
Anonymus – Mundus vergens / Conductus quadruplum
Anonymus – Deus pacis / Conductus duplum
Anonymus – O Maria, mater pia / Motette triplum
Leoninus, Perotinus – Benedicamus domino / Organum duplum
Galina Ustwolskaja – Sonate für Violine und Klavier
Perotinus – Beata viscera / Conductus
Anonymus – Ave maris stella / Conductus triplum
(Pause)
Perotinus – Sederunt principies / Organum quadruplum
Galina Ustwolskaja – Duett für Violine und Klavier
(Patricia Kopatchinskaja – Violine, Markus Hinterhäuser – Klavier, Ensemble Gilles Binchois)
Wer besucht ein solches Konzert? Neugierige? Mittelalterfreunde? Donaueschingen-Devotionalisten? Oder ist das Gros der Besucher – wie ich selbst – einfach dem Namen des charismatischen Wirbelwinds ins Gestühl St. Katharinens gefolgt? Wie dem auch sei, mit dem Dargebotenen hätte ich jedenfalls so nicht gerechnet. Gut, hätte ich halt den Fahrplan vorher konsultiert, soll ja helfen. Auf der anderen Seite werde ich in der Regel nicht müde, mangelnde Offenheit zum Gegenstand meiner mit Liebe gepflegten Kopfschütteleien zu kiesen. Also die Lauscher aufgestellt und Konzentration für ein besonderes Kontrastprogramm.
Spannen wir den Bogen von einer Zeit, als die Mehrstimmigkeit mit großen Schritten ihren Kinderschuhen in die weite Musikwelt entstieg, hin zum widerborstigen Privat-Kosmos der Galina Ustwolskaja. Beides läuft bei mir ein bisschen unter Telekolleg Musik ohne TV-Gerät, aber gegen Weiterbildung sollte man sich im Übrigen nicht sperren. Die Sänger des Ensemble Gilles Binchois überraschen den Bombast-gewohnten Konzertgänger mit maximal einer Vierzahl von Stimmen, die in einem Akt musikalischer Askese das enorme Kirchenschiff diskret aber mit erhabener Intensität beschallen. Diese Reduktion auf das Nötigste, man könnte auch sagen Wesentliche, lenkt den Fokus auf die Wechselwirkung der Stimmfächer und die Gestalt des unter diesen akustischen Gegebenheiten entstehenden Klanges. Keine Überwältigungsmusik, sondern ein stetiger Strom der Ausgewogenheit. Spannend: Selbst die einzelne Stimme klingt unter diesen Bedingungen nicht „allein“ – der gewaltige Nachhall lässt unmittelbar Entstehendes und parallel Vergehendes aufeinander wirken, der Solist folgt seinem eigenen Abbild in harmonischem Abstand. Ich kann nicht sagen, dass die Kompositionen selbst eine starke Anziehungskraft auf mich ausüben würden, dennoch geht eine gewisse abstrakte Faszination von ihnen aus. Spricht auch nichts dagegen, sich interessehalber mal einen Quastenflosser anzuschauen – nichts desto trotz muss man ihn ja nicht zwangsläufig in den persönlichen Speiseplan integrieren.
Ob es sich bei den Werken Galina Ustwolskajas um Kiemen- oder Lungenatmer handelt, kann ich nicht sagen, der vielleicht erste Eindruck anorganischer Materie hat allerdings nicht darüber hinwegtäuschen können, dass wir hier eine tief empfundene Musik erleben dürfen. Ins Herz schließen werde ich wohl auch diese Areale der musikalischen Landkarte nicht, aber ich bin doch froh, sie zumindest für die Dauer des Abends erkundet zu haben. Die Vehemenz, vielmehr Penetranz im Sinne einer stetig bohrenden, nicht nachlassenden Intensität, in welcher sich ein erschütternd-erschüttertes fragiles Etwas über unzählige Stufen hinweg dem Hörer einhämmert, bisweilen auch kaum wahrnehmbar einritzt, nötigt mir definitiv Respekt ab. Ich weiß nicht, ob der Begriff Bewunderung hier zulässig ist – unzweifelhaft allerdings bezogen auf den kompromisslosen Vortrag der beiden Solisten. Irisierende Klänge der Violine, kristallklares Flageolett, verlöschend, am anderen Ende der Ausdruckspalette spröde, trotzige Hiebe mit dem Bogen, Pendant zu den erbarmungslosen Schlägen des Klaviers, welches genauso unvermittelt verwunschenen Harfenklang annimmt. Strukturell und klanglich sind das ohne Zweifel zwingende, fesselnde Werke, stilistisch holt mich das Ganze weniger ab, bindet mich – zumindest nach dem ersten Hören – emotional kaum, ich bleibe an der äußerlichen Geste hängen und vermag nicht zum Kern vordringen. Oder anders ausgedrückt: Ustwolskaja beschäftigt, aber berührt mich nicht.
Fazit: Zwei Wegmarken der Musik, zweimal Staunen statt Schwelgen.