21. Mai 2016

Die tote Stadt – Patrik Ringborg.
Staatstheater Kassel.

19:00 Uhr Einführung, 19:30 Uhr, Orchestersessel rechts, Reihe 1, Platz 9



Selten erfüllte sich die abgegriffene Binsenweisheit, man möge ein Buch nicht nach dem Einband beurteilen, eindrucksvoller, als heute im Staatstheater Kassel. Der Einband besteht in Kassel aus dem Zusammenspiel verschiedener Gebäudekompartimente, die in einer besonders traurigen Symbiose aus 5oer-Bahnhofsvorhallenoptik und drangehusteter Gewerkekaserne in abwaschbarer Nullästhetik an Trostlosigkeit kaum zu überbieten ist. Weder imposant noch elegant, weder triumphal noch radikal biedert es am Rande einer Sandeinöde in Documenta-Spuckweite vor sich hin, bekrönt von lustig bunten Lettern, die wie eine ironische Replik auf den staatstragenden Titel wirken. Und doch sollte sich just unter dem provinziellen Dach dieser Abtörner-Architektur Musiktheater auf höchstem Niveau ereignen.


Die Entscheidung der Regie, Marie durch eine Schauspielerin als stumme Rolle nahezu permanent am Geschehen teilhaben zu lassen, gibt diesem Phantom, oder vielleicht treffender der Projektionsfläche für Pauls Erinnerung und Hoffnung, selbstkasteiende Verklärung und ungebrochenes Verlangen, mehr als nur ein gerahmtes Gesicht. Eva Maria Sommersberg ist nicht allein auf Fotografien und bühnenfüllenden Videoinstallationen allgegenwärtig, sondern interagiert direkt und indirekt als geisterhafte Bewohnerin der Kirche des Gewesenen, die nur Paul tatsächlich wahrzunehmen vermag, mit den Sängerdarstellern. So flüstert sie Paul die zweite Strophe des traurigen Liedes ein, in welcher der Auferstehungsgedanke ausgesprochen wird oder lastet ganz konkret wie Füsslis Nachtmahr schwer auf Brust und Gewissen des Witwers und appelliert nicht minder verführerisch als ihre lebendige Konkurrentin an die gemeinsam gelebte Lust. Den Höhepunkt dieser Verkörperlichung der Zerrissenheit Pauls markiert die Erscheinung Mariens als blutbefleckte Gekreuzigte in seiner fieberhaften Prozessions-Vision. „Mysterium corporis“ raunt der Chor am Ende dieser Szene, die die Regie somit ganz wörtlich ebenso drastisch wie plastisch als Kulmination der Privatreligion Pauls umsetzt. Die Leistung Sommersbergs sowie ihr Stellenwert für diese Inszenierung kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Charisma, Hingabe, Verausgabung – ihre intensive Darstellung allein macht den Besuch zum Gewinn.

Und gewonnen wird hier in Kassel auf jeder weiteren Ebene. Die Sänger, allen voran Charles Workman in der Rolle des Paul, tragen ihren Teil zum Gelingen einer intensiven, körperlichen Personenregie bei, in der äußerst realistisch mit einander und sich selbst gerungen wird. Brigitta zwischen Treue und heimlicher Zuneigung, Frank zwischen Freundschaft und Verrat, Marietta zwischen Spiel und Ernst, Paul schließlich zwischen Wahn und Wirklichkeit – immer vor dem Hintergrund, daß wir hier wohl mehr die inneren Dämonen Pauls, als seine Mitmenschen erleben. Traum bleibt Traum, trotzdem auch eine spannende Ambivalenz, wenn beispielsweise der „Rivale“ Frank nach Ende der Illusion beim Abgehen Mariettas ganz real mit ihr flirtet. Die heilsame Wirkung des Traumes für Paul scheint mir in dieser Inszenierung weniger zweideutig angelegt, als ich es sonst oft erlebt habe, wenn der Versuch, die tote Stadt zu verlassen, als Suizid-Absicht angedeutet wird. Hier verabschiedet sich Paul mit einem Kuss von seiner Marie, erstickt die Erscheinung damit, befreit sich in einem schmerzhaften, gewaltsamen Akt von ihr und verlässt die Bühne durch mehrere leuchtende Rahmen. Melancholie bleibt, aber auch Hoffnung.

Stimmlich hat mir Herr Workman besonders gut gefallen. Sein Organ zeichnet sich nicht unbedingt durch Schmelz und heldisches Gepräge aus, vermittelt allerdings unglaublich viel Charakter. Mag es ihm bei manchem Spitzenton vielleicht an Strahlkraft mangeln, hält sein Vortrag doch genau jene Nuancen und Intensität bereit, die aus einer gesungenen Partie eine Persönlichkeit machen. Darüber hinaus ist Workmans Artikulation vorbildlich, die Textverständlichkeit zu hundert Prozent gegeben. Aus einem durchgehend starken Ensemble wußte sich Hansung Yoo mit seinem kurzen Auftritt als Fritz in Herz und Erinnerung zu verankern, indem er die Arie des Pierrots so voller Wohlklang und Sehnsucht darbot, wie ich sie zumindest live noch nicht erleben durfte. Das Staatsorchester Kassel unter der Leitung Patrik Ringborgs unterstrich eindrucksvoll die Qualität dieses Hauses und brachte die Partitur stellenweise regelrecht zum Glühen. So sehr ich über die äußere Erscheinung des Theaters gelästert haben mag, so nachhaltig hat mich doch seine umwerfende Akustik in seinen Bann gezogen. Einzig ein bestimmter, wiederholt verwendeter Klangeffekt – vielleicht das Harmonium oder eine (simulierte?) Orgel – wollte sich nicht so recht in den Gesamtklang integrieren, zumindest fiel mir dies von der ersten Reihe aus auf. Bei einer solch differenzierten, wuchtig-mitreißenden Leistung allerdings nur eine unbedeutende Randnotiz.

Fazit: Wer die tote Stadt liebt, kommt um Kassel nicht herum.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Patrik Ringborg
Inszenierung – Markus Dietz
Bühne – Mayke Hegger
Kostüme – Henrike Bromber
Dramaturgie – Jürgen Otten
Choreografische Mitarbeit – Lillian Stillwell
Video – Michael Lindner
Licht – Albert Geisel
Chor – Marco Zeiser Celesti
CANTAMUS-Chor – Maria Radzikhovsky

Paul – Charles Workman
Marietta, Tänzerin / Erscheinung Mariens – Celine Byrne
Marie, stumme Rolle – Eva Maria Sommersberg
Frank, Pauls Freund – Marian Pop
Brigitta, Haushälterin bei Paul – Marta Herman
Juliette, Tänzerin – Lin Lin Fan
Lucienne, Tänzerin – Maren Engelhardt
Victorin, Regisseur in Mariettas Truppe – Paulo Paolillo
Fritz, Pierrot – Hansung Yoo
Graf Albert – Johannes An

Staatsorchester Kassel
Opernchor und CANTAMUS-Chor des Staatstheaters Kassel