20:00 Uhr, Ebene 13 Bereich E, Reihe 3, Platz 13
Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 10
(Pause)
Thomas Larcher – A Padmore Cycle / Fassung für Tenor und Orchester
(Mark Padmore – Tenor)
Maurice Ravel – La Valse
Zugaben:
Franz Schubert – Moments musicaux, D. 780 (op. 94) Nr. 3
(Fassung für Streichorchester)
Antonín Dvořák – Slawischer Tanz op. 72, Nr. 7 C-Dur
Nach einem Konzert wie diesem fällt es mir schwer, mein breites Grinsen wieder abzustellen. Freude und Genugtuung. Über die Eindrücke, die mir ein Orchester von Weltrang, wie es die bayerischen Gäste wieder bewiesen haben, in diesem Saal und ganz speziell auf diesem traumhaften Platz bescheren kann. Über Klangwirkungen, die ich in ihrer Intimität, Transparenz und Plastizität so noch nie in all den Jahren als Klassik-Groupie erfahren habe. Als wäre mir fast über Nacht ein neues Paar Ohren gewachsen. Und wissen Sie, was das Beste an diesem akustischen Wunderwerk ist? Dass man NICHT auf jedem Platz gleich hört. Anders: Gestern ist mir der eigentliche Hauptvorzug des Saales erst bewußt geworden. Ein Wechsel zur Pause von 13 E Mitte/Mitte zu 13 E links, erste Reihe ergab, dass selbst ein paar Meter Luftlinie einen signifikanten Unterschied ausmachen. Was im ersten Augenblick für Irritation sorgen könnte, beinhaltet jedoch tatsächlich ein Riesenpotenzial: Die Möglichkeit, den optimalen Platz gemäß der individuellen Hörvorlieben wählen zu können, und zwar in denkbar feinsten Abstufungen. Klar, aktuell ist das angesichts anhaltenden Hypes und Komplettauslastung natürlich eine recht theoretische Option, aber allein ihre Existenz elektrisiert mich. Bislang hatte ich die Unterschiede der akustischen Eindrücke auf weit auseinander liegenden Plätzen getestet und dabei noch keinen schlechten gefunden (Nein, direkt hinter oder neben dem Orchester habe ich erst mal ausgelassen, da ich zwar mittlerweile an akustische Wunder, aber immer noch auch an die Physik glaube). "Besser" oder "schlechter" hat da, wie bei allen Sinneserfahrungen, logischerweise ganz viel mit individuellem Geschmack zu tun – das Tolle an der Elbphilharmonie ist, dass sie mir eine enorme Bandbreite liefert, innerhalb derer man Klang auf höchstem Niveau an sein Ohr gelangen lassen kann. Darf´s ein bisschen direkter sein? Kein Problem, ein paar Reihen weiter vorn sieht die Welt schon ganz anders aus. Sie stehen eher auf möglichst homogenen Mischklang, ohne dabei auf Durchhörbarkeit verzichten zu wollen? Ab nach oben! Es mag durchaus Konstellationen geben, bei denen die "billigen Plätze" beispielsweise dem Parkett überlegen sein können. Irgendwann, wenn sich das ganze Elphi-Fieber ein wenig gelegt hat, wird es mir eine wahre Freunde sein, all diese Nuancen bei unterschiedlichsten Besetzungen genau zu erforschen.
Doch erst mal zurück ins Hier und Jetzt, wo das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und Mariss Jansons ähnlich eindrucksvoll wie ihre Wiener Kollegen im Januar (Link) aufgezeigt haben, wofür diese Halle erbaut wurde – Weltspitzenklang. Eigentlich hatte ich mich am meisten auf "La Valse" gefreut, aber bereits mit dem Schostakowitsch war es um mich geschehen. Perfekte Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Stimmgruppen. Die Streicher ungemein präsent und von edelstem Timbre. Die Violinen regelrecht schneidend, an den Stellen, wo sie sich entsprechend Gehör zu verschaffen haben – bei Jansons kommt der Eindruck, daß die hohen Streicher ab dem Forte leicht in die Defensive geraten, keine Sekunde auf. Im Gegenteil. Auch spannend: Die zweiten Violinen sind, "trotz" der Amerikanischen Aufstellung, also direkt neben den ersten verortet, sehr schön einzeln und im Dialog herauszuhören. Die tiefen Streicher, vor allem die Bässe, wirken verblüffender Weise etwas weniger sonor, als ich es in diesem Saal gewohnt bin – keine Ahnung, ob das am Material oder der Abstimmung liegt. Das Blech für seinen Teil agiert unter Jansons angenehm zurückhaltend, besser gesagt perfekt in das große Ganze integriert, um dann an den dynamischen Kulminationspunkten mit überwältigender Klangpracht und -Fülle über dem Fortissimo zu thronen. Wohlgemerkt: darüber thronend, es nicht zukleisternd. Auch in den extremsten Eruptionen der Sinfonie ist der Klang gleichzeitig transparent UND präsent – das ist es, was ich an diesem Platz so liebe. Die Streicher, das Holz, selbst einzelne Facetten wie die des Flügels, bleiben erfahrbar und formen im Schlagwerk- und Blechgewitter Kulminationen von geradezu körperlicher Anschaulichkeit. Stellvertretend für die außergewöhnliche Qualität, die jeder einzelne Musiker dieses Klangkörpers zu besitzen scheint, sei auf das Oboensolo eingangs des dritten Satzes hingewiesen. Phrasierung, die ganze innige, sensible Gestaltung des Themas – diese einzelne Passage besitzt wie die gesamte Aufführung der Sinfonie Referenzcharakter. Auch die Sinfonie selbst hatte ich gar nicht derart mitreißend und berührend im Gedächtnis. Es müssen halt nicht immer die Siebte oder Fünfte sein, auch das hatten die Wiener seinerzeit unter Beweis gestellt – um eine weitere Parallele dieser beiden Ausnahmekonzerte zu benennen.
Ebenfalls bezeichnend, dass in beiden Fällen die Gunst der Stunde dazu genutzt wurde, programmatisch einen Abend jenseits ausgetretener Klassikpfade zu begehen. Waren es im Februar Webern und Hartmann, die manchem Gelegenheitshörer oder Traditionalisten einiges abverlangten, trug diesmal das Stück Larchers zur Entmusealisierung bei. "A Padmore Cycle" – benannt nach dem Solisten und in dessen Kehle komponiert – entpuppte sich als wahres Klangexperimentierfeld für Stimme und Orchester und dabei gleichzeitig als ein fesselndes Werk zwischen scharfer Expressivität und Passagen überraschend vertrauter und umarmender Tonalität. Teilweise musste ich an eine Art "Britten 2.0" denken, weniger vom Idiom, als vom Konzept des Zyklus her. Wobei der Einsatz der in höchstem Maße Britten-prädestinierten Tenorstimme Padmores wahrscheinlich auch diesen Gedanken angeregt haben mag. Edler, feiner ist ein Tenor kaum denkbar. Subtilste Nuancen, noch dazu in extrem hoher Lage, Fragilität und Seele. Die Stimme als lebendiger Charakter. Und Larcher scheint sein Handwerk zu verstehen, deckt Padmore trotz des Riesenorchesters nie zu, lässt ihn nur bis zu einem gewissen Grad mit in dynamische Steigerungen einsteigen, überlässt das Fortissimo dann dem Instrumentarium. Natürlich auch eine Frage des Dirigates, bei Jansons aber perfekt austariert. Ferner eine Wohltat: die verwendeten "Spezialsounds" von Akkordeon, Äußerungen des Klaviers bei gehaltenen Saiten bis hin zum Ölfass als Perkussionselement durchdringender Härte, treten nie zum Selbstzweck zutage, sondern sind nahtlos in den vielschichtigen Klangkosmos eingebettet. Glücklicherweise wurde das Konzert aufgezeichnet, so dass ich den Schönheiten dieser Arbeit noch wiederholt auf den Grund gehen kann. Eine Stelle ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, die Worte Padmores dazu: "Und beim Weggehen schmilzt aus den Augen der Schnee."
Mit dem letzen Programmpunkt, Ravels "La Valse", demonstrierten Dirigent und Orchester noch einmal, welch ideale Kombination hier zu bewundern war. Technische Brillanz und Klangfarbenreichtum werden erst durch Jansons Gestaltung vollends zum erfüllenden Erlebnis. Es ist eine Wonne zu sehen und zu hören, wie er die Ambivalenz des Stückes mit einer sehr aus dem Rubato kommenden Lesart unterstreicht. Die stetigen, kleinen Tempomodifikationen geben dem schattenhaften, verzerrten Abbild eines Walzers etwas extrem Nervöses, Unberechenbares. Gleichzeitig bleiben Schmelz und Schwung der von Ravel zitierten, dekonstruierten Sphäre aufgrund der hinreißend sinnlich aufspielenden Streicher erhalten. Eine ordentliche Portion Schizophrenie trägt untrüglich zum Gelingen des Werkes bei. Die Kontraste zwischen mehr erinnerter als tatsächlicher Melodienseeligkeit und harschen Ausbrüchen, die im seltsam kanalisierten, domestizierten Furor des Finale schließlich ihr abruptes Ende finden, all das wurde von den Münchnern als perfekt-unperfekte Ausgabe dieser nicht ganz rund laufenden Walzermaschine atemberaubend umgesetzt. Allein die Gestaltung der sich mit aller Macht ausdehnenden und jeweils jäh abreißenden Tutti-Schläge der Schlussphase ergab Klanggebilde, die man regelrecht hätte greifen können. Das SOdBR in der Elbphilharmonie – ein Naturereignis.
Mit der ersten Zugabe, Schuberts Moment musicaux Nr. 3 in einer Fassung für Streichorchester, scheint Jansons die neue Halle noch einmal auf ihre feine Resonanz abzuklopfen – sein verschmitztes Grinsen, nachdem sich die letzten zarten Töne in den Saal verströmen, scheint Zufriedenheit, vielleicht selbst ein bisschen Überraschung angesichts der delikaten Akustik, zu signalisieren. Als finaler Rausschmeißer beschließt ein furios um die Ohren gepfefferter Slawische Tanz von Dvořák dieses phänomenale Konzert. So wehmütig der Umstand stimmt, dieses Orchester nur als Gast in der Hansestadt zu wissen, so startet mit dem heutigen Tag bereits die Vorfreude auf drei weitere Chancen, es hier in der kommenden Spielzeit wieder erleben zu dürfen.