11:00 Uhr, Etage 12, Bereich A, Reihe 12, Platz 1
Michail Glinka – Ouvertüre zu „Ruslan und Ljudilla“
Michail Glinka – Ouvertüre zu „Ruslan und Ljudilla“
Béla Bartók – Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 BB 48a
(Vilde Frang – Violine)
(Vilde Frang – Violine)
(Pause)
Sergej Rachmaninow – Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27
Heute mal das Parkett mit Orchester ausprobiert; letzte
Reihe, um genau zu sein. Was ich vermutete, hat sich bewahrheitet – viel weiter
vorn sollte man bei groß besetzten Werken wohl nicht sitzen. Der Klangeindruck
insgesamt ist mehr als ordentlich, vielleicht nicht ganz so gut wie im Block 13
E, dessen erhöhte Ebene direkt hinter diesem Platz aufragt. So sitzt man in
Reihe 12 dementsprechend unmittelbar vor einer Wand der bekannten
Akustikverschalung. Mitunter nicht das Schlechteste – keine potenziellen
Nervquellen im Nacken. Ansonsten treten auch hier die liebgewonnenen Vorzüge zu
Tage: Differenzierte Klangwirkungen, ordentlich Bumms, leise Stellen wirken
atemberaubend.
Wobei heute in erster Linie Frau Frang für den geraubten
Atem verantwortlich zeichnete. Insbesondere der erste Satz des Bartok-Konzertes
hat mich sowohl vom Material her als auch durch dessen suggestive Vermittlung
schwer beeindruckt. Die Solistin bringt alles mit, was man abgesehen von der
obligatorischen Technik für einen berührenden Vortrag benötigt. Lebendiger
Ausdruck von superzart bis zupackend. Darüber hinaus liefert der NDR unter
Mendez mit diesem Satz ebenfalls seinen besten Beitrag zum Programm. Enorme
Klangwirkungen, Crescendi, die sich wunderbar plastisch aufbauen – man sieht
die Tongebilde förmlich wachsen. Welch Kontrast vom Fortissimo zur unmittelbar
folgenden, ganz intimen Stelle. Irisierender Klang, die Harfen tragen ihren
Teil dazu bei. Der zweite Satz gerät dann nicht ganz so eindringlich, zwischen
Rhythmischem, Treibenden und Innehaltendem – mag aber auch daran liegen, dass
ich seine Faktur trotz (oder wegen?) des lebhaften Tempos als weniger spannend
empfinde. Unterm Strich spiegelt das Konzert ganz treffend das ambivalente
Verhältnis wider, welches ich für diesen Komponisten hege.
Ambivalenz ist insgesamt ein gutes Motto für diesen Abend,
Pardon, Vormittag. Nehmen wir den Glinka: Tadellos musiziert, nicht ohne
Schwung, aber eben doch ohne die letzte Präzision. Schnelligkeit allein bringt
die Agilität diese Ouvertüre nur unzureichend zur Geltung. Entweder man gibt
noch Schärfe der Akzentuierung hinzu, damit die Sache Schneid bekommt, oder man
macht es ganz locker flockig, Virtuosität, scheinbar mühelos aus dem Ärmel
geschüttelt. Dabei gestaltet Méndez durchaus – beim Seitenthema dämpft er
merklich die Lautstärke, dynamische Kontraste sind das Ziel. Das Blech klingt
besser als gedacht, das Bassfundament sitzt. Dennoch bleibt der Eindruck: Da
wäre noch mehr gegangen.
Hatte ich mich im Vorfeld noch am meisten auf die
Rachmaninow-Sinfonie gefreut, traten hier die Meinungsverschiedenheiten
zwischen Méndez und mir am deutlichsten zutage. Der Mann ist spürbar um
Feinheiten bemüht, verschleppt dabei aber mehr oder weniger die komplette
Sinfonie. Alles klingt weich und rund, wie er es mit ausladender, fließender
Gestik vorgibt. Was dieser Interpretation jedoch als Ausdrucks-Gegengewicht abgeht,
ist mehr Kante, mehr Kontur an entsprechender Stelle. So läuft dieser Koloss
Gefahr, im süßlich-milden Fluß vor sich hin zu plätschern, ja staut sich
teilweise zäh wie Sirup auf.
Was es Méndez mit seiner buttrigen Lesart zudem nicht
leichter macht, ist der Umstand, dass das Residenzorchester der Elbphilharmonie
nur bedingt in der Lage ist, all die Feinheiten und Klangfarbenschmankerl
abzurufen, die solch eine betont romantisch-breite Sichtweise dann zumindest
für Soundfetischisten zum Erlebnis machen. Stattdessen wird solides Handwerk
geboten, kein Klangzauber. Der erste Einsatz der Holzbläser im Vergleich zu den
Streichern – zu laut. Das Klarinettensolo im Adagio – könnte deutlich zarter
kommen. Ein signifikanter Einstieg der Bratschen – konturlos. Und so weiter und
so fort. Nichts Arges, aber halt auch bei weitem nichts, um angesichts der
Möglichkeiten, die dieser Saal bietet, mit der Zunge zu schnalzen. Überraschend
allerdings, dass Méndez im Finale auf den letzten Metern dann doch wieder
einfällt, wie man die Handbremse löst – nahm er die Steigerungen bis dahin
gemäß Konzept eher langsam, zieht er die letzten Takte das Tempo gehörig an und
sorgt somit, auch im Kontrast zum zuvor erlebten, für einen wahren Knalleffekt
zum Schluß. Respekt, das nenne ich mal Wirkungs-Ökonomie – Allgemeine
Begeisterung im Saal.
Was mich, abgesehen von derlei Frotzeleien, jedoch wirklich
bei diesem Konzert beschäftigt hat, ist die Frage, warum ich mehr als 70 Euro
dafür ausgegeben habe. Kein Festakt, einfach ein stinknormales Aboprogramm des
NDR. Gut, alte Laeiszhallenbillets als Vergleichsbeweismittel für günstigere
Zeiten hervorzukramen, ist ebenso nicklig wie realitätsfern, angesichts der
allgemeinen Preissteigerungen, die beispielsweise ebenso das Philharmonische
Staatsorchester bei seinen Auftritten hier erfahren hat. Und auch die seltenen
Gastspiele der Symphoniker Hamburg in der Elbphilharmonie haben ihren Preis.
Natürlich ist es mehr oder weniger immer so gewesen, dass Preisstaffelungen
vor allem mit der erwarteten Qualität, oder sagen wir besser Strahlkraft der
jeweiligen Klangkörper, Solisten etc. einhergehen. Und natürlich ließe sich
trefflich darüber streiten, ob man für entsprechende Gastspiele von
Spitzenorchestern das Dreifache ausgeben möchte – ich persönlich sehe dieses
Geld in der Regel jeweils gut investiert.
Und eigentlich geht es bei meiner Frage auch weniger um die
70 Euro, sondern darum, wofür das NDR Sinfonieorchester, jetzt Elbphilharmonie Orchester (mit Deppenleerzeichen, ohne Bindestrich), steht – klanglich, künstlerisch. Wie klingt dieses Orchester? Was ist sein Profil, sein
akustischer Fingerabdruck, der es unverwechselbar macht? So richtig kann ich
das nach ca. 15 Jahren Konzerten in Hamburg immer noch nicht sagen. Es gab eine
Zeit, da habe ich zumindest auf den Streicherklang geschwört. Unter den
Bedingungen des neuen Saales relativiert sich selbst das deutlich. Noch ist es
ungewiss, wo die Reise hingeht. Ich werde trotz aller Skepsis, nicht zuletzt
aus reiner Neugierde, diese Reise ein Stück mitgehen – Abo D ist bereits
gebucht – und mich, solange geschätzte Gastdirigenten wie Herbert Blomstedt
oder Paavo Järvi eingeladen werden, weiter um Karten bemühen. Man sieht sich.