23. Januar 2017

Wiener Philharmoniker – Ingo Metzmacher.
Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 3, Platz 13



Anton Webern – Sechs Stücke für Orchester op. 6 / Erstfassung

 Karl Amadeus Hartmann – Sinfonie Nr. 1 für eine Altstimme
und großes Orchester (Gerhild Romberger – Alt)

(Pause)

Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 11 op. 103 „Das Jahr 1905“



Wie oft kommt man als Klassik-Pilger wohl in seinem Leben in Versuchung, das „beste Konzert“ zu postulieren? Sollte man wahrscheinlich generell sein lassen, schließlich ist der Vergleich zwischen dem Zustand aktueller Euphorie und verklärter Erinnerung in beide Richtungen eine unfaire Angelegenheit. Dennoch, wenn es Abende gibt, an denen es sich anbietet, die Superlative leicht aus der Hüfte zu schießen, dann war heute so einer. Leider ist es mit dem Unbeschreiblichen, dem unbeschreiblich Schönen, Erschütternden, Erfüllenden so eine Sache – eben eine unbeschreibliche, wie der Begriff ja nahelegt, wenn man ihn denn schon mal bemüht. Ich möchte es trotzdem versuchen, wohl wissend, daß die Wahrscheinlichkeit groß ist, sich zu verzetteln und/oder in Pathos zu versinken. Warum auch nicht.

Aufgeschnapptes Pausengespräch. Er zur Dame neben sich: „ Also ich hab meiner Frau ja ne SMS geschrieben – Katzenjammer!“ Auf ihren Hinweis, daß es oft schwer ist, sich auf Unbekanntes einzulassen: „Ja schon, aber warum spielt man den Katzenjammer, wo es doch so viel schöne Musik gibt?“ Sie, um Diplomatie bemüht: „Tja, man tendiert oft dazu, immer das hören zu wollen, was man kennt.“ Er: „Mag schon sein, aber solche Musik gehört hier nicht her, das sollen die für Kenner irgendwo anders spielen – ich will ja schließlich nicht nachdenken im Konzert!“

Abgesehen davon, daß mich gerade die letzte Bemerkung erst recht nachdenklich stimmte, komme ich zur Pause eher zu dem Ergebnis: Wenn Herr Webern und Herr Hartmann irgendwo hingehören, dann genau hierher. Gerade weil der offenbar von vielen für unabdingbar gehaltene Zugang über melodisch Vertrautes bei beiden Werken durch ihre Faktur manchem zugeparkt erscheint und die Möglichkeit des gemütlichen Konsums sich daher auch nicht zwingend aufdrängt, bietet die Elbphilharmonie mit ihrer fasslichen Transparenz jedem die Möglichkeit, tief in das Wesen dieser unterschiedlichen Stücke einzutauchen. Wenn man denn möchte. Man muß ja nicht. "Katzenjammer" ist eine zweifellos griffige Kategorisierung und der nächste Brahms kommt bestimmt (Ja, Brahms ist auch ganz toll).

Auch wenn ich mir wohl keinen Starschnitt Weberns übers Bett hängen würde, sind diese Sechs kurzen Stücke eine wahre Fundgrube für all diejenigen, die wie ich in Klang und Klänge vernarrt sind. Die Riesenbesetzung steht im Dienste, ein über weite Strecken äußerst zurückgenommenes, feines, aber durchweg unter Spannung stehendes Gespinst auszubreiten, in dem Ausdruck und Stimmungen auf engstem Raum werden und vergehen. Eine Musik, die sich mehr dem "Als ob", denn dem konkret Greifbaren verhaftet zeigt. Diese Schattierungen von Schatten auszuloten, bedarf eines Klangkörpers, der jede noch so zarte Nuance differenziert umzusetzen weiß. Die Kombination aus Wiener Philharmonikern im Habitat dieses Forums akustischer Utopieverwirklichung ermöglichte einen Blick über die Partitur hinaus auf das Wesen jener Musik, die aus dem Wunsch heraus geschrieben wurde, eine Tradition weiterzuführen und weiterzuentwickeln, die für Komponisten wie Webern an der Grenze der Tonalität nicht halt machen durfte.

Metzmacher und die Wiener bedenken die Stücke mit der konzeptionellen Stringenz (allein die Bandbreite der Dynamikabstufungen!) und klanglichen Qualität, welche auch diese auf den ersten, ok, wohl auch auf den zweiten Blick spröden Miniaturen zu einem Erlebnis machen, das ich jedem nur hingeschlonzten Wagner vorziehe. Ohne das "Wie" ist das "Was" eben doch nichts. Allein für den Klang der vier gedämpften Posaunen, die so leise und gleichzeitig so nachdrücklich dräuten, hätte ich manch durchschnittliche Opernaufführung eingetauscht. Die Akustik des Saals verblüfft dazu im Sekundentakt. Die große Trommel unglaublich sonor und auch in geringer Lautstärke durchdringend. Desgleichen die Bässe. Edelster Violinensamt. Der Effekt, daß auch unter der heftigsten Entladung im Blech die Holzbläser noch klar und deutlich hervortreten. Und und und.

Von der Hartmann-Sinfonie hatte ich mir tatsächlich etwas mehr versprochen. Keinesfalls von der Ausführung, aber das Werk hat mich insgesamt (noch) nicht so angesprochen, wie es die wenigen bisherigen Berührungspunkte mit dem Komponisten eigentlich nahegelegt hatten. Zwar gibt es auch hier eher wenig Ohrwurmdisposition, aber der schwer ernstvolle, in seiner zur große Geste tendierenden Stilistik in gewisser Weise immer noch auf Mahlers Pfaden wandelnde Charakter müsste mir eigentlich mehr liegen, als es heute der Fall war. Vielleicht war ich dann doch zu sehr damit beschäftigt, den Eigenheiten des neuen Umfeldes nachzuspüren, als die Konzentration auf das mir unbekannte Werk an sich zu lenken. Flankiert von offenbar nachlassender Teilnahme bei manchem Mitsitzer (Herumgerutsche, Handtaschenkontrollblick, erhöhte Hust- und Glanzpapieraktivität) stellten sich leichte Unsicherheiten in der Beurteilung der Eindrücke bei mir ein: Der Fortissimo-Beginn eher überrumpelnd als überwältigend – gibt es womöglich doch Probleme mit dem Tutti-Klang? Sind die Streicher etwa hier und da zu matt oder zu leise? Die Holzbläser im Gegensatz dazu äußerst präsent. Aber auch hier wie schon bei Webern: gerade die leisen Töne sind es, die aufhorchen lassen – was für intime Reize umschmeicheln das Ohr. Gerhild Romberger trägt ihrerseits mit erdig-warmem Timbre einen nicht unerheblichen Teil zur Klangmagie bei und überzeugt darüber hinaus noch mit lupenreiner Diktion.

Sollten sich nun tatsächlich vage Zweifel eingeschlichen haben, wie weit es wirklich um die akustische Perfektion auf meinem nominell perfekt gelegenen Aboplatz bestellt sei, gab es nach der Pause das passende Gegenmittel – Schostakowitsch. Ich mach´s kurz: Ich bin im Himmel. Meine Wolke befindet sich auf Ebene 13. Man stelle sich das beste Orchester vor, welches mit der packendsten Interpretation unter akustisch idealen Bedingungen ein Werk höchster Intensität darbietet – und der resultierende Gedanke ist nicht halb so gut wie das, was mir heute auf meinem Platz widerfahren ist. Dabei ist die 11. nicht mal meine Lieblingssinfonie von ihm, bzw. bis heute keine derer, die ich besonders gut kannte. Vielleicht auch besser so. Einem alteingesessenen Herz- und Magen-Stück unter diesen Bedingungen ausgeliefert zu sein, kann eigentlich nur ein Ergebnis irgendwo zwischen Nahtoderfahrung und Schlaganfall bedeuten. Wobei heute nicht viel gefehlt hat.

Nachdem bereits die ersten markerschütternden Kulminationen ihre Wirkung nicht verfehlt hatten und jene das ungläubige Empfinden durchzuckende Frage aufwarfen, was denn bitte da noch kommen möge, sorgte der zweite Satz mit einer wahrhaften Orgie rhythmischer und dynamischer Exzesse für die zwischenzeitliche Beantwortung und eine regelrechte Neukalibrierung aller für die Bestimmung des Möglichen zuständigen Sinne. Höchste Präzision; makelloser, greifbarer Klang. In ihrer Ausdehnung wahrnehmbare Schallblasen; Gebilde, die sich ausdehnen, die Richtung ändern, erblühen, ersterben, ausfasern, ansatzlos abreißen, von weiche in feste Gestalt wechseln; Quecksilber, das plötzlich erstarrt. Kristallklare Flächen, die gleichzeitig unnahbar und doch unmittelbar berührend sind. Eine alles mitreißende Gewalt spüren und sich in der nächsten Sekunde in ihrem Auge befinden. Jawohl, der richtig gute Stoff. Wie muss das wohl für einen Synästhetiker sein, denke ich mir kurz vor dem Systemabsturz. Dann: Kein Anschluß unter dieser Nummer.

Bevor die Elbphilharmonie gebaut wurde, hieß es ja, sie sei notwendig, da sich die Laeiszhalle nur bedingt für die groß besetzte Orchesterliteratur, namentlich des 20. Jahrhunderts, eigne. Ich hatte durchaus ein bißchen Angst, daß solch eine Argumentation baulich zu einem hübsch hörgerätefreundlichen Stereoanlagensound mit angezogener Handbremse führen könnte. Bereits letzte Woche konnten die Hamburger Symphoniker diese Bedenken eindrucksvoll bei Seite räumen, der heutige Abend hat sie endgültig atomisiert.