19. Juni 2017

St. Petersburger Philharmoniker – Wassili Sinaiski.
Philharmonie St. Petersburg.

20:00 Uhr, Parkett rechts, Reihe 10, Platz 19



Wolfgang Amadeus Mozart – Serenade Nr. 13 für Streicher in G-Dur KV 525 „Eine kleine Nachtmusik“

Ludwig van Beethoven – Zwei Violinromanzen (Ilya Gringolts – Violine)
Zugabe?

(Pause)

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 5



Die St. Petersburger Philharmonie verbirgt sich, nimmt man die schier überwältigende Opulenz der ganzen Innenstadt als Maßstab, hinter fast schon bescheidenen, unscheinbaren Mauern. Ein Eckhaus / Klassizismusblock, wie es dort unzählige gibt, nur der güldene Schriftzug darüber unterscheidet das Portal zum großen Saal von den angrenzenden zu Restaurants u. a.; Kleine Eingangshalle mit Ticketschalter und Gastronomie, etwas versteckte Garderoben, wenig lenkt die Aufmerksamkeit ab von der großen Treppe hinauf zu Foyers und Saal.

Das Programmheft kann nur mit der vehement durch das resolute Personal forcierten Abnahme einer Werbebroschüre über Petersburger Immobilien erstanden werden. Der Hinweis, man möge es nicht wegwerfen – zumindest nicht in diesen Hallen – führt den Begriff „hard selling“ auf eine ungeahnte Ebene, vielleicht sollte ich doch diese Villa hier ... aber nein, es geht schließlich immer noch (auch) um Musik, also weiter mit der Erkundungstour.

Im großen Foyer blicken Komponisten aus geschmackvoll gerahmten Schwarzweiß-Bildern auf die Wartenden herab. Habe ich so noch nicht gesehen, hat im Zusammenspiel mit dem schönen, aber nicht zu verspielten Raum eine wirklich gute Wirkung. Natürlich werden neben Mozart und Beethoven vor allem russische Komponisten geehrt, aber auch ein Exot wie Sibelius ist dabei – und auch Gustav Mahler. Dessen legitimem Nachfolger in Sachen Sinfonik hat man in einem Nebenraum ein Standbild gewidmet – Schostakowitsch steht neben dem Uraufführungsplakat seiner siebten Sinfonie, die auf ewig mit dieser Stadt und seinen Bewohnern verbunden sein wird.

Der große Saal selbst ist eine dezent-klassizistische Variante des Schuhschachtelprinzips, erinnert sehr entfernt an das Berliner Konzerthaus oder vielleicht den Wiener Musikverein, den ich allerdings bislang nur von Bildern kenne. Die Akustik hat mir sehr zugesagt, auch wenn bei Mahlerscher Besetzung selbst in Reihe Zehn nicht wirklich von einem ausgewogenen bzw. kompakten Klangbild gesprochen werden kann, da sich das Riesenorchester in Ermangelung der erforderlichen Bühnentiefe extrem in die Breite aufreiht – Posaunen am äußersten rechten Flügel hab ich auch noch nicht erlebt. Aber der Reihe nach.

Der erste Programmpunkt des Abends, Mozarts Kleine Nachtmusik, ist ausschließlich den Streichern vorbehalten. Der erste Höreindruck verdutzt doppelt: Einerseits scheint man es hier nicht unbedingt mit Präzisionsfanatikern zu tun zu haben, was die rein technische Seite (Einsätze, Intonation) angeht, andererseits habe ich selten einen erleseneren Streicherklang erlebt. Wäre er eine Fotografie, wäre diese nicht auf Hochglanzpapier abgezogen, sondern auf seidenmattem. Seidig, mattiert, minimal herb, ja rauchig, sind Attribute, die mir unweigerlich in den Sinn kommen, oder, weniger assoziativ – wunderschön. Ich frage mich, wieviel die Halle an sich zu diesem Eindruck beiträgt.

Die beiden Violinromanzen von Beethoven sind Neuland für mich, in ihrer gleichermaßen virtuosen wie gesanglichen Art auf den ersten Blick eher nicht „typisch Beethoven“ aber in jedem Fall eine Bereicherung des privaten Repertoires. Ilya Gringolts erobert die Bühne seiner Heimatstadt mit feinem, innig-lyrischem Ton und passt damit perfekt zum Seidenschimmer seiner Philharmoniker-Kollegen. Seine (mir leider unbekannte) Zugabe zeigt dann eine deutlich wildere, hitzig-gespannte, „zigeunerische“ Seite – nicht minder edel im Tonfall.

Nach der Pause dann der mutmaßliche Höhepunkt des Abends – das Publikum sollte nicht enttäuscht werden. Zwar bleibt das Präzisionsempfinden, vorbehaltlich bei schnellen, rhythmischen Strukturen ähnlich kulant, stellt in der großartigen Konzeption Sinaiskis allerdings keinen wirklichen Mangel dar, sondern kann als Teil einer äußerst organischen, flexiblen Lesart gesehen werden, die sich zudem klanglich auf höchstem Niveau bewegt. Insbesondere der zweite Satz in seiner Aggressivität und Zerrissenheit wird von Sinaiski mittels ausgefeilter Rubatogestaltung und kontrastgebenden Tempowechseln dazu genutzt, das Collagehafte bei Mahler zu betonen. Insgesamt geht Sinaiski mit seiner Interpretation aufs Ganze, treibt seine Musiker immer wieder mit Inbrunst an, fordert mehr Intensität von den Streichern etc.

Letztere können auch hier ihren erlesenen Sound voll einbringen, nie schneidend, aber doch ungemein präsent. In den ruhigen, innigen Passagen schaffen sie unter Sinaiskis Führung dann eine weit schwingende Gelöstheit, Zartheit und Intimität, wie ich sie selten erlebt habe. Aber auch an den Kollegen von Holz und Blech lässt sich klanglich berauschen – ansatzlose Hörner und berührende Hornsoli machen das Scherzo, neben vielen anderen staunenswerten Leistungen, zu einer Manifestation betörender Schönheit und bittersüßer Sehnsucht innerhalb des Mahlerschen Kosmos menschlichen Ringens. Momente, wie der im zweiten Satz noch nicht vollendete, im Finale majestätisch triumphierende Choral, werden zur Demonstration dessen, wozu die Blechgruppe eines Orchesters nicht allein dynamisch, sondern vor allem klanglich-qualitativ in der Lage sein kann. Der mitreißende, kompromisslose Jubel des Finales fand seine Entsprechung in der Begeisterung der Hörerschaft – der krönende Abschluss eines großen Abends an ehrwürdiger Stelle.