11. Juni 2017

Schwanensee – Kaspar Mänd.
Nationaloper Estonia Tallinn.

17:00 Uhr, 1. Rang, Reihe 5, Platz 9



Aller guten Dinge sind diesmal nur bedingt drei. Tschaikowskys Schwanensee in Tallinn, die dritte musikalische Station auf meiner Reise durch das Baltikum nach St. Petersburg, brachte mein Blut als ausgesprochener Ballettbanause und Choreografie-Noob leider wenig in Wallung. Wobei, vielleicht habe ich auch einfach nur die den Esten landläufig nachgesagte, nennen wir es mal vorsichtig Stoik, assimiliert. Auf der anderen Seite wurde deutlich, dass auch der Estnische Nachwuchs, heute in großer Zahl in die Vorstellung geschleppt, nicht zwangsläufig eine angeborene andächtige Begeisterung mitbringt, um mehr als zwei Stunden tanzende Menschen in Pastelltönen stillschweigend hinzunehmen. Hielt sich aber insgesamt alles im Rahmen – das Lolli-Papier hier klingt auch nicht anders das Hustenbonbon-Pendant in der Elbphilharmonie. Apropos, gehustet wird im Osten offenbar generell weniger, soweit mich mein Eindruck, auch aus Vilnius und Riga, nicht täuscht.

Kommen wir nun aber zu pastellnen Tänzern und Stummfilmgesten. Kurz: Die Inszenierung und Ausstattung sind eine hoffnungslose Mischung aus Kitsch, Schmalz und Plattheiten, die jede Disney-Adaption wie einen dokumentarischen Betrag des Auslandsjournals aussehen lassen. Dabei möchte ich mich gar nicht per se gegen eine (visuell) klassische, traditionelle, konservative, oder wie auch immer man das nennen mag, Aufführung sperren, allerdings hätte ich schon erwartet, dass insbesondere die nicht rein getanzten, die wesentlichen Schnittstellen der Handlung transportierenden Momente nicht ganz so mit dem Holzhammer dargestellt werden. Der Begriff „theatralisch“ hat nie passender Anwendung gefunden als bei den Gesten dieser Produktion, sei es der Schwur des Prinzen oder wirklich jede einzelne Regung des Bösen Zauberers, der angesichts seiner Bühnenpräsenz und Kostümierung problemlos einer Fantasialand-Show entsprungen sein könnte.Sein Abgang – unter Kunstnebel und Tischfeuerwerk-Lichtblitzen, sich krümmend zusammensinkend und nach dem Ableben unauffällig wegrobbend – wird sich auf ewig in mein Gedächtnis einbrennen.

Wer es plakativ mag – bitte, ich kann mich der unfreiwilligen Komik nicht erwehren. Selbige speist sich nicht zuletzt auch aus den weitgehend in Pastellfarben gehaltenen, etwas biederen Kostümen, die zusammen mit dem ebenfalls in Lachs oder Himmelblau heimelnden Bühnenbild um die Wette schnulzen. Einzig die nächtliche Sphäre der wässernen Heimstatt des Federviehs – natürlich von einem überdimensionalen Mond in romantisch-fahles Licht getaucht – bietet dem Auge durch das dunkle Setting und die, diesmal ganz im positiven Sinne gemeint, klassischen und weißen Schwanenkleidchen etwas Zuckerbäcker-Entlastung. Aber wo wir schon mal bei den Schwänen sind: an der Animation des im Hintergrund ein- und ausfliegenden Geschwaders wird noch einmal deutlich, welch guten Job man doch in Riga mit dem ebenfalls scheinbar abgegriffenen Bild des Schmetterlings in der dortigen Produktion des Eugen Onegin abgeliefert hat (Link) – hier in Tallinn zieht der Kitsch eine flatterte Schleimspur über den rosa Abendhimmel.

Bezogen auf die eigentliche Tanzchoreografie kann ich mangels Vergleiche wenig sagen. Im Allgemeinen stellt sich jedoch heraus, dass es vor allem die „grafischen“ Ensembleszenen sind, in denen es auf Parallelität und Synchronität ankommt, die mich am meisten ansprechen. Die Formationsflüge der Schwäne im 4. Akt sind das beste Beispiel für diese Staffelwirkungen. Dem gegenüber ermüdet mich die virtuose Seite der Choreografie mit ihren Drehungen und Sprüngen mit fortlaufender Dauer. In Sachen Artistik und Körperbeherrschung mögen das beeindruckende sportliche Leistungen sein, in der permanenten Wiederholung dieser Formen liegt für mich jedoch kein Reiz – aber ich schaue halt auch kein Springreiten.

Interessanter als die visuelle Seite des Abends erwies sich allerdings die akustische, da mir heute der Unterschied zwischen einem Konzert- und einem Ballettdirigat wirklich eklatant aufgefallen ist. Da mir viele der Stücke Tschaikowskys gut aus dem Konzertbetrieb und von diversen Einspielungen als Suite bekannt sind, staunte ich nicht schlecht, wie sehr deren Ausführung durch Herrn Mänd differiert, ganz besonders in der Tempogestaltung: Der Dirigent erlaubt sich hier deutlich weniger Freiheiten, es herrscht ein ziemlich starres Grundmetrum, von krassen Tempoverschärfungen oder -wechseln wird komplett abgesehen. Ziel ist offenbar die Verlässlichkeit des Metrums für die Schrittfolgen der Tänzer zu garantieren, um somit ein Höchstmaß an Synchronität, gerade in Ensembleszenen, zu gewährleisten. Ein schönes Beispiel für diese relativ starre Lesart ist der berühmte Walzer des ersten Aktes, bei dem Mänd komplett auf die sonst im Konzertsaal üblichen Tempoverschärfungen zum Ende hin verzichtet, und den Schlag stattdessen metronomartig durchhält. So zieht sich das mehr oder weniger durch alle Nummern, bei solistischen Nummern ist unter Umständen etwas mehr Spielraum, hier und da auch mal eine leichte Schlussverzögerung drin.

Dass diese Eigenart der Gestaltung eindeutig balletbedingt ist und nicht etwa auf dem zwanghaften Gemüt des Dirigenten beruht, wird sehr schön an der Passage deutlich, die jenes bekannte, klagende Thema beinhaltet, welches das ganze Werk bis zur finalen Wendung nach Dur im vierten Akt durchzieht: Bei seinem ersten Auftreten – viele Tänzer bevölkern die Bühne – nimmt es Herr Mänd sehr streng in gleichbleibendem Tempo, um ihm dann, während des Übergangs zum nächsten Bild/Akt bei geschlossenem Vorgang ein komplett anderes, dramatisch drängendes Gesicht mit erheblichem accelerando zu geben. Zu seinem dritten Einsatz wiederum – als Begleitung des einzelnen Paares – wählt Mänd eine Art Mischform beider Extreme mit etwas mehr Tempomodulation als in der Ensembleszene. Während das Tempo beim Pas de trois zwischendurch scheinbar anzieht, wird vom Dirigenten einfach die Schlagfrequenz verdoppelt – das eigentliche Metrum bleibt exakt erhalten. Zum Tanz der kleinen Schwäne wiederum, der stark von der Synchronität lebt, hätte man auch einfach ein Metronom ans Pult stellen können. Und so weiter und so fort.

Das Orchester agiert dabei ordentlich, aber ausbaufähig. Der Klang an sich ist ok, allerdings schleichen sich immer wieder kleine Fehler und Ungenauigkeiten ein. So gelingt beispielsweise die Hornstelle des besagten Klagethemas erst im dritten Anlauf richtig gut. Auch die Trompeten sind nicht immer sattelfest. Die verschiedenen Violinsoli kann man sich in Intonation und Ausdruck durchaus weniger irdisch vorstellen. Alles kein Beinbruch, aber eben doch weit entfernt von Extraklasse. Die Akustik nimmt sich zumindest auf meinem Platz sehr direkt, fast etwas schroff aus, dafür überträgt sich die Musik stets präsent. Um mir ein fundiertes Urteil über die Qualität der Compagnie erlauben zu können, fehlen mir definitiv die Vergleiche, dennoch muss ich gestehen, dass die Tänzer nicht durchgehend meiner (naiven?) Vorstellung von Timing, Präzision und Synchronität entsprechen haben. Das müsste besser gehen.

Abschließend noch ein paar Gedanken zum Werk selbst. Der Hauptvorzug des Abends bestand fraglos darin, die mit sonst nur in Teilen aus dem Konzertbetrieb bekannte Ballettmusik im Kontext als dramatisches Ganzes erleben zu können. Neben den allseits bekannten Nummern gab es eine Vielzahl an Stücken, die ich so zumindest noch nie bewusst gehört habe. Dennoch scheint nicht das schlechteste Material Eingang in die Suite(n) gefunden zu haben. Im dramatischen Gefüge am wenigsten gefällt mir definitiv der dritte Akt (Hier als erstes Bild des zweiten Aktes bezeichnet). Die Folge der Ländertanz-Episode mag als Vorwand für die Präsentation unterschiedlichen, ja exotischen musikalischen Materials, ganz manierlich sein, spätestens die Umgarnung des Prinzen durch die falsche Odette hat mich in ihrer eleganten Harmlosigkeit dann doch enttäuscht.

Vielleicht interpretiere ich als Wagnergeschädigter die Figur der Ottilie auch zu sehr in der Kontrastkategorie einer Venus zu Elisabeth, als zwei Pole des Weiblichen (oder deren männlicher Projektionen) – die reine, keusche Seite und die sinnliche, verführerische. Bild und Gegenbild – sicher nicht ohne Grund von ein und derselben Tänzerin interpretiert. So dämonisch die Klangsprache ist, die Tschaikowsky für den Einflussbereich des Zauberers findet, so wenig verführerisch erscheint mir die Verführung, so wenig sinister die Täuschung. Stark hingegen der Auftritt des Prinzen im letzten Bild/Akt, begleitet von majestätischem Blech naht der reuige Retter. Ebenso der abschließende Sonnenaufgang – ganz knapp am Kitsch vorbei trifft die herrliche Musik das Romantikerherz.

Fazit: Ein Meisterwerk trotz Längen, ein ergiebiger Abend trotz Abstrichen.


Pjotr Iljitsch Tschaikowsky – Schwanensee
Musikalische Leitung – Kaspar Mänd
Choreografie und Regie – Toomas Edur
Designer – Thomas Mika
Licht – Steen Bjarke

Odette/Ottilie – Ekaterina Oleynik
Prinz Siegfried — Denis Klimuk
Rothbart, der böse Zauberer – Ali Urata
Die Königin — Svetlana Pavlova
Der Zeremonienmeister — Vitali Nikolajev
Pas de trois – Nanae Maruyama, Elisabetta Formento, Zachary Rogers
Die Bräute – Ketlin Oja, Marika Muiste, Marta Navasardyan, Ashleigh McKimmie, Elisabetta Formento
Die vier kleinen Schwäne — Marta Navasardyan, Oksana Saar, Heidi Kopti, Seili Loorits
Die zwei großen Schwäne — Ketlin Oja, Ashleigh McKimmie
Csárdás – Lauren Janeway, Marjana Fazullina, Yana Savitskaya, Nadezda Antipenko, William Simmons, Alexandre Konarev, Caspar Stadler, Benjamin Thomas
Russischer Tanz – Nanae Maruyama, Oksana Saar, Christina Harward, Carlos Garcia, Bruno Micchiardi
Spanischer Tanz — Heidi Kopti, Ali Urata, Eneke Amoros
Neapolitanischer Tanz – Marita Weintrank, Madoka Sasaki, Abigail Mattox, Lucinda Strachan, Gili Neria, Ana Maria Gergely
Mazurka – Aljona Burdanova, Christina Krigolson, Carolina Sumarok, Urve-Ly Voogand, Vadim Mjagkov, John Rhys Halliwell, Carlos Vecino, Michael Pontius
Schwäne – Nationalballett Estonia
Studenten der Ballettschule Tallinn, Statisterie

Orchester der Nationaloper Estonia