9. Juni 2017

Eugen Onegin – Jānis Apeinis.
Lettische Nationaloper Riga.

19:00 Uhr, 1. Rang Balkon rechts, Reihe 4, Platz 13/14




Auch der zweite musikalische Zwischenstopp auf dem Weg nach St. Petersburg gestaltet sich äußerst erfolgreich. Bei meinem ersten Live-Onegin überhaupt, ließ die Lettische Nationaloper Riga keine Wünsche offen. Besonders angetan hat es mir die Inszenierung, welche mit einem stimmungsvollen Bühnenbild, opulenten Kostümen sowie einer einfühlsamen Personenregie aufwartet und all dies in ein schlüssiges, poetisches Ganzes fügt.

Während die Bühne im wesentlichen durch die gleichen Elemente beherrscht wird – ein stilisiertes, transparentes Landhaus, das aus einem Dach- und mehreren Wandsegmenten, begehbaren Glaskästen, besteht – werden diese modular an die einzelnen Szenen angepasst, so dass unterschiedliche Raumsituationen entstehen. So bilden zwei diagonal in einer Flucht aufgestellte Wandelemente die Schrittachsen beim Duell zwischen Lenski und Onegin oder schaffen zu mehreren nebeneinander parallel angeordnet angedeutete Säulengänge (oder auch Logen) bei der Ballszene im dritten Akt.

Wenige Requisiten sorgen für zusätzliche Verortung. Eine Weizenreihe hinter dem Haus deutet den ländlichen Kontext im ersten Akt an, für die Handlung elementare Bestandteile, wie die Gartenschaukel, der Schaukelstuhl oder Tatjanas Bett, erfahren durch diese Reduktion eine besondere Betonung. Darüber hinaus bestimmt eine unbunte Gestaltung das gesamte Bühnebild – weißes Mobiliar, die angesprochenen Rahmenkonstruktionen mit Glaselementen, sowie eine generell dunkle Ausleuchtung; Farbakzente, in erster Linie ein tiefes Rot, werden durch Details der Kostüme und eine überaus geschmackvolle Lichtregie hinzugefügt.

Die Farbe Rot wird dabei nicht allein dekorativ, sondern als handlungsimmanentes Leitmotiv verwendet, welches als Symbol für Liebe bzw. Verlangen oder schlicht Emotion deutbar ist. Das mag naheliegend, gar wenig innovativ klingen, verfehlt seine visuelle Kraft und Eindringlichkeit jedoch keineswegs, da die Regie auch mit diesem Detail alles andere als platt umgeht. Ein Beispiel dafür ist die Szene, in der sich die Frauen auf Onegins Ankunft vorbereiten. Die roten Accessoires, die gewählt werden, unterscheiden sich dabei signifikant von Dame zu Dame und lassen Rückschlüsse auf deren jeweiligen Familienstand bzw. ihre Einstellung in Liebesdingen zu. So signalisieren die strengen Handschuhe, welche die Witwe anzieht, dass für sie das Thema keine Relevanz mehr besitzt, während Tatjana ein Tuch züchtig und streng um ihre Schultern legt, Olga ihr Halstuch wiederum neckisch über eine Schulter geworfen trägt, so als ob es jederzeit herunterfallen oder abgestreift werden könnte – ein Beleg für das lebenslustige, offene Gemüt der jüngeren Tochter.

Die Kostüme insgesamt bestechen durch aufwändige Gestaltung sowie fantasievolle Schnitte und stellen für sich bereits einen visuellen Hochgenuss dar – verantwortlich dafür zeichnet die Modedesignerin Inese Ozola, deren Label Amoralle sonst Dessous und Nachtwäsche fertigt. Die Kostüme unterstreichen ebenfalls die unterschiedlichen Charaktere bzw. ihr Inneres – die verträumte Tatjana zuerst in hochgeschlossenem Weiß, ihre Schwester Olga in verführerischem, teilweise halbtransparentem Schwarz. Onegin mit freien Oberarmen als Sinnbild von Virilität, der Poet Lenski mit Federbesatz am Mantel. Diese individuelle Gewandung wird zudem jeweils noch mit der Szenenfolge variiert bzw. je nach Entwicklung des Charakters angepasst. Ferner gibt es einige, fast surreal anmutende Erscheinungen, wie den grell geschminkten, magierhaften Triquet oder eine fast nackte männliche Figur, die als Maske einen Hirschschädel mit Geweih trägt. Letztere führt in der Festszene des zweiten Aktes andere Männer mit kleinen Geweihen zu Tatjana, um ihr allerdings jeden von ihnen mit einer abweisenden Geste wieder zu entziehen. Ein weiteres Beispiel für einfache, aber eindringliche Bilder der Regie: Die Seile der omnipräsenten Gartenschaukel, zwischenzeitlich von unschuldigen Kindern benutzt, bilden bei Lenskis Abschiedsarie einen angedeuteten Galgen.

Wunderbar integriert in die Dramaturgie sind die sparsam eingesetzten Videoproduktionen von Ieva Balode, die von Beginn an ein weiteres Leitmotiv etablieren: den Schmetterling. Mag man die ersten Bilder des schlüpfenden, seine Flügel ausbreitenden einzelnen Exemplars vor allem mit Tatjanas selbst und ihren erwachenden Gefühlen in Verbindung bringen, sind es schließlich unzählige strömende Falter, die man als Motiv für die (nicht greifbare?) Liebe deuten kann. Vielsagend dann die Projektion, die in Verbindung zur Abweisung Tatjanas durch Onegin steht: Der schöne (tote) Schmetterling wird mittels einzelner Nadeln fixiert, drapieret, präpariert. Ebenso stark der Moment, der die Liebe zwischen Lenski und Olga, indirekt aber auch final zwischen Onegin und Tatjana zerstört: Statt des obligatorischen Schussgeräusches beim Duell sehen wir ein Knäuel Falter, welches sich eingangs der Szene zusammengefunden hatte, jäh auseinanderstieben. Natürlich bietet auch das Bild des Schmetterlings nicht wenig Kitschpotenzial, welches die Video-Künstlerin hier jedoch mit einem sehr grafischen Look, der rein aus invertiertem Schwarzweißmaterial besteht, ästhetisch anspruchsvoll umschifft.

Behutsam nimmt die Regie desweiteren gewisse szenische Änderungen vor, um bestimmte Momente mit einer weiteren Bedeutungsebene zu versehen. Während Tatjana den Brief schreibt (schließlich bedecken ihre Zeilen symbolhaft das ganze Bettlaken), kommen nach und nach die anderen drei Frauen des Hauses hinzu, stumme Zeugen ihrer Reaktion auf Onegins Erscheinen, das sie alle nicht kalt lässt. Ein anders Beispiel ist die Duellszene, in der Onegin statt des eigentlich unpassenden Kammerdieners ein Kartenspiel als „Sekundanten“ vorstellt. Die beiden Freunde setzen sich vor dem für Lenski tödlichen Ausgang ihres (nichtigen) Streites und spielen eine letzte gemeinsame Partie – das Leben, ein Spiel?

Lädt die fantasievolle Inszenierung dazu ein, viele der Ideen festhalten zu wollen, lässt sich die musikalische Seite relativ einfach umreißen: hohe Qualität in allen Belangen. Die Sängerriege ist ohne Schwachstelle, für mich persönlich sticht Irina Shishkova als Olga aus einem ausgewogenen Ensemble angesichts ihrer besonderen stimmlichen wie darstellerische Präsenz noch hervor. Ihr Mezzosopran erfüllt alles an Sinnlichkeit, ja Erotik, welche man mit dem Gegenentwurf zur träumerischen, schüchternen Tatjana verbindet. Deren Sopran wiederum ist mir teilweise fast schon ein wenig zu dramatisch, weniger lyrisch als Kontrast, wobei Frau Kovalevska gerade auch die innigen Passagen wunderbar meistert. Raimonds Bramanis besitzt einen kräftigen, klangschönen Charaktertenor, der vor allem im Duett mit Onegin besticht. Bei der berühmten Abschiedsarie wird allerdings schon deutlich, dass seine Stimme eher Klarheit denn Schmelz auszeichnet – was nichts an ihrem einfühlsamen Vortrag ändert.

Der Sänger des Onegin, Jānis Apeinis, ist auch stimmlich mit seinem durchdringenden Bariton der Platzhirsch. Verblüffenderweise ist dieser Rolle keine der jeweils die Akte krönenden Arien bestimmt – erster Akt: Tatjana, zweiter Akt: Lenski, dritter Akt: nicht Onegin, sondern Gremin. Vielleicht Tschaikowskys Weg, um dieser arroganten, in meinen Augen ziemlich unsympathischen und ichbezogenen Figur beizukommen (allein die Worte, mit denen er Tatjana im dritten Akt zur Aufgabe ihrer Ehe drängt, à la „Ich bin für Dich von Gott gesandt“ etc. sind ja schon eher aus der Lohengrin-Kategorie als von einem an echter Partnerschaft interessierten, mündigen Menschen)? Egal, Herr Apeinis mächtiges Organ füllt dieses Ego jedenfalls trefflich aus. Als heimlicher Held der Aufführung und des Publikums erweist sich dann Romāns Poļisadovs’ markanter Bass, der dem hier als Greis im elektrischen Rollstuhl dargestellten Fürst Gremin Autorität und Würde verleiht.

Die übrigen Sänger und der tadellose Chor runden gemeinsam mit dem Orchester der Lettischen Nationaloper unter Ainārs Rubikis das starke Gesamtbild ab. Rein akustisch sind die leicht sichteingeschränkten Plätze in der letzten Reihe des ersten Balkons übrigens überraschend gut – präsenter, dabei homogener Klang aus dem Graben in Kombination mit klar und deutlich zu vernehmenden Stimmen.

Fazit: Besser hätte ich mir die erste Begegnung mit dieser Oper auf der Bühne kaum wünschen können.


Pjotr Tschaikowsky – Eugen Onegin
Musikalische Leitung – Ainārs Rubikis
Inszenierung – Rēzija Kalniņa
Bühne – Michael Kramenko
Kostüme – Amoralle
Licht – Sergei Skornetskii
Choreografie – Ilze Zīriņa
Video – Ieva Balode

Larina, Gutsbesitzerwitwe – Kristīne Zadovska
Tatjana, ältere Tochter – Maija Kovalevska
Olga, jüngere Tochter – Irina Shishkova
Filipjewna, Kinderfrau – Andžella Goba
Lenski, Gutsnachbar und Dichter – Raimonds Bramanis
Eugen Onegin, Gutsnachbar – Jānis Apeinis
Triquet, ein Franzose – Andris Kipļuks
Fürst Gremin – Romāns Poļisadovs
Saretzki, Sekundant – Kārlis Saržants
Ein Hauptmann – Kārlis Saržants
Chor – Bauern, Beerenpflückerinnen, Festgäste

Chor der Lettischen Nationaloper, Orchester der Lettischen Nationaloper, Statisterie