19:00 Uhr, Ebene 12 D, Reihe 3, Platz 4
Richard Wagner – Vorspiel und Liebestod aus „Tristan und Isolde“
Anton Bruckner – Sinfonie Nr. 9 d-Moll
Die Staatskapelle Berlin und ihr Chef mit einem absoluten Traumprogramm im Gepäck. Glücklicherweise war die Atmosphäre im Saal, abgesehen von einigen offenbar unvermeidlich-unverbesserlichen Hust-Trampeltieren, erfreulich konzentriert. Mein erster Gedanke beim Tristan-Vorspiel: Mensch Daniel, warum so schleppend? Barenboim gestaltet, behutsam, expressiv, aber eben auch sehr, sehr langsam. Musste ich mich dran gewöhnen. Kann man aber schon machen, wenn man solche Streicher hat. In Sachen Klang ist die Staatskapelle wirklich eine Wucht, obgleich auch hier keine unfehlbaren Musikmaschinen sitzen, wie sich vor allem später im Bruckner zeigen sollte.
Aber noch läuft Wagner, Woge für Woge, Welle für Welle wächst das zum Zerreißen angespannte Streben nach musikalischer Auflösung, emotionaler Erlösung. Diese entfesselt Barenboim in Isoldens Verklärung dann im Kontrast zum Vorspiel in fast eilendem Drängen. So ergibt das langsame Tempo des Beginns durchaus Sinn. Die Chromatik schraubt und schraubt sich in immer sehnsuchtsvoller verästelte Höhen, die Tränen rinnen, Wagner, der alte Seelenverdreher, hat es wieder einmal geschafft.
Und dass, obwohl mir Barenboims Konzeption zumindest auf den ersten Blick gar nicht mal so nahe steht. Aber das Wichtigste: Der Mann HAT ein Konzept. Wie er die sich mischenden Orchesterstimmen differenziert verwebt, an- und abschwellen lässt, ist alles andere als der Standartzugang. Immer wieder nimmt er im Verlauf der Entwicklung die Dynamik zurück, um die Spannung zu halten, die Stufen des Verlangens werden bei ihm nicht vulgär zur Schau gestellt, sondern behalten ihre nervös-kontrollierte Erwartung bis zur Entladung.
Im Bruckner zeigt sich Barenboim nicht weniger als Freund nuancierter Binnengestaltung. Gerade im ersten Satz fällt auf, wie er die einzelnen Abschnitte für sich gesondert behandelt, vor allem Tempokontraste im Kleinen realisiert. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob dadurch der Fluß insgesamt ein wenig leidet, letzten Endes stellt sich diese Lesart aber als probates Mittel heraus, gerade das Blockhafte, Registerhafte in der Struktur Bruckners, auch im Vergleich zum treibsandigen Wagner, anschaulich und mitreißend herauszustellen.
Und wie bereits beim Tristan ist es auch hier der eigenständige, dunkle Klang der Staatskapelle, welcher die Umsetzung auf ein Spitzenniveau hebt. Da fällt es kaum ins Gewicht, dass sich tatsächlich relativ viele kleine Unsauberkeiten, namentlich im Blech, einschleichen. Kiekser und Ansatzprobleme von Horn und Trompete, auch bei Soli, sind natürlich generell kein seltenes Phänomen, gerade beim blechlastigen Bruckner, aber wenn ein Orchester über solch eine klangliche Qualität und Präsenz des Blechs an sich verfügt, sind das erst recht Marginalien. Regelrecht verliebt habe ich mich in die Posaunen und Tuba – schwärzer, markerschütternd-drohender geht es kaum. Und dann wieder seidig-edel im Choral, überhaupt ist die gesamte Blechbatterie von den Trompeten bis zu den Wagnertuben im Verbund eine Macht.
Die traumhaften Streicher hatte ich ja bereits erwähnt. Fein und edel die hohen Vertreter, mit einer dunklen Note, die Celli bei Bedarf herrlich zupackend und knackig, die Bässe (heute wieder links auf der Bühne innerhalb der deutschen Aufstellung platziert) schön sonor und präsent. Und auch das Holz ist von erlesener Güte, gerade die Flöten im Adagio sehr zart und innig. Seltsamerweise habe ich im Vergleich dazu die Solo-Oboe ein wenig hart wahrgenommen – vielleicht lag es aber wiederum an meinem Platz, der sich ja schon mehrfach als äußerst direkt und schonungslos im Wahrnehmungsergebnis erwiesen hat. Eben mehr Seziertisch als die Zaubermischung auf 13 E, trotzdem speziell bei solchen Spitzenorchestern sehr lehrreich.
Aber zurück zu Barenboims Bruckner. Dominiert den ersten Satz ein mannigfaltiges Repertoire an Stilmitteln wie starke Ritardandi, generelle Kontrastwirkungen in Tempo und Dynamik, verblüfft das Scherzo mit kompromissloser, rhythmischer Härte, gepaart mit einem äußerst flotten Tempo. Auch hier ist der Kontrast zum Nebenthema und gesanglichen Trio nicht zu verachten. Das Adagio wiederum gerät unter Barenboim zu der intimen Seelenwanderung, die Bruckner als letzte vollendete Äußerung seines Glaubens in Tönen manifestiert hat. Es ist müßig, wieder einmal sogenannte Programm- gegen (angebliche) absolute Musik auszuspielen, die Stimmungen und vor allem Stimmungswechsel, die Bruckner hier realisiert, sind für jeden Hörer, der mit dem Verstand und dem Herzen aufnimmt, ganz sicher mehr als die Nebenwirkungen höchster kompositorischer Meisterschaft.
Wenn nach der letzten Steigerung, unwidersprüchlich umklammert von dem mahnenden Machtwort des vollen Blechs aus tiefster Tiefe, sich in der Folge eine einzelne Oboe einsam, scheu, zweifelnd, doch nicht ohne Hoffnung langsam hervortastet, um schließlich in der wohlig-seligen Gewissheit des Satzschlusses aufzugehen, wie unter eine warme Decke, dann ist dies in meinen Ohren mehr Bekenntnis denn handwerkliche Konsequenz. Am Ende muss jeder für sich entscheiden, wie man solche Musik wahrnimmt, für mich hat der auskomponierte Platz auf der Wolke, gerade vor dem biografischen Hintergrund Bruckners, nichts Belächelnswertes.