Das ist schon bizarr. Jedes Mal aufs Neue, wenn ich dieses faszinierend radikale Werk erleben darf, frage ich mich, welcher Prozentsatz im Publikum überhaupt ansatzweise mitgeschnitten hat, was ihm da gerade vor den Latz geknallt wurde. Die allgemeinen Reaktionen gehen hier ja oft von teilnahmslos über irritiert bis hin zu erheitert. Einfach krass, angesichts der Tatsache, dass man einer einzigen großen Abrechnung jenes Lebens-Konzeptes beiwohnt, das wir mehr oder weniger alle im Saal mittragen. So würde es zumindest der Pessimist in mir formulieren.
Wobei sich dann genauso die Frage stellt, was denn nun verwerflicher ist – die Brisanz, will meinen die Relevanz des Stückes für sich selbst zu übersehen und beispielsweise für den sich zu Tode fressenden Jack nur ein beherztes Lachen übrig zu haben, das keinerlei Anstalten macht, im dafür sprichwörtlich und vom Autor vorgesehenen Halse stecken zu bleiben, sondern selbigem unbedarft frei entfleucht, oder aber die Botschaft zu erkennen, ohne jedoch nach dem Verlassen des Tempels der Erkenntnis etwas an seinem Leben zu ändern.
Aber mal halblang, fällt da der Optimist in den verworrenen Gedankengang ein, man kann auch alles künstlich kompliziert machen. Botschaften hat das Stück eine Menge, mitunter einige, die es sicher gründlich zu hinterfragen gilt, aber wenn so ein Abend auch nur ein bißchen zum Grübeln über sich und die Welt angeregt hat, dann ist doch schon viel gewonnen.
Ein Gewinn war dieser Abend fürwahr. Zum einen weil es vom musikalischen Standpunkt aus eine gelungene Premiere war. Deniz Yilmaz gibt einen überzeugenden Jim Mahoney mit Durchsetzungskraft und schönem Schmelz. Sowohl seine Kumpane als auch das Ganoventrio sind ordentlich besetzt, (Wieder-)Entdeckung des Abends ist jedoch Marysol Schalit, die ich als Jenny schon seinerzeit in Bremen bewundern durfte (Link), deren Qualität sich nicht allein in einer schönen Stimme erschöpft, sondern die mit ihrer Präsenz für die intensivsten Momente des Abends sorgte. Kälter und unterschwellig triumphierender kann man das bitterböse „Denn wie man sich bettet ...“ wohl kaum dem verzweifelten Jim entgegnen.
Chor und Orchester rundeten den positiven Gesamteindruck ab, einzig das Dirigat hätte für meine Begriffe ruhig noch etwas akzentuierter, ja aggressiver ausfallen können, gerade um die mitunter rhythmische Schärfe und blockhafte Aneinanderreihung der Nummern zu betonen. So legte Herr Suganandarajah eher gemäßigte Tempi und eine etwas statische Lesart an den Tag. Unverständlich bleibt mir jedoch das plötzlich einsetzende, hektisch hinfort eilende Accelerando in der Steigerung der Arie Jims („Nur die Nacht“), welche selbige leider nach zauberhaft ruhig atmendem Beginn zunichtemachte. Schade um die wundervolle Stelle.
Darüber hinaus zeigt sich in Koblenz wieder einmal, daß Mahagonny die Regisseure offenbar zu besonders kreativen Arbeiten inspiriert. Auch diese Inszenierung wartet mit einer Fülle an Ideen auf, die das skurrile Treiben wunderbar frisch und knallig vor unseren Augen ausrollen. Der heterogenen Bilderfolge mit ihren vielgestaltigen musikalischen Ausdrucksformen begegnet die Regie mit einer breiten Palette an visuellen und szenischen Mitteln. Die Ausstattung reicht dabei von lapidar „Selbstgebasteltem“, wie dem kleinen havarierten Pappauto, das sich Dreieinigkeitsmoses in der Introduktion umgeschnallt hat oder dem Fernseher und Kamera aus Pappe, mit denen er und Fatty den Appell an die Städter als Mahagonny-Werbespot verpackt richten, bis hin zu aufwändigen Projektionen nebst ausgefeilter Lichtregie.
Hauptaufgabe der Videoinstallation ist es hierbei, der Entwicklung der Netzestadt eine weitere, gewissermaßen als Folie über die Handlung gelegte Entwicklung zur Seite zu stellen – die Entstehung und Ausbreitung der digitalen Revolution, der Computerisierung, Digitalisierung, des Internets, letztlich der (digitalen) Globalisierung. Klingt auf den ersten Blick vielleicht konstruiert, erweist sich im Abgleich mit den Geschehnissen aber überraschend deckungsgleich, da wir als Zuschauer hier wie dort dem Weg des Geldes folgen, besser gesagt, dem Streben nach demselben, dem Ausloten des Möglichen, Machbaren, Kapitalisierbaren – Krise(n) und (möglicher?) Kollaps inbegriffen.
Dabei geht es dem Regieteam meinem Empfinden nach weniger um eine 1:1 Übertragung der Handlung ins sogenannte Digitale Zeitalter, als vielmehr um eine Verquickung der kapitalismuskritischen Botschaft des Stückes mit uns nur allzu gut bekannten Bildern, Zitaten und Marken unserer Zeit. Wobei das mit dem „uns“ vielleicht so eine Sache ist – womit sich mir noch einmal die eingangs gestellte Frage stellt nach dem, was das Publikum so „mitschneidet“. Nicht, daß ich diese wunderbare Inszenierung selbst in Frage stellen wollte, es entbehrte nur nicht einer gewissen Ironie, als die Rednerin der Einführung über den täglichen Gebrauch von Smartphones und Emojis philosophierte und ich von meinem Randplatz eher fragende Gesichter bei der doch meist silberbeschopften Zielgruppe wahrnahm. Aber gut, man hat ja im Zweifel Enkel ...
Ne, Spaß beiseite, diese Form der „Aktualisierung“ ist mir weitaus lieber als so manche bemühte Verpflanzung einer Opernhandlung, die man sonst gern mal erdulden muß. Und am Ende ist es wahrscheinlich auch egal, ab man die einzelnen Anspielungen auf Marken der New Economy bzw. deren Logos im Detail decodieren kann, das Bild einer bunten, oberflächlichen Konsumwelt entsteht auch so. Natürlich ist es ungleich komischer, wenn man die Figur der Borg-Queen aus Star Trek kennt, als deren Inkarnation die Begbick in der Gerichtsszene ihre Mahagonny-Schäflein an unsichtbaren Schnüren im Sinne der pervertierten Rechtsprechung dirigiert – ein treffenderes Bild (digitaler) „Schwarmintelligenz“ ist kaum denkbar – aber auch ohne dieses Nerdwissen versteht man: Wir sind Mahagonny – Widerstand ist zwecklos!
So wohnen wir also gespannt der Gründung dieser vermeintlichen Paradiesstadt bei, flankiert von der grünlichen Illumination der ersten Pixel-Zellteilung. Beide Systeme entwickeln sich rasant, jedoch nicht ohne Hindernisse – der ausbleibende Geldsegen Mahagonnys wird von einem Systemabsturz begleitet. Aber der tote Punkt ist hier wie dort Beginn ganz neuer Möglichkeiten. Schöne neue Grafik- und Konsumwelt. Wobei den eigentlichen Umbruch erst jene Nacht bringt, in der, wie es so schön auf dem Zwischentitel heißt, „ein einfacher Holzfäller die Gesetze der Glückseligkeit erfand“. Alles ist erlaubt – solange man nur dafür bezahlen kann.
Die Illustration dieses radikalen Konzeptes des totalen Konsums erfolgt mit den bereits angesprochenen Insignien der digitalen Revolution. Ob Internet-Auktions- oder Warenhaus, ob Suchmaschine oder Soziales Netzwerk, Soft- und Hardwareriese mit Lifestylemission oder Weltmarktführer-Browser, sie alle tauchen in Form von Schlagworten in Unternehmenstypografie und wandelnden Logos/Icons auf, zu denen die Mitwirkenden per Ganzkörperkostüm gemacht werden und geben den vier Parolen (Fr)Essen, (Boxen) Kämpfen, Lieben, Saufen eine zeitgemäße Konnotation.
Unterstützend kommen auch hier Videoprojektionen zum Einsatz. Besonders gelungen wie sinnfällig die Umsetzung des Boxkampfes zwischen Joe und Dreieinigkeitsmoses, den Ausschnitte verschiedener Computerspiele begleiten, vom simplen Telespiel über immer ausgefeiltere virtuelle Welten bis hin zu den in allem Realismus ausgelebten Gewaltorgien moderner Shooter oder Beat ’em ups: Die Sehnsucht nach Zerstreuung, das Lust- und Suchtpotenzial des (spielerischen) Wettkampfs, die Befriedigung von Allmachtsphantasien im stillen Kämmerlein – all das schwingt in dieser kurzen Sequenz mit.
Die mechanisch abgespulte Routine der „Liebesakt“-Szene („Jungens macht rascher!“) korrespondiert mit dem zur abstrakten Virtual Reality-Schönheit duplizierten Antlitz Jennys, an dem sich die „Kunden“ ergötzen und vergeblich in physischen Kontakt zu treten suchen. Anonymität und Bilderkult. Gewissermaßen die Weiterentwicklung des Computerportraits Jennys, welches im ersten Akt während des Kennenlernens von Jim und Jenny über den beiden thront, nachdem er sie erworben hat und von ihr nach seinen Vorlieben befragt wird, was schon hier die Brücke zu Internetpornografie oder Cyber Sex schlägt.
Die Inszenierung ist reich an intelligenten Verknüpfungen dieser Art, sie allesamt aufzuzählen, wäre eine ebenso abendfüllende Tätigkeit wie der Besuch der Oper – einfach mal nach Koblenz gondeln und erleben. Das Stück als solches ist schon jede Anfahrt wert. Ich bin immer wieder verblüfft, wie stark das Konzept Brechts/Weills mich berührt, ohne dabei in erster Linie wie so oft mit emotionaler Überwältigung, sondern vielmehr scharf pointierter Entwaffnung zu operieren. Eine Form von Offenheit, ja Unverhohlenheit, derer sich mein Geist und Herz nur schwer erwehren können. Wobei insbesondere im dritten Akt schon die permanente Gefahr besteht, in einer „Alles Scheiße, Deine Elli“-Stimmung zu versumpfen: Die Welt ist schlecht – ich hab's kapiert!
Doch ganz so beschissen ist die Lage vielleicht doch nicht, besieht man sich, in welch mitreißende, überbordend schlaue und gleichzeitig beseelte Musik der Herr Komponist all die ätzende Kritik gegossen hat. Galle und Genuß, in diesem Werk ist beides auf das Befremdlichste, Berührendste miteinander verschmolzen. „Ganz genau wie in dieser großartig schrecklichen und schrecklich großartigen Welt“, raunen Pessimist und Optimist einander zu. Und freuen sich bereits auf die nächste Inszenierung dieser makellosen Katastrophe.
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny – Kurt Weill
Musikalische Leitung – Leslie Suganandarajah
Inszenierung – Marcus Lobbes
Bühnenbild – Pia Maria Mackert
Kostüme – Miriam Grimm
Video – Michael Deeg
Dramaturgie – Rüdiger Schillig
Choreinstudierung – Ulrich Zippelius
Leokadja Begbick – Monica Mascus
Fatty, der „Prokurist“ – Mark Bowman-Hester
Dreieinigkeitsmoses – Nico Wouterse
Jenny Hill – Marysol Schalit (für die erkrankte Hana Lee)
Jim Mahoney – Deniz Yilmaz
Jack O’Brien – Junho Lee
Bill, genannt Sparbüchsenbill – Christoph Plessers
Joe, genannt Alaskawolfjoe – Jongmin Lim
Tobby Higgins – Junho Lee
Opernchor (Damen und Herren)
Extrachor (Herren)
Staatsorchester Rheinische Philharmonie