12. August 2017

Tristan und Isolde – Christian Thielemann.
Festspielhaus Bayreuth.

16:00 Uhr, Türe IV links, Reihe 17, Platz 13



Immer wieder faszinierend, wie sich so ein Opernabend – bzw. in Bayreuther Maßstäben Operntag – doch entwickeln kann. War die musikalische Qualität gleich ab Beginn der Aufführung über jeden Zweifel erhaben, erfuhr die szenische Umsetzung Akt für Akt eine ungeheure Steigerung der Intensität. Es mag auch der ebenso redseligen wie statischen Anlage des ersten Aufzuges geschuldet sein, dass, innerhalb eines Bühnenbild gewordenen Escher-Zitats, welches sinnbildlich und konkret das Zueinanderfinden der beiden Titelpartien bis kurz vor Aktschluss verhindert, die dialogfixierte Handlung etwas schwer in Gang kommt. Interessant hierbei: Tristan und Isolde streben von Anfang an zueinander, werden jedoch von ihren jeweiligen Dienern resolut davon abgehalten. Die Sache ist also klar, nur die äußeren Umstände verhindern vorerst den Drang des Paares, an die gemeinsamen Geschehnisse in Irland anzuknüpfen. Demzufolge ist es nur konsequent, dass der Liebestrank nicht getrunken, sondern im entsprechenden Moment vergossen wird. Der vorgebliche Gifttrank ist nur der Auslöser für beide, im Angesicht des sicher geglaubten Todes die Fesseln der gesellschaftlichen Zwänge abzulegen und dem inneren Trieb nachzugeben. Das zögerliche Hin-und Herreichen des Tranks, bei dem die erst zufälligen, dann immer länger werdenden Berührungen der Hände zunehmend an Zärtlichkeit gewinnen, gehört zu den stärksten Eindrücken dieses szenisch doch insgesamt etwas unmotiviert empfundenen ersten Aufzugs. Vielleicht gehörte auch eine gewisse Gewöhnungsphase dazu, die teils heftig agierende, jedoch stumme Darstellerin und "ihre" Stimme von der Seite der Bühne im Kopf in Einklang zu bringen.

Ab dem zweiten Aufzug waren sowohl diese Diskrepanz als auch etwaige letzte Zweifel an der Regiearbeit verflogen. Katharina Wagner verortet den rauschhaften Sog der gemeinsamen Liebesnacht tiefenpsychologisch motiviert in einem Gefängnishof, das Paar beäugt von Marke selbst und seinen Schergen, die die Szene teils mit Suchscheinwerfern von einer Art Wehrgang aus beleuchten. Das Bild des Gefängnisses, aus dem es kein Entrinnen gibt, verbunden mit der permanenten Gefahr des Entdecktwerdens, ist eine ebenso einfache wie zwingende Umsetzung der Innenwelt der Liebenden. Während Kurwenal verzweifelt versucht, einen Ausweg aus dem Kerker zu finden und scheitert, nutzen Tristan und Isolde die Gegebenheiten, um ihre "Nacht der Liebe" trotz aller Widrigkeiten wahr werden zu lassen. Haben sich beide zu den berühmten Zeilen noch ein sternbesetztes kleines Zelt geschaffen, dass sie vor dem verhassten Licht der Scheinwerfer, letztlich des verhassten Tages schirmt, zerreißt Tristan schließlich das Tuch. Zur musikalischen Vorwegnahme der finalen Verklärung Isoldens, dem "So starben wir um ungetrennt ...", stehen beide fest nebeneinander in der Mitte des Gefängnishofs, die Gesichter im Dunklen, nur die Silhouetten illuminiert, während im Hintergrund die schemenhaften Projektionen einer Frau und eines Mannes langsam aber sicher miteinander verschmelzen. Was sich niedergeschrieben vielleicht kitschig ausmacht, gehört zweifellos zu den anrührendsten Momenten, derer ich je in einem Theater beiwohnen durfte. Interessantes Ausstattungsdetail: Sämtliche Elemente des Verließes bestehen aus Bögen, die beispielsweise als trügerische Sprossen einer Leiter, oder als folterinstrumentartige Anordnungen von Metallringen Einsatz finden, die das Paar umschließen, und an dem sie sich schließlich in gegenseitigem Einvernehmen ihre Pulsadern auftrennen. Die Rückkehr Markes macht deutlich, dass Katharina Wagner die Figur fernab der gängigen, zwischen onkelig und treudoof changierenden Lesart sieht – der König ist hier ein zynischer Sadist, der sich das Spiel in Ruhe angesehen hat, um es nun nach seinen Spielregeln zu beenden. So reicht er am Ende des Akts dem zögernden Melot das Messer, mit dem dieser den knieenden Tristan rücklings niedersticht.

Die szenische Gestaltung des dritten Aktes wiederum gehört zum Sublimsten, was auf einer Bühne möglich ist. Die Umsetzung der wahnhaften Fieberschübe Tristans als stetig variierte Vision seiner Geliebten, die jedesmal schlaglichtartig erscheint, nur um sich auf alle nur erdenklich grausame Weisen ihm wieder zu entziehen, ist in seiner radikal-artifiziellen wie suggestiven Ausformung ebenso genial wie erschütternd. Jede neue Lichtpyramide birgt eine weitere blau gewandete, gesichtslose Frauengestalt, die dem Sehnen Tristans doch nichts als ein Trugbild ist. Einmal versinkt die Figur vor seinen Augen wie in Treibsand, eine weitere zerfällt wie eine Puppe, das Antlitz einer anderen füllt sich mit Blut – der Albtraum seines Todeskampfes hat viele Gesichter und doch nur eines. An einer Stelle reißt Tristan die leblose Hülle in Fetzen, so wie sie es beide gemeinsam im ersten Akt mit dem Brautschleier gemacht hatten. Von all dem nehmen Kurwenal und sein weiteres Gefolge keine Notiz, sie harren unbewegt an seinem Kranken- , vielmehr Totenbette aus. Vielleicht sind die Grabkerzen ein Indiz, dass ihr Held die ganze Zeit zu ihren Füßen liegt, sein Ringen die Schwelle des Todes gar schon vor Isoldes Ankunft überschritten hat. Die letzte Musik mag Isolde gehören, die Tristan noch einmal der verlogenen, von Marke angeordneten Staatstraueraufbahrung entreißt und ihn, von ihren Händen geführt, für einen Moment den Anschein des Lebendigen verleiht, doch das letzte Wort hat der König, wenn er seine Gemahlin mit festem Griff von der Leiche seines "besten Freundes" wegzerrt – Der Traum ist vorbei, die Realität als folgsames Weib an seiner Seite beginnt.

Als ich den Besetzungszettel der heutigen Aufführung auf dem sonnenbeschienenen Vorplatz des Theaters studierte, verfinsterte sich unvermittelt meine Miene: Ein Tristan, ein Marke – aber zwei Isolden, die in stimmlicher und szenischer Arbeitsteilung die Partie gestalten. Das kann ja heiter werden. Etwa acht Stunden später kann ich es bei Rindsroulade und Kloß im Goldenen Löwen immer noch kaum glauben, welche musikalischen Sternstunden da gerade durch mich hindurch gegangen sind, den Zustand beseelter Dankbarkeit initiiert haben. Ricarda Merbeth verleiht der Isolde jene stimmliche Präsenz und Qualität des Ausdrucks, wie sie für diese emotionale Verausgabung unerlässlich ist, Stephen Gould gibt einen Tristan mit schier unerschöpflichen Reserven, bei dem jedoch ungeachtet aller dynamischen Ausbrüche, vor allem der berserkerhaften Abbildung der Fieberkurve des dritten Aktes, die intimen, zarten Momente auch als solche angelegt sind – beachtliche Feinheiten für solch eine große Stimme. Von den Nebenrollen setzen sich Christa Mayer als Brangäne mit volltönendem, reichem Timbre und der unvergleichliche René Pape als teuflischer Marke mit himmlischem Bass-Balsam am meisten in der Erinnerung fest, wobei die Besetzung keine Schwachstellen kennt. Ungeachtet dieser akustischen Wonnen erwächst das eigentliche musikalische Ereignis den Tiefen des Bayreuther Grabens, von wo Christian Thielemann das Festspielorchester zu einer bedingungslos ekstatischen Leistung antreibt, wie sie nur schwer zu toppen sein dürfte. Zwischen wollüstiger Raserei und fragilster Verklärung des Augenblicks geht dieser Tristan aufs Ganze – nicht abreißen wollender Jubel und stilles Erfülltsein nach dem letzten Vorhang.


Richard Wagner – Tristan und Isolde
Musikalische Leitung – Christian Thielemann
Inszenierung – Katharina Wagner
Bühne – Frank Philipp Schlößmann, Matthias Lippert
Kostüm – Thomas Kaiser
Dramaturgie – Daniel Weber
Licht – Reinhard Traub
Chor – Eberhard Friedrich

Tristan – Stephen Gould
König Marke – René Pape
Isolde – gesungen von Ricarda Merbeth, gespielt von Petra Lang
Kurwenal – Iain Paterson
Melot – Raimund Nolte
Brangäne – Christa Mayer
Ein Hirt – Tansel Akzeybek
Ein Steuermann – Kay Stiefermann
Junger Seemann – Tansel Akzeybek

Der Festspielchor
Das Festspielorchester