20:00 Uhr, Etage 15, Bereich R, Reihe 1, Platz 16
Das Phantom der Oper
Regie: Rupert Julian, USA 1925
Franz Danksagmüller – Orgel
Nach einem Monat sommerpauslicher Abstinenz geht das Abenteuer Elbphilharmonie für mich nun also weiter, gleich mal mit etwas ganz anderem: Die große Orgel als Begleitinstrument für einen Stummfilm-Klassiker. Eine Leinwand beherrscht die Bühne, welche bis auf den Manualtisch des Organisten verwaist ist. Die Plätze neben und hinter der Projektionsfläche sind schlauerweise nicht in den Verkauf gegangen, Notenpulte mit Infoblättern weisen dezent darauf hin, dass jene Reihen heute nicht zur Verfügung stehen. Wobei der gesunde Menschenverstand und der Wille, auch visuell auf seine Kosten zukommen, dem ohnehin im Wege stehen sollten. Aber im Ernst, wirklich gut gemacht das Ganze, man hat selbst daran gedacht, die in die Treppenstufen eingelassene Beleuchtung in Leinwandnähe mit schwarzem Tuch abzudecken. Einzig das Geländer zerschneidet von meiner Warte aus unausweichlich das Sichtfeld, hier sind das Parkett und die unteren Ränge klar im Vorteil. Ein weiteres, individuell wahrgenommenes Manko: 15 R, zumindest mein Platz, ist doch schon ein wenig zu nah an der Königin der Instrumente.
Das wird gleich mit dem ersten, zu den Eingangstiteln des Films schlagartig einsetzenden, dissonanten Akkord deutlich, der mit unvermittelter Härte und brutaler Lautstärke das Ohr ereilt. Auf der anderen Seite: kein schlechter Effekt. Generell ist es auch weniger die schiere Lautstärke das Problem, sondern eher das Empfinden, doch sehr direkt an den Verlautbarungen der Pfeifen teilzuhaben - eine größere Distanz hätte sicher mehr Raumklang und Homogenität zur Folge gehabt. Nichts desto trotz entwickelt sich der Abend zu einer höchst gelungenen, spannenden Angelegenheit. Die Kombination aus Stummfilm und (in welchem Maße auch immer improvisierter) Begleitung funktioniert bestens. Natürlich ist der Film selbst etwas in die Jahre gekommen, gerade die Anlage der Charaktere, inklusive der Titelfigur, weist angesichts ihrer Simplizität und Überzeichnung eher die Nähe zur (aus heutiger Sicht) harmlosen Schauerromanwelt der Vorlage, denn zu tiefenpsychologischem Horror auf. Die ungleich dichtere, suggestivere Atmosphäre des einige Jahre älteren "Nosferatu" Friedrich Wilhelm Murnaus drängt sich als Vergleich auf.
Dennoch bietet der Film, lässt man sich einmal auf das, angesichts der sehr überschaubaren Handlung, doch ziemlich langsame Erzähltempo ein, eine Vielzahl eindrücklicher Momente. Namentlich die Vermittlung der Faszination jener Bühnen- und Unterwelt der Pariser Oper sowie die Einführung seines rätselhaften Phantom-Untermieters in Andeutungen und Schatten. Die Zeichnung des Phantoms selbst verliert für mich ab dem Moment ihren Reiz, nachdem es die faszinierend ausdruckslose, kalte Maske entzogen bekommt und wir mit der Maske des eigenen, entstellten Antlitzes konfrontiert werden, die eine Art permanenter Überausdruck eher in den Bereich des unfreiwillig Komischen treibt. Und doch gibt es auch hier Einstellungen, die den Wahnsinn Eriks besser einfangen als dessen allzu theatralische Gesten, etwa eine ruhige Ansicht der Fratze, von gespenstischen Schatten umflackert, oder die verwackelt gefilmte Raserei des verfolgten Phantoms auf dem Kutschbock. Darüber hinaus wartet der Film durch seine Ausstattungswucht und die aufwändigen Massenszenen, allen voran die nachcolorierte Ballsequenz, mit Schauwerten auf, die auch heute noch begeistern können.
Die Arbeit Danksagmüllers tut ihr übriges, den Handlungsverlauf mit sorgsam austarierter Dramaturgie in einer Vielzahl von musikalischen Stimmungsbildern fesselnd zu unterstützen. Dabei gibt es neben illustrativen Entsprechungen im Sinne des Mickey-Mousings – so begleitet beispielweise eine absteigende Tonfolge Stufe um Stufe den Gang in die Kellergewölbe – immer wieder minutiös entwickelte Steigerungen, die den Spannungsbogen bei entsprechenden Entwicklungen intensivieren. So mischt sich in der Kronleuchterszene unmerklich aber dann sehr deutlich eine verzerrte Variante in die konsonante Bühnenmusik, bis sich diese mit dem Fall des Lüsters ins Publikum vollends in Auflösung befindet und das ausbrechende Chaos illustriert. Das majestätische Orgelspiel Eriks, der Christine seine Komposition des "Don Juan Triumphant" präsentiert, enthält gut hörbar jenen "warnenden", bzw. bedrohlichen Unterton, auf den das Phantom selbst hinweist und der mit der Demaskierung seine Einlösung erfährt. Die finale Verfolgungsjagd durch den Lynchmob gestaltet Danksagsmüller ebenfalls als beeindruckende, atemlose Steigerung, in die er vielsagend die bekannte Tonfolge des "Dies Irae" einwebt.
Aber auch für die weniger effektgetriebenen, leiseren Schlüsselmomente des Film findet der Solist und Komponist starke Entsprechungen, etwa wenn er der überirdischen Stimme des "Engels der Musik", von der wir ja ansonsten nur durch die Zwischentitel erfahren, mit irisierenden Klängen akustische Gestalt verleiht. Ebenso fein, ja delikat vertont ist die Szene auf dem Dach der Oper, wo ein kristallines Gewebe die Verletzlichkeit der nächtlichen Unterredung zwischen Christine und Raoul herausstellt, die schließlich vom Phantom belauscht werden. Als erhellenden "Nebeneffekt" brachte die vielgestaltige Komposition die Wandlungsfähigkeit und Differenzierungsmöglichkeiten der herrlichen Orgel hervor – ich freue mich bereits jetzt auf mein entsprechendes Abo, möchte aber doch hoffen, dass dieses Konzept der Stummfilmumsetzung kein einmaliges Vergnügen bleiben wird.