7. Oktober 2025

London Symphony Orchestra. Sir Antonio Pappano. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 13, Bereich E, Reihe 1, Platz 13



Benjamin Britten – Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 15
Zugabe: Johann Sebastian Bach – Sarabande,
aus: Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004

(Pause)

Aaron Copland – Sinfonie Nr. 3
Zugabe: Jean Sibelius – Valse triste op. 44 Nr. 1

London Symphony Orchestra
Janine Jansen – Violine
Dirigent– Sir Antonio Pappano



Heute zur Abwechslung mal kein Abotermin, sondern eines der mittlerweile rar gewählten Einzelkonzerte. Ich habe mich gefühlt seit Verkündung des Saisonprogramms darauf gefreut und mir umgehend bei Verkaufsstart ein Ticket in bester Lage gesichert – trotz des happigen Goette-Tarifs. Mir ist in solchen Fällen natürlich bewusst, dass Premium-Preise keine Garantie für Premium-Erlebnisse bedeuten, aber wann erhält man schon mal die Gelegenheit, gleich zwei absolute Lieblingswerke in der Traumakustik der Elphi dargeboten zu bekommen, die nur äußerst selten den Weg auf die Spielpläne finden, und dann auch noch in potenzieller Topbesetzung – die Kombination LSO/Pappano wusste erst im Juni mit einem referenzgültigen Berlioz zu überzeugen (Link), Frau Jansen habe ich zwar lange nicht gehört (muss noch prä Elphi-Zeit gewesen sein), ist aber in bester Erinnerung abgespeichert. Darüber hinaus hatte ich dieses Konzert dazu erkoren, meine kürzlich immer wieder aufgekommenen Zweifel daran final auf den Prüfstand zu stellen, ob mir Etage 13, Bereich E immer noch als akustische Lieblingsecke taugt. Zusammenfassend also höchste Erwartungen an diesen Abend. Das kann erfahrungsgemäß eigentlich nur zu Enttäuschungen führen.

Umso trauriger, dass es wohl einer dieser unwahrscheinlichen Einhorn-Abende geworden wäre, an denen alles passt – Werkwahl, Interpretation und Ausführung, Atmosphäre im Saal – wenn, ja wenn letztere nicht in den monumentalen Steigerungen des ersten Satzes von Coplands Sinfonie durch ein besonders fehlgeleitetes oder krankes Exemplar der Spezies Störenfried in Tumult zerstoben wäre: es war akustisch nicht zu entschlüsseln, welches Problem der Herr unter dem Dach hatte, der da laut skandierend das Konzert fast zum Erliegen brachte und die Verletzlichkeit des Liveerlebnisses ebenso wie die Hilflosigkeit der Ordner auf das Schmerzlichste offenbarte, aber in diesem Moment habe ich mir gewünscht, das Pappano einfach den Taktstock sinken lässt und mal fragt, ob man die Pfanne heiß hätte.

Segen und Fluch der Professionalität – Pappano ließ nicht sinken und fragte nicht, sondern zog nach einem irritierten Blick nach oben durch. Und natürlich war dann selbst, nachdem der Gummizellenanwärter den Saal schließlich verlassen hatte (hat überhaupt jemand vom Personal eingegriffen?), die Konzentration beim Gros des Publikums inklusive mir im Allerwertesten. So rauschte der wunderbar beschwingt rhythmische zweite Satz an mir vorbei, während ich wieder um Fassung und Fokus rang. Bitter war das so oder so, zum Mäusemelken machte es der Umstand, mit jedem ausgeführten Takt aus Ahnung Gewissheit zu erlangen, dass ich diese von mir hochverehrte, ja heißgeliebte, herbeigesehnte Dritte, so schnell nicht wieder in solch vollendeter Gestalt, man muss es sagen, Perfektion, erleben werde. Dumm gelaufen.

Es fällt schwer, sich nach diesem Tiefschlag mit dem Positiven zu beschäftigen, aber die außergewöhnliche Qualität des Vortrags hat es nicht verdient, vom flüchtigen Schatten eines irrlichternden Spinners verdeckt zu werden. Also noch einmal von vorn. Brittens Werk thront in meinem privaten Violinkonzert-Pantheon auf gleicher Stufe neben den Schöpfungen von Beethoven, Brahms oder auch Sibelius. Gegenüber seinen ungleich bekannteren Geschwistern hat es bei der Allgemeinheit einen naturgemäß schwereren Stand, eben weil es recht selten auf dem Programm steht. Die Einspielung mit Britten selbst am Pult und Mark Lubotsky als Solist habe ich als großer Fan des Komponisten verinnerlicht, von daher war ich sehr gespannt, wie Herr Pappano und Frau Jansen es angehen würden.

Das London Symphony Orchestra unter Pappano ist schlichtweg ein Traum. Abgesehen davon, dass das Ensemble technisch wie klanglich keine Schwachstellen besitzt, stachen für mich das Blech und die Violinen nochmal besonders hervor: kommt es in der Elphi-Akustik bisweilen vor, dass die Streicher, vor allem die Violinen, bei erhöhter Tutti-Lautstärke tendenziell zu schwach wirken, war heute von diesem Effekt nichts zu spüren. Gerade die Geigen hatten heute eine Präsenz, die ihresgleichen sucht – von durchdringender Schärfe bis zum zartesten Tupfer. Da hat Pappano offenbar genau die richtige Balance zwischen den Instrumentengruppen gefunden. Das Blech wiederum hat generell einfach ein Timbre zum Niederknien, speziell wenn es mal richtig zur Sache geht.

Pappanos Interpretation fördert die Kontraste und verschiedenen Aggregatzustände innerhalb der Sätze wie satzübergreifend mustergültig zu Tage, aber natürlich spielt hier auch Frau Jansens Beitrag eine entscheidende Rolle. Hatte ich anfangs einen kurzen Irritationsmoment bezüglich ihrer Intonation (?), zog sie mich schnell mit einer zupackenden, elektrisierenden Lesart in den Bann. Ob bei den zarten, lyrisch-gesanglichen Passagen im Kopf- und Finalsatz, dem aggressiven Wirbel des scherzoartigen zweiten mit seiner wahnwitzigen Kadenz oder einfach im Ausloten einzelner, überirdisch schöner klanglicher Fingerzeige, bot Frau Jansen alles auf, was dieses vermeintlich sperrige Konzert so faszinierend und berührend macht. Das Leitbild ihrer Mitmusiker aufgreifend – Technik und Ausdruck in Perfektion, durch ihr solistisches Ausnahmetalent noch in andere Sphären transformiert. Verblüffender Zufall oder Zugabentradition – Die Bach-Sarabande hatte Frau Jansen auch „damals“ gespielt. Was dem Stück und ihrer Darbietung natürlich nichts an Intensität nahmen.

Coplands Dritte habe ich durch die Einspielung Leonard Bernsteins mit dem NY Philharmonic kennen und lieben gelernt. Vielleicht war die Sinfonie sogar das erste Hauptwerk des Komponisten und nicht das obligatorische (wunderschöne) Appalachian Spring, mit dem ich in Berührung kam. Nach der Beschäftigung mit dem Gesamtwerk des Amerikaners gab es – ganz ähnlich wie bei seinem englischen Kollegen – kein Werk aus seiner Feder, das ich nicht in mein Herz aufgenommen hätte. Auch wenn ich dabei neben Coplands oftmals reich besetzten Orchesterwerken und Balletten seine intimeren Arbeiten für die Kammermusik gleichermaßen schätze, nimmt die dritte Sinfonie doch einen besonderen Platz bei mir ein.

Jeder ihrer vier Sätze ist für sich ein Erlebnis, im narrativen Zusammenspiel der Gesamtanlage ergibt sich eine Offenbarung, die sich in gewisser Weise aus einer geistigen und emotionalen Verwandtschaft mit meinem Sinfoniker-Abgott Mahler speist. Und dabei meine ich weniger die Parallelen, die sich aus der riesenhaften Besetzung mit ausgeprägtem Blech-Schwerpunkt und mannigfaltigem Schlagwerk hier wie dort ergeben (Das LSO bot heute gar 5 Trompeten und 4 Posaunen plus Tuba statt der notierten 4/3/1 auf, was schon einen starken Mahler-6-Vibe mit sich brachte). Ähnlich wie bei Mahler breitet Copland mit seiner längsten, dabei, auf die reine Aufführungsdauer bezogen, vergleichsweise noch übersichtlichen Schöpfung für großes Orchester, mit allen verfügbaren klanglichen Mitteln eine Erzählung ohne Worte vor unseren Ohren aus, die in ihrer unmittelbaren Sprache und emotionalen Tiefe auch ganz ohne Programm im Sinne einer sinfonischen Dichtung ein berührendes, mitunter erschütterndes Tableau entwirft.

Pappano und sein Orchester nehmen uns mit auf diese hochemotionale Reise in einer Darbietung, die in punkto Technik wie Interpretation gleichermaßen unüberbietbar nachhallt. Es erübrigt sich in die Details zu gehen, da sich hier jeder der vier Sätze, ähnlich wie bei Bernsteins Referenzeinspielung, einfach so anfühlt, wie er Copland aus dem Herzen geflossen sein muss:

Der erste Satz mit seinem ruhigen, Wärme und Güte vermittelnden Beginn, fast schon an Mahlers „Wie ein Naturlaut“ aus der ersten gemahnend, bis sich der Konflikt in Form des aufsteigenden Blechmotivs mit Wucht ankündigt – in seinen Eingangsintervallen die erlösende Fanfare aus dem Finale in einer grimmigen Spielart vorwegnehmend. Die überbordende, ja ins Heroische gipfelnde Rhythmik des zweiten, welche die lyrische Episode des Trios einrahmt. Die eindringliche Wiederkehr des Konflikt-Themas im dritten Satz in den klagenden geteilten Streichern, die darauf folgende resignative, an Seufzer erinnernde Linie des Fagotts, begleitet von der Oboe, welche in das Flehen der Streicher übergeht, jäh in sich zusammenfallend.

Eine Ambivalenz aus Ohnmacht und Erwartung durchzieht dieses Andantino, für mich der ergreifendste der Sätze, etwa wenn dann die Flöte wie eine gütig gereichte Hand den Versuch unternimmt, durch die bleierne Schwere einen warmen Lichtstrahl zu senden, aufgegriffen von Oboe, Klarinette und Streichern – ein Moment der Hoffnung. In der Folge wechseln sich Zweifel und zarte Aufbruchstimmung ab. Die einsetzende Steigerung der durchgehend optimistischen, tänzerischen Passage wird wiederum von den Klagemotiven abgewürgt, welche den Satz in Ungewissheit, wie mit einem großen Fragezeichen, verebben lassen.

Die Antwort darauf setzt überirdisch schön die Zuversicht des aufsteigenden Fanfarenthemas, zuerst unwirklich zart von den Flöten und Klarinetten präsentiert, bis es vom strahlenden Blech zu triumphaler Pracht erhoben wird. Kämpferische und ungetrübt freudenvolle, überbordend tänzerische Elemente schrauben sich in ungeahnte Höhen, ehe die Entwicklung durch den Einfall harscher Dissonanzen ihr vorläufiges Ende findet. Die Zweifel sind zurückgekehrt, der Satz kommt fast zum Stillstand. Es obliegt wiederum den Flöten und übrigen Holzbläsern, den Keim für die endgültige Auflösung aller Konflikte und Fragezeichen zu pflanzen. Ein irisierender Klangzauber hält Einzug, begleitet von den Harfen und der Celesta, der Beginn der Sinfonie wird aufgegriffen, ein Funkeln und Schweben, Assoziationen an einen Flug über glitzernde Wellen stellen sich bei mir ein, bis dieses großartige Werk schließlich mit den finalen Steigerungsformen der Fanfare seinen krönenden Abschluss findet. Dankbarkeit.

Ach ja, da war noch was: Der angekündigte akustische Härtetest für E 13 geriet angesichts dieser epochalen Darbietung fast in den Hintergrund. Ob es hier wirklich einen Unterschied zwischen der ersten (heute) und dritten Reihe (mein Aboplatz) gibt, lässt sich anhand einer solchen Ausnahmeleistung wohl nur schwer sagen, ich bilde mir allerdings ein, dass dem tatsächlich so ist. Der Klang war diesmal jedenfalls, über die schon seit jeher geschätzte bestmögliche Transparenz hinaus, unfassbar präsent. Mal sehen, vielleicht versuche ich mein Abo tatsächlich in die erste Reihe umzutopfen. So oder so hat sich heute gezeigt, dass akustische Erfüllung auf E13 zweifellos möglich ist.

2. Oktober 2025

Orgel pur – Iveta Apkalna. Elbphilharmonie Hamburg.

20:00 Uhr, Etage 12, Bereich B, Reihe 4, Platz 8



Arvo Pärt – Annum per annum
Pari intervallo (Fassung für Orgel)
Johann Sebastian Bach - Passacaglia c-Moll BWV 582
Arvo Pärt – Spiegel im Spiegel

(Pause)

Johann Sebastian Bach – Toccata und Fuge d-Moll BWV 565
Arvo Pärt – Trivium
Pēteris Vasks – Viatore (Wanderer) / Hommage à Arvo Pärt (Fassung für Orgel)

Zugabe: Lūcija Garūta – Meditation

Iveta Apkalna – Orgel



Spiegel im Spiegel, lese ich im Programmheft. Welches der Stücke Pärts war das nochmal, müsste ich doch kennen, denke ich so bei mir. Ach DAS, zuckt es mit einem Schmunzler durch meinen Sinn, als ich das erste Mal die Dreier-Tonfolge vernehme. Und dem ersten Mal sollten einige, nicht wenige Male folgen. Das Programm ist dem 90. Geburtstages des Komponisten gewidmet, fraglos einer der berühmtesten lebenden Tonschöpfer im Klassikbereich. Ohne die Lebensleistung des Esten in Frage stellen zu wollen, zeigt sich heute wieder, dass ich mit seinem Oeuvre einfach wenig anfangen kann (mit einer Ausnahme: Fratres).

Weder das wohlbekannte Spiegel im Spiegel, bei welchem ich immer an eine Verwendung als sentimentale Filmmusik denken muss (und das von jemandem, der originale Filmmusik ebenso wie Klassik liebt), noch die mir unbekannten Stücke waren heute in der Lage, mein Bild von seinen Kompositionen zu relativieren, das ich mit „einlullende Unterforderung“ zusammenfassen möchte. Wie gesagt, ohne mich wirklich vollumfänglich in Pärts Werkkatalog auszukennen.

Der Effekt bei „annum per annum“, der Orgel buchstäblich per Knopfdruck den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist nicht uninteressant – das in sich Zusammensacken der Klangkulisse hat eine unwirkliche, ja beinahe elektronische Qualität. Aber mehr als diesen Aha-Moment erlebe ich mit den ersten beiden Pärt-Stücken nicht.

Der Kontrast zu der von mir heiß geliebten Bach-Passacaglia könnte akustisch wie emotional kaum größer sein. Das in stetiger Variation majestätisch dahinmäandernde Werk zieht mich live immer wieder ebenso in seinen Bann wie in der Abgeschiedenheit des heimischen Musikrefugiums. Frau Apkalnas Interpretation weicht hier und da von dem mir achso Vertrauten ab, arbeitet andere Nuancen zu Tage, verfehlt ihre soghafte Wirkung aber keinesfalls.

Mir persönlich liegt die Passacaglia viel näher als der nach der Pause gespielte Superstar unter den Orgelwerken – nimmt man seine Bekanntheit und den Einsatz in allen möglichen und unmöglichen (pop-)kulturellen Zusammenhängen als Maßstab für solch eine törichte Kiesung. Klar, der Auftakt ist ein unkaputtbares Ausrufezeichen, der weitere Verlauf ein überaus abwechslungsreicher, energetischer Ritt. Dennoch ziehe ich die Gravitas und dichte Konsequenz der Passacaglia vor – wenn man überhaupt vor die Wahl gestellt werden möchte/sollte. Auf jeden Fall entfachte DIE Toccata und Fuge die meiste Begeisterung beim Publikum. Warum auch nicht – schön, das Stück wieder einmal mustergültig dargeboten bekommen zu haben.

Die anschließenden Werke von Pärt und Vasks konnten den Spannungsbogen dann nicht mehr halten. An das Pärt Stück habe ich bereits keine Erinnerung mehr, Vasks Wanderer hatte Potenzial, hätte für meinen Geschmack aber ruhig die ein oder andere Abkürzung nehmen sollen – es zog sich. Die Zugabe aus der Feder einer Landsfrau Apkalnas brachte noch einmal für ein paar Minuten in harmonisch reichem, spät-spätromantisch anmutenden Gewand frischen Wind in den Saal.

Abschließend noch ein Gedanke zu „Spiegel im Spiegel“: Vielleicht ist das Stück nicht unbedingt ideal für die Darbietung auf der Orgel? Die ursprüngliche Kombination von Klavier und Violine bietet in dem repetitiven, schlichten Gerüst ein ungleich intimeres Zusammenspiel, als es eine riesenhafte Orgel mit noch so viel Registerzauber vermag. Den Ausspruch Pärts aus dem Programmheft, „Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird“, möchte ich durchaus unterschreiben, wobei aus der Idee bei diesem Komponisten für mich leider nur in seltenen Fällen eine Umsetzung erwächst, die mich interessiert, geschweige denn berührt. Schade.