10. September 2011

Die tote Stadt – Erik Nielsen.
Oper Frankfurt.

19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 5, Platz 12














Gute, kompakte, wenn auch etwas steif abgelesene Einführung, die alle wesentlichen Punkte knapp zusammenfaßte (Inhalt des Werks, Vita des Komponisten, Inszenierung, Vorstellung der Sänger der Hauptpartien). Nette Unterhaltung mit meinem Alter Ego in 30, 40 Jahren: heute war sein 105. Konzert- bzw. Opernbesuch in diesem Jahr!

An diesem Abend hätte ich doch gern etwas weiter vorn gesessen. Die nicht unbedingt kleinen Stimmen (Fritz) sind mir heute zu fern, zu distanziert. Werde mir noch mal meine Platzhistorie in Frankfurt zu Gemüte führen. Wahrscheinlich gibt es „den“ Platz einfach nicht. Trotzdem insgesamt ausgewogenes, harmonisches Klangbild.

Die Oper Frankfurt schafft es immer wieder, einfach stimmige Produktionen auf die Bühne zu bringen. Ich kann mich gerade nicht an einen wirklichen Reinfall erinnern – im Gegenteil, manch besonders starke Opernerlebnis hatte ich in Frankfurt (Palestrina, Fausts Verdammnis, Der Zwerg ... und natürlich alles überragend Death in Venice). Daß es heute nur zu einem guten Abend reicht, liegt wie so oft eher im Detail, als am Gesamtkonzept. Die wunderbare Inszenierung trifft dabei diesmal keinerlei Mitschuld.

Das Orchester ist gut aufgelegt, leistet sich keine nennenswerten Schwächen, wird aber – und hier sehe ich das Hauptmanko des Abends – von Herrn Nielsen nicht genug befeuert. Insbesondere die geradezu auf Messers Schneide angelegten Zerreißproben zwischen Paul und Marietta geraten mir allem Getöse zum Trotz zu harmlos, zu brav. Da muß der Furor einfach Funken aus dem Orchestergraben schlagen. Schlägt er aber nur bedingt.

Die Sängerschar ist durchweg stark besetzt, aber auch hier fehlt mir das letzte Quäntchen zum Glück. Burkhard Fritz als Paul ist stimmlich wie darstellerisch eine gute Wahl. Sein Tenor spielt immer dann seine Stärke aus, wenn er strahlen darf. Aber Paul strahlt nur von Zeit zu Zeit. Darüber hinaus sehnt er, fleht er, verzehrt er sich. Gerade das Zärtliche, Zerbrechliche kommt mir bei Fritz angesichts seiner Stimme, die zwar frisch und jung ist, aber in letzter Konsequenz keine wirklich lyrische Facette besitzt, in der Ausgestaltung des Paul zu kurz. Dennoch bin ich froh, solch einen versierten Sänger als meinen „Erstpaul“ zu erleben.

Die Sängerin der Marietta bzw. Marie, Nicola Beller Carbone, hinterläßt bei mir einen gemischten Eindruck. Sie besitzt eine gute, wenn auch keine überragende Stimme, schwingt sich jedoch teilweise zu sehr intensiven Momenten auf. Intensiv durch und durch ist hingegen ihre Darstellung der Marietta. Ihre anmutigen Bewegungen stellen nie in Zweifel, daß es sich bei Marietta (und sie selbst?) um eine wahrhaftige Tänzerin handelt. Sie ist die eigentlich starke Persönlichkeit des Abends. Der Sänger des Frank, der auch den Pierrot übernimmt, ist stimmlich wie szenisch eher unauffällig.

Den Lorbeer des Abends trägt kein Darsteller, sondern die Inszenierung davon. Wie schon angesprochen wieder mal ein gelungenes Gesamtpaket in Frankfurt. Angefangen beim stimmigen, dienlichen Bühnenbild mit seinen Lamellen, die Pauls Behausung für die realen oder traumhaften Erscheinungen Brügges öffnen und dem alles beherrschenden Kubus seines Totenkultzimmers. In diesem ebenfalls durch Lamellen verschließbaren Raum sind die Reliquien seiner Frau arrangiert, deren Abbild sich nicht auf Fotografien, sondern mehreren, von der Decke hängenden Flatscreens zeigt – sofern Paul sie mittels Fernbedienung wieder zum Leben erweckt.

Paul selbst erscheint, in seinem reduzierten Anzug und mit Glatze, wie ein Mönch in seinem Privatkloster, das er zur Anbetung seiner verstorbenen Gattin errichtet hat. Die stets aufnahmebereite Videokamera auf dem Stativ unterstreicht Pauls Konservierungsobsession, die er an Marietta aufs Neue auszuleben versucht. Diese bricht mit ihrem geblümten Mantel auch optisch in seine Welt ein. Ihr rotes Kleid bleibt als zentrales Bild allgegenwärtig, ob in der Erscheinung der mahnenden Toten oder schließlich im dritten Akt in der multiplen Erscheinung der greisen Marie(n).

Besonders wirkungsvoll gerät besagte Erscheinung Maries im ersten Akt, die durch eine Videoprojektion wahrhaft soghaft suggestiven Charakters unterstützt wird. Wobei es sich „nur“ um Zeitlupenaufnahmen der Sängerin handelt, wie sie sich dem Betrachter durch einen dunklen Gang nähert bzw. wieder entfernt, abgewechselt mit Nahaufnahmen in denen sie mal lächelt, mal ernst blickt, in Bezugnahme auf Pauls höchste Reliquie – eine Strähne – ihr Haar kokett-verträumt fliegen läßt. In Kombination mit spiegelbildlichen Überlagerungen, Mehrfachbelichtungen ihres Gesichts ergibt sich zusammen mit der zum Zerreißen gespannten Musik die Verbildlichung von Pauls surrealem (Alb-)Traum.

Gleichsam dieser (Innen-)Welt entsprungen scheinen die bizarren Erscheinungen der Nonnen, der Gaukler und der Heiligen im späteren Verlauf der Oper. Der Brückenschlag zwischen der bis zum Äußersten getriebenen Jenseits- und Frömmigkeits-Selbstzerfleischung Pauls und der burlesken, todeswissenden Welt der Gaukler gelingt zum einen durch die grotesken Kostüme, zum anderen in der Betonung des Robert-der-Teufel-Intermezzo als Sinnbild für Pauls Situation. Ist Marietta Verderberin oder (potentielle) Erlöserin?

Am Schluß seines (Selbst-)„Exorzismus“, bei dem nicht er, sondern die greisenhaften Marie-Erscheinungen Marietta „töten“, sie in ihr Reich ziehen, weiß er, daß er fort muß. Er schließt jeder der nun leblosen Marie-Klone die Augen und verläßt mit seinem Freund endgültig das Mausoleum, das er aus seiner Wohnung gemacht hatte, ebenso wie er Marietta verläßt, bevor er sie – über seine unheilvolle Vision hinaus – im wirklichen Leben kennen lernen kann.

Fazit: Eine Inszenierung, die einen idealtypischen Zugang zu diesem Werk bietet, das überreich an musikalischen Kostbarkeiten ist und angesichts seiner zwingenden Dramatik grübeln läßt, warum es nicht zum festen Repertoire eines jeden Hauses gehört.


Erich Wolfgang Korngold – Die tote Stadt
Musikalische Leitung – Erik Nielsen
Regie – Anselm Weber
Szenische Leitung der Wiederaufnahme – Tobias Heyder
Bühnenbild – Katja Haß
Kostüme – Bettina Walter
Licht – Frank Keller
Dramaturgie – Norbert Abels
Video – Bibi Abel
Choreografie – Alan Barnes
Chor – Matthias Köhler
Kinderchor – Michael Clark

Paul – Burkhard Fritz
Marietta – Nicola Beller Carbone
Frank – Sungkon Kim
Brigitta – Nadine Weissmann
Juliette – Anna Ryberg
Lucienne – Jenny Carlstedt
Victorin – Simon Bode
Graf Albert – Hans-Jürgen Lazar
Gaston (Tanz) – Alan Barnes
Gaston (Gesang) – Simon Bode

Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Chor und Kinderchor der Oper Frankfurt