21. Oktober 2012

Parsifal – Donald Runnicles.
Deutsche Oper Berlin

16:00 Uhr, Parkett links, Reihe 8, Platz 21



Mit den liebsten Werken ist es ja so eine Sache – zumindest bei mir. Je teurer der Gegenstand der Zuneigung, desto hehrer das abgespeicherte (Klang-) Ideal, umso unwahrscheinlicher das Eintreten ähnlich erfüllender Ereignisse im Opern- und Konzertalltag. Auch wenn Premieren sich landläufig nicht unbedingt in den Tatbestand des Alltags eingliedern, ist man in ihnen nicht mehr gegen Involvierungsmangel gefeit, als bei weniger beäugten Gelegenheiten. Was wiederum wenig mit musikalischer Güte zu tun haben muß, sondern in der Regel dem Rätsel der subjektiven Wahrnehmung geschuldet ist.

Um es kurz zu machen: Musikalisch gesehen war es ein Abend von hoher Qualität mit vergleichsweise niedriger Wirkung. Runnicles macht das alles andere als monoton oder zäh, ein wirklicher Klangzauber wollte sich für meine Ohren jedoch nur selten einstellen. Auch die Sängerriege ließ auf dem Papier keine Wünsche offen – auf mehreren Positionen wurde zur im Vorfeld angekündigten Besetzung gar ein „Upgrade“ vorgenommen – dennoch war es insgesamt nicht mein Ensemble.

Mit Matti Salminen konnte ich heute nicht viel anfangen, die Textverständlichkeit schien mir wenig berauschend und die allseits gepriesene Bühnenpräsenz (die in der Hamburger Chowanschtschina-Aufführung fraglos beeindruckte) konnte ich mir nicht herbeireden. Das Publikum liebt ihn auch ohne mich. Evelyn Herlitzius hat eine wunderbare Stimme, ist eine zwingende Kundry – nur leider nicht meine. Das hat nichts mit Technik oder Klangfarben zu tun, ihre Stimme ist halt nicht ganz mein Geschmack. Was ihre fantastische Leistung an diesem Abend um keinen Deut schmälert, insbesondere auch darstellerisch. An Intensität wurde sie allenfalls noch von Thomas J. Mayer übertroffen, der einen Gralskönig bot, wie ich ihn, gemessen am Grad der Selbstzerfleischung, gepaart mit erschütternder Stimmgewalt, live noch nicht gehört habe. Thomas Jesatko und Albert Pesendorfer hinterließen ebenfalls einen starken Eindruck.

Wie verhielt es sich da mit dem Titelhelhelden? Ich möchte mal sagen, es gestaltete sich schwierig für mich. Hätte ich bis relativ kurz vor dem Schluß des zweiten Aufzugs, von widrigen Umständen getrieben, die Vorstellung verlassen müssen, so wäre mein erster Direkt-Eindruck des Sängers Klaus Florian Vogt ein äußerst ernüchterter gewesen. Erst die Spitzentöne am Ende von Akt und Klingsorreich ließen mich – nun aber umso deutlicher – aufhorchen. Sehr ätherisch, entrückt, dabei klar und den Orchesterklang scheinbar mühelos durchschneidend. Momente wie diese sollten auch noch im dritten Aufzug folgen, dennoch ist Herr Vogt insgesamt leider auch nicht – man ahnt es – „mein“ Parsifal. Warum denn um Himmels Willen nicht, blickt er doch momentan als „neuer deutscher Heldentenor“ heldisch versonnen mit Brustpanzer und Schwert vom Albumcover? Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: ich zweifle keinesfalls am Ausnahmetalent dieses Sängers – sehr wohl jedoch an seiner Heldentauglichkeit. Ich kann mir diese Stimme sehr gut in Oratorien, vielleicht auch bei manchen Britten-Stücken vorstellen. Dort käme das fein Schwebende, geradezu Entkörperlichte zur Geltung – dieser Parsifal jedoch singt schön aber ohne Kern. Zumal mich die Stimme in den lang anhaltenden rezitativartigen Passagen eher ermüdet. Nun ja, Geschmäcker sind eben verschieden – um dieses Kapitel für heute abzuschließen.

Wobei – eigentlich geht es ja im gleichen Fahrwasser weiter: Die Inszenierung und der Geschmack. Ei, was war das für ein Buh und Bäh nach der Endweihe, beantwortet von erbitterten Jubelbezeugungen der Gegenpartei. Und was konnte man in den Tagen danach nicht alles Putziges über wahlweise Oberammergau-, Indiana Jones- oder Mottenkistenästhetik lesen. Gemeint und kritisiert war jeweils immer das Gleiche: Die opulente, angeblich konservative Ausstattung und Tableauxbildung im Stile von Monumentalfilmen oder lebendigen Gemälden. In mir hat diese ästhetische „Kontroverse“ nichts als Verblüffung verursacht. Beispielsweise diese oftmals mitschwingende Frage „darf man das so inszenieren?“ – Bitte? Was soll hier denn für ein Problem konstruiert werden? Den einzig für mich halbwegs überdenkenswerten Kritikpunkt, daß mit der bibeltreu ausinszenierten Kreuzigungsszene religiöse Gefühle verletzt werden könnten, sehe ich persönlich völlig ins Leere laufen, weil gerade diese Szene in ihrer „Authentizität“ auf mich äußerst sensibel umgesetzt wirkte. Und wer die wagnersche Verquickung von tradierten religiösen Symbolen und Privatreligion bzw. –Ideologie nicht ertragen kann, sollte sich generell fragen, was er oder sie im Parsifal verloren hat.

Ja aber die Musik ist doch so schön. Schon klar. Was mir an der Inszenierung gefallen hat, war gerade die Tatsache, daß Stölzl das Werk und seinen Text ernst nimmt. Ob seine Schlüsse daraus dann die richtigen, oder tiefgreifend genug sind – oder ob er es überhaupt darauf anlegen will oder kann – das wär dann eher meine Fragestellung. Die scheinbar reaktionäre Ästhetik der Inszenierung, die allein schon durch ihre fast allzu offensichtlich zelebrierte Brechung – erst in der „modernen“ Einfassung des Bühnenbildes, betont kulissenhaften Elementen wie der Gralsburg oder dem Kostümfremdkörper Parsifal, dann stärker noch im als Bruch ausgestalteten Zeitsprung zum dritten Aufzug – ist vieles, nur nicht plump.

Natürlich kann man sich fragen, ob es eine Frage von Konsequenz oder Penetranz ist, all die herrlichen Monologe und verbalen Rückblenden ausnahmslos auch visuell vor-(und wieder-)gekaut zu bekommen. Mich hat das absolut nicht gestört, ich bin mir sogar sicher, daß diese Methode einem Parsifal-Neuling (und wahrscheinlich auch nicht wenigen treuen Abonnenten) deutlich mehr von der Handlung ohne Handlung mitgibt als gewöhnlich und heute sicher manchen Schlummermoment durch Aktion vereitelt hat. Sind die Tableaux vivants unbedingt nötig? Natürlich nicht. Aber in dieser Inszenierung muß ich sagen: kann man so machen!

Womit ich beim Problem angelangt bin, das ich mit der Produktion habe. Gemessen am ästhetischen Potenzial der Inszenierung bin ich ratlos ob ihrer unter dem Strich mittelprächtigen Wirkung bei mir. Alles sieht wunderbar aus, die Kostüme erlesen und aufwändig, die Ausleuchtung von plastischer Finesse. Selbst dieser Möchtegern-Zeitlupen-Effekt, den ich eigentlich hasse wie die Pest, gelang hier mehrfach richtig gut. Vor allem in den Massenszenen mit ihrem organisiert-organischen Chaos. Der Aufbruch der kriegslüsternen Gralsritter ist schon auch optisch ein Knaller. Da möchte man fast mitmeucheln – man reiche mir ein Schwert! Ne, das ist natürlich sicher alles irre kritisch gemeint. Ist ja insgesamt betrachtet auch eher ein mittelcooler Haufen, diese Gralsjunkieselbstshilfegruppe. Aber noch mal: am Schluß bleibe ich mit dem gleichen Gefühl einer verpaßten Chance wie beim Rienzi aus selbiger Feder zurück. Dessen Ästhetik war ähnlich zwingend und der Gesamteindruck ebenfalls mit deutlichen Einbußen. Was ist also das Problem? Oder was ist meines, um im Duktus dieses Schriebs zu bleiben?

Ich weiß es nicht. Was ich weiß: ich habe nichts gegen Gralsritter, die wie Gralsritter aussehen, eine Klingsorwelt zwischen Voodoo und Azteken-Opferkult (im Gegenteil – ein schlüssiger Griff, den Gralskult mit einem ähnlich blutigen als Gegenkonzept zu kontrastieren), nichts gegen einen Erlöser im Anzug und nichts gegen ausinszenierten Weihrauch. Vielleicht stand doch in erster Linie das etwas kryptische Ende der Regiearbeit einem szenischen Triumph im Weg. Warum begeht Amfortas Selbstmord? Ist Kundrys Zwangstaufe als Fundamentalismuskritik zu verstehen? Wen verlacht sie am Schluß? Die neue Gralsgeneration? Eine Art Endlosschleife der Geschichte? Ihr eigenes Schicksal? Ist ihr Lachen Ausdruck von Verzweiflung? So ganz klar wurde das nicht. Und dabei war es unerheblich, ob die Fanatiker in Kettenhemd oder Parka eiferten.

Fazit: Ein bemerkenswerter Abend, der aus vielerlei Gründen am denkwürdigen vorbeigeschrammt ist. Ich werde die Produktion nach Möglichkeit mit anderer Besetzung noch einmal auf mich wirken lassen.


Richard Wagner – Parsifal
Musikalische Leitung – Donald Runnicles
Inszenierung – Philipp Stölzl
Co-Regie – Mara Kurotschka
Bühnenbild – Philipp Stölzl, Conrad Moritz Reinhardt
Kostüme – Kathi Maurer
Licht – Ulrich Niepel
Chöre – William Spaulding
Kinderchor – Christian Lindhorst
Dramaturgie – Dorothea Hartmann

Amfortas – Thomas Johannes Mayer
Titurel – Albert Pesendorfer
Gurnemanz – Matti Salminen
Parsifal – Klaus Florian Vogt
Klingsor – Thomas Jesatko
Kundry – Evelyn Herlitzius
1. Gralsritter – Burkhard Ulrich
2. Gralsritter – Andrew Harris
1. Knappe – Kim-Lillian Strebel
2. Knappe – Annie Rosen
3. Knappe – Paul Kaufmann
4. Knappe – Matthew Pena
Blumenmädchen (1. Gruppe) – Hulkar Sabirova, Martina Welschenbach, Rachel Hauge
Blumenmädchen (2. Gruppe) – Hila Fahima, Annie Rosen, Dana Beth Miller
Stimme aus der Höhe – Dana Beth Miller

Chor der Deutschen Oper Berlin
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