19:00 Uhr, 1. Rang Mitte, Reihe 3, Platz 16
Ein Mann nähert sich prüfenden Blickes einer Staffelei, wischt eine kleine Stelle in der Zeichnung aus, um eben dort aufs Neue eine kaum unterscheidbare Variation des Weggewischten aufs Papier zu bringen. Er tritt einige Schritte zurück, neben eine Kamera, deren Fernauslöser er betätigt. Die Prozedur wiederholt sich unzählige Male. Mit dieser Szene bin ich vor zehn, fünfzehn Jahren erstmals mit der Arbeit von William Kentridge in Berührung gekommen. Es war eine Dokumentation auf arte, ein Portrait des südafrikanischen Künstlers. Seine Animationsfilme wie „Mine“ oder „Felix in Exile“ haben mich damals auf Anhieb fasziniert und bewegt, so daß mich seither die Nennung seines Namens in Fernseh- oder Ausstellungsprogrammen immer wieder anspornte, mich mit seinem Werk auseinanderzusetzen – sei es in der Hamburger Kunsthalle oder bei einem Ausflug zur Documenta 2012.
Jener Abstecher nach Kassel zeigte mir dann mit seiner Installation „The Refusal of Time“ besonders deutlich, wie stark in Kentridges Arbeit die Wechselwirkung zwischen dem Visuellen und Musik doch ist – eigentlich ein absolut naheliegendes Faktum, hält man sich einmal vor Augen, wie viel auch in den Animationsfilmen die jeweils unterlegte Musik zur Atmosphäre beiträgt. Hier in einem alten Bahnhofsgebäude war man jedoch selbst Teil eines klingenden Raumes, umringt von den projizierten Animationen, beschallt von Sprache, Musik und Geräuschen, insbesondere dem stetigen Ticken gigantischer Metronome. Die Einbindung ähnlicher Apparaturen sollte mir als ein wesentliches Element nun auch in der Kurzoper „Refuse the Hour“ wiederbegegnen.
Überhaupt gab es eine Fülle von Anklängen an Vertrautes aus dem Œuvre des Künstlers, seine Collagen, seine Kohlezeichnungen, die Scherenschnitte, verschiedene Formen von Animationen, aber auch mir im Zusammenhang mit Kentridge kaum geläufiger Elemente. Beziehungsweise ist das auch nicht ganz richtig, eher Elemente, die in seinen Filmen durchaus auftauchen, hier jedoch eben als Bausteine einer Bühnenaufführung Verwendung fanden – Tanz, Gesang, Musik. Und nicht zu vergessen natürlich noch ein weiteres zentrales „Element“ – Kentridge selbst als Protagonist. Oder besser: Teil des Ensembles, denn er fungiert eher als rahmender, strukturierender Erzähler denn als Künstlersonne, um die seine Kollegengestirne zu Kreisen haben. Ein sympathischer, geistreicher, humorvoller, nachdenklicher älterer Herr, der seinen Gedanken nachgeht. Gedanken über die Zeit, um genau zu sein.
Daß ich zuvor den im Vorwege durch Kentridge am Schauspielhaus abgehaltenen „Drawing Lessons“ beigewohnt hatte, erwies sich für die Rezeption der Oper als durchaus hilfreich, wobei die Teilnahme auch nicht Vorbedingung für deren Verständnis war. Man konnte nur bereits einen guten Einblick in die Art des Künstlers gewinnen, in der er sich den Themen widmet, die ihn umtreiben. Kurze philosophische Abhandlungen wechseln mit Betrachtungen zur Zeitgeschichte, in denen immer wieder die historische Entwicklung seiner Heimat Südafrikas, ja des gesamten afrikanischen Kontinents im Widerstreit der Einflüsse des Kolonialismus und ureigener Tradition, zur Sprache kommt. Themen, die auch in das Bühnenwerk eingeflossen sind. Der Stellenwert der Zeit bildet gewissermaßen den Rahmen für all diese Gedankenspiele.
Die Umsetzung erfolgt als lose Aneinanderreihung kurzer, von Kentridge vorgetragenen Essays, die von Tanz, Musik und Videoeinspielungen verbunden oder auch untermalt werden. Dabei weiß das Stück gerade in der Verschiedenheit der z.T. recht ungewöhnlichen Nummern bzw. Sätze zu überzeugen, die eine Fülle an kreativen Eindrücken für Auge und Ohr bereithalten. Allein schon die Mannigfaltigkeit der eingesetzten Mittel der Darsteller ist beeindruckend. Rezitation (vorwärts wie rückwärts – ein beliebtes Stilmittel Kentridges auch in seinen Animationen), Sprechgesang, Liedgesang, Traditionals, Operngesang, Ausdruckstanz, Schauspiel, usw. dazu ein sehr variabler Einsatz der Musiker vom Solisten bis zum Ensemble.
All diese Einzelteile ergaben in der Summe tatsächlich ein abendfüllendes, poetisches Ganzes, das die Zuschauer auch ohne Handlung im eigentlichen Sinne in seinen Bann zog. Kentridges Gedanken zur Zeit ließen selbige für mich zumindest im Fluge vergehen. Ich bin froh, diesen außergewöhnlichen Künstler einmal direkt erlebt haben zu dürfen und sein Werk um eine weitere nahe gehende Facette erweitert weiß.
William Kentridge – Refuse the Hour
Konzept und Libretto – William Kentridge
Musik und Orchester Leitung – Philip Miller
Choreografie – Dada Masilo
Videokonzept – William Kentridge, Catherine Meyburgh
Bühnenkonzept – Sabine Theunissen
Kostüme – Greta Goiris
Schauspieler Regie – Luc de Wit
Konzeption der Maschinen – Christoff Wolmarans, Louis Oliver, Jonas Lundquist
Licht – Urs Schoenebaum
Mitarbeit Licht – John Torres, John Carroll
Sounddesign – Gavan Eckhart
Video Regie – Kim Gunning
Dramaturgie – Peter Galison
Mit William Kentridge
Dada Masilo – Tänzerin
Jacobi de Villiers – Mezzosopran
Joanna Dudley – Sängerin
Ann Masina – Sängerin
Thato Motlhaolwa – Schauspieler
Adam Howard – Musikalische Leitung, Orchester Leitung, Trompete, Flügelhorn
Tlale Makhene – Percussion
Waldo Alexander – Violine
Dan Selsick – Posaune
Vincenzo Pasquariello – Klavier
Thobeka Thukane – Tuba