19:30 Uhr, Parkett links, Reihe 2, Platz 12
Manchen Abenden fiebert man ja mitunter Monate im Voraus entgegen. Große Namen, Berühmte Orchester oder persönliche Werk-Favoriten können diese bange Hitze für gewöhnlich aufsteigen lassen. Und manche Abende nimmt man einfach so mit. Mehr oder weniger spontan. Weil man gerade in der Stadt ist, zum Beispiel. So wie ich an diesem Freitag in Ljubljana, der letzten Station einer Reise durch Österreich, Ungarn, Kroatien und eben Slowenien. Ein ma(h)lerisches Städtchen mit hübschem kleinen Theater, welches – um einen modernen Anbau ergänzt – in alter Pracht zum Besuch des Gluck’schen Orpheus einlud.
Eine Oper, die mir bislang nur vom Hörensagen geläufig und musikalisch bis auf ein, zwei Nummern unbekannt war. Die tragische Geschichte selbst ist losgelöst von Gluck natürlich ein Begriff. Für umso mehr Verdutztheit sorgte dann der zur Schelmerei aufgelegte Gevatter Zufall, welcher mich gleich zweimal auf meiner Reise mit jener Sage in Berührung brachte. Zuerst auf dem gülden-eisernen Vorhang der Wiener Staatsoper und dann in der aktuellen Programmübersicht des hiesigen Theaters. Wenn das mal kein zaunpfahlbewehrter Wink des Schicksals war.
Und was soll ich sagen – selten bin ich, so unvorbereitet und bar jeder konkreten Erwartung, derart umgehauen und nachhaltig begeistert worden. Oder anders formuliert: Mein Einstieg in das musikdramatische Werk Glucks hätte unter keinem günstigeren Stern stattfinden können. Das Slowenische Nationaltheater Ljubljana hat mit diesem Orfeo ein Juwel im Repertoire, das sich in musikalischer Qualität, darstellerischer Hingabe und dramaturgischer Konsequenz mühelos mit Produktionen der namhaftesten Bühnen Europas messen lassen kann.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Bei der äußerst einfühlsamen musikalischen Leitung durch Marko Hribernik vielleicht, der diese überraschend schnörkellose, dabei ungemein tiefe und berührende Musik Kraft eines ihm differenziert und spannungsvoll folgenden Orchesters unter größtmöglicher Intensität und Wirkung entstehen ließ. Bei einem stets geforderten wie präsenten Chor, der Dank individueller, sinnstiftender Personenregie als organisches Kollektiv agieren durfte. Oder doch beim Triumvirat der Hauptpartien, ausnahmslos mit wahren Sänger-Darstellern besetzt, die mich das Nichtvorhandensein meiner Italienischkenntnisse vergessen machten.
Letzteres verdanke ich in erster Linie auch der Arbeit Jernej Lorencis. Eine Inszenierung, klar wie der helle Tag, dabei trotz äußerster Reduktion der Mittel voller Phantasie, Stringenz und Kraft. Und am Ende von solch erschütternder, leiser Wucht, daß das mythologisch Bildhafte, die alte, ferne Geschichte beinahe unerträglich persönlich anfaßt. Ich muß tief in meiner Erinnerung graben, einen Ausdruck ähnlich bodenloser Hoffnungslosigkeit auf der Bühne zu denken, wie das Bild des Orpheus auf seinem immerwährenden Weg, der Suche nach seiner Eurydike, unermüdlich, dabei nicht vom Fleck kommend, schließlich vom Alter gebeugt, taumelnd, verlöschend.
Was genau macht diese Inszenierung so intensiv? Zum Einen die bereits angesprochene, akribische, lebendige Personenregie, die sich nicht nur auf den Chor beschränkt, sondern in den Solisten jeweils begnadete Umsetzer gefunden hat. Daß dabei das titelgebende Paar auf solch fulminante Art und Weise durch Mitglieder des Hauses besetzt werden kann, ist alles andere als selbstverständlich und läßt auf ein starkes Ensemble schließen. Sowohl Norina Radovan als auch Jože Vidic haben dabei – neben großem darstellerischen Talent – eines gemein: Stimmen, die nicht allein über Wohlklang, sondern in gleichem Maße über Charakter verfügen.
Urška Arlič Gololičič als bald kindlich verspielter, bald sinnlich lüsterner Liebesgott weiß sowohl mit stimmlichen wie optischen Reizen zu überzeugen. Die Ambivalenz dieses Charakters wird besonders deutlich in der Szene, die die Transformation der Hochzeitsgesellschaft zu wilden Furien zum Inhalt hat. Gänzlich verwandelt zeigt sich Amor dann wiederum, wenn er fast zärtlich dem staunend gebannten Orpheus den Himmel zeigt. Dieser Moment gehört generell zu den Wundern des Werkes und speziell dieser Inszenierung. All die Wärme und Güte, die an dieser Stelle dem Orchestergraben, der Kehle und nicht zuletzt dem unschuldig-ungläubigen Blick Orpheus’ entströmen, gepaart mit dem Wechsel der Lichtstimmung, dem Erstrahlen des Saales, sind nur schwer in Worte zu fassen, berühren das Herz aber umso entwaffnender.
Das Faszinierende an diesem Abend ist auch, daß die Inszenierung – trotz der zentralen Rolle des Orpheus – eigentlich keinen „Star“ hat. Die Inszenierung ist gewissermaßen der Star. Ganz klar, ohne das suggestive Spiel Vidic’ wäre die Vorstellung nicht halb so ergreifend, aber es ist eben die Regie, die ihm durch eine fast schon statische, stets fokussierte Ausformung die entsprechenden Momente verschafft. Das Bühnenbild beschränkt sich dabei auf leichte Variationen des Immergleichen – Orpheus sitzt am Tisch der Hochzeitsgesellschaft und betrauert seine Eurydike, mal von den Gästen umringt, mal allein. An festlich gedeckter Tafel, dann wieder am abgeräumten Tisch. Selbst das Wiedersehen des Paares findet in dieser Form statt. Eurydike nähert sich aus des Dunkel der leeren Bühne dem am Tisch sitzenden Orpheus, auf diesem Tisch liegend haucht sie schließlich abermals ihr Leben aus – der Kreis zum Beginn der Aufführung ist geschlossen.
Die einzelnen Szenen sind teilweise durch Vorhänge voneinander getrennt, die so auf klassische Weise nicht nur die inhaltliche, sondern auch die musikalische Struktur nachvollziehen. Die exakte Wiederholung einer Szenenfolge relativ zu Beginn des Stückes ist dafür das prägnanteste Beispiel, weil hier das optische Déjà-vu in Bühnenbild und Choreografie der Darsteller gleichsam mit der Repetition des musikalischen Materials bei Gluck einhergeht und diese somit betont. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Mittel.
Überhaupt wartet die Inszenierung mit simplen, dafür umso zwingenderen Lösungen auf. Orpheus’ Reise wird lediglich durch das im Sitzen betätigte Laufband und einen geschulterten Gitarrenrucksack angedeutet, den der Barde schließlich bei der Besänftigung der Furien einsetzt, wenn er erreicht, daß der animalische Hochzeitsgast von seinem brutalen Akt abläßt. Die Verwandlung der festlichen Gesellschaft in Furien vollzieht sich lediglich durch Haare Raufen und tortenverschmierte Minen. Umbauten werden teilweise auch direkt sichtbar für alle durch Bühnenmitarbeiter getätigt, ohne das dadurch etwas von der Magie des Augenblicks verloren ginge. Im Gegenteil. Wenn sich schließlich die Last des Alters auf Orpheus einzig dadurch auf ihn legt, daß man ihm lapidar einen Gehstock in die Hand drückt und einen dünnen grauen Bart über das Kinn streift, ist der Effekt schmerzlicher, als es aufwändigste Maskenbildnerei vermöchte.
Weiterer Erwähnung bedarf der Umstand, daß Lorenci neben der eigentlichen Handlung noch eine weitere Ebene einzieht, indem er manche Charaktere doppelt. So wird die Betrauerte bis zu ihrem Erscheinen in der Unterwelt von einer anderen Darstellerin verkörpert (auch Amor schlüpft in ihre Rolle) und Orpheus scheint ebenso eine Art Pendant zu haben, das Eurydikes Tod im Gegensatz zum eigentlichen Sänger am Rand der Szene mit einem Zusammenbruch aufnimmt. Später werden wir irritiert Zeuge, wie dieser „seine“ Eurydike unter den Augen der Gäste erwürgt. Wie ist dies zu deuten? Als Sinnbild dafür, daß sich Orpheus selbst die Schuld am Tode seiner Geliebten gibt? Die Inszenierung blieb an diesem Punkt, zumindest für mich als Gluck-Neuling, rätselhaft – was die atmosphärische Dichte aber eher noch erhöhte.
So ist es insgesamt das Verdienst dieser Regiearbeit, zum Nachsinnen anzuregen. Nicht ohne Grund wird auf die glückliche Schlusswendung der Oper verzichtet und stattdessen der tragische Ausgang der mythologischen Vorlage ans Ende gesetzt. Die strenge Einheit des Raumes und das Stilmittel des im Sitzen beschrittenen, unendlichen Pfades lassen mich das Gedankenspiel fortspinnen, ob Orpheus die Reise überhaupt je außerhalb seines in Trauer gefangenen Geistes angetreten ist. Vielleicht ist er auch nie aufgestanden. Vielleicht sitzt er weiter an diesem Tisch und verharrt im Gram des Verlustes. Bis an sein eigenes Ende.
Fazit: Auch wenn er momentan nicht mehr auf dem Spielplan steht – für diesen Orfeo sollte jeder Opernfreund, der es einrichten kann, der schönen Stadt an der Ljubljanica einen Besuch abstatten.
Christoph Willibald Gluck – Orfeo ed Euridice
Musikalische Leitung – Marko Hribernik
Regie – Jernej Lorenci
Bühnenbild – Branko Hojnik
Kostüme – Belinda Radulović
Choreografie – Gregor Luštek
Licht – Andrej Hajdinjak
Dramaturgie – Tatjana Azman
Orfeo – Jože Vidic
Euridice – Norina Radovan
Amor – Urška Arlič Gololičič
Opernchor und Orchester des Slowenischen Nationaltheaters Ljubljana