18:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 16
Heute gab es in der Ural-Metropole eine zumindest an vielen deutschen Bühnen beinahe ausgestorbene Spezies zu bestaunen: Eine Inszenierung, die nichts will als illustrieren. Und das in jeder Wortbedeutung. Zum einen dienen Ausstattung und Personenregie einzig und allein dazu, die Handlung möglichst klar und eindeutig zu vermitteln, ohne den Inhalt – wie fast immer im „modernen“ Regietheater – in Bezug zu vergangenen oder aktuellen Entwicklungen zu setzen, ihn zu kommentieren, ihn zu interpretieren. Die Verortung erfolgt dementsprechend in einem „historischen“, oder besser phantastischen China grauer Vorzeit.
Zum anderen steht damit einhergehend die illustrative Qualität von Bühnenbild und Kostümen in Bezug auf Schauwerte im Vordergrund: Reich verzierte, opulente Gewänder oder ein imposanter Thron für den Kaiser. Dabei reflektiert die Wahl der Kleidung durchaus den Inhalt des Stückes. So ist das einfache Volk in einer Art uniformen Sackleinen auch optisch klar vom bunten, samten und seidenen Pomp des Hofstaates zu unterscheiden, das in den aufwändigst gearbeiteten Kleidern und Frisuren der Prinzessin kulminiert. Kalaf und seine Gefolgsleute wiederum trennen sich davon mit ihrem eigenen, „tatarischen“ Stil.
Auch die Funktion des Bühnenbildes geht über reine Beeindruckungs-Kulisse hinaus: Zwei hohe, halbrunde, bewegliche Wandelemente, die mittels Treppen oben begehbar sind, rahmen das kreisrunde Zentrum der Bühne ein und können es bei Bedarf komplett von den Blicken der Zuschauer abschirmen. So sind schnelle Dekorationswechsel zwischen den einzelnen Bildern ganz ohne Drehbühne, einzig mit genügend Muskelkraft von Chor und Statisterie möglich – nur einmal blieb die Mechanik, offenbar auf Rollen gelagert, hängen, konnte aber durch ein beherztes Hau-Ruck-Verfahren wieder auf Spur gebracht werden.
Sparsam eingesetzte Projektionen runden das Visuelle ab und liefern eine weitere Ebene, mit deren Hilfe Inhaltliches kenntlich gemacht werden kann – eben all das, was gegenständlich nicht unbedingt wirkungsvoll zu lösen wäre. So geht die Projektion des roten Mondes an entsprechender Stelle in einen Totenschädel über, wenn das grausame „Spiel“ der Prinzessin thematisiert wird, ebenso beim Auftritt des persischen Prinzen. Die Animation eines Baumes, der zwar wächst, blüht erst mit der Vereinigung des Paares zum Finale des dritten Aktes richtig auf – einfache, aber auch eindeutig zu dechiffrierende Bilder.
Ich würde behaupten, dass man auch ohne Italienischkenntnisse und Zuhilfenahme der Übertitel (In Jekaterinburg gut lesbar für alle des Kyrillischen Mächtigen seitlich an den Proszeniumslogen angebracht) zumindest den groben Gang der Handlung absolut verständlich übermittelt bekommt. Eine zutiefst einsteigerfreundliche Variante von Musiktheater. Und für all jene, die der Theateranteil der Produktion leicht unterfordert stimmen mag, hält das Musikalische mehr als genug Stimulanz bereit.
Herr Bogorad lässt das Orchester gleich vom Start weg explodieren, das im brüderlichen Wettstreit mit dem Chor die akustischen Grenzen des Hauses auszuloten sucht. Mir persönlich liegen Säle von mittlerer Größe wie dieser hier ausgesprochen, da ich Oper durchaus als physisches Erlebnis spüren möchte. Ist das Haus sehr groß, besteht immer die Gefahr, dass gerade die eruptiven Höhepunkte verpuffen. Natürlich soll das nicht heißen, dass Lärm eine vernünftige Dynamikregelung ersetzt, es verhält sich eher so, dass bei weniger Volumen einfach weniger forciert werden muss, um einen vergleichbaren Eindruck von Druck und Fülle zu erreichen.
Gleiches gilt für die Sänger, bei denen man sich oft mehr auf die stimmliche Qualität konzentrieren kann, denn auf die Fähigkeit, eine Riesenscheune zu beschallen. So kommt es trotz der die Extreme auslotenden Orchesterführung kaum zu Momenten, in denen die Sänger zugedeckt würden. Herr Bogorad scheint mir eher ein Freund der Kontraste im Ausdruck zu sein, der scharfe Ausbrüche dazu nutzt, das darauf folgende Liebliche und Feine noch wohliger wirken zu lassen. Hier und da ist man mit dem Chor nicht ganz zusammen, aber das kann im Eifer des Gefechts schon mal passieren.
Aus einer durchweg guten Ensembleleistung sticht Frau Perkhurova als Turandot noch einmal deutlich hervor. Ihr Sopran besitzt genau jene strahlende Autorität und Schärfe und gleichzeitig ungeheure Wärme und Zartheit, welche die Ambivalenz der Rolle zum Leben weckt. Ihre große Arie im zweiten Akt war definitiv der musikalische Gipfelpunkt des Abends und kann sich mit höchsten Ansprüchen messen. Gerade im (unfairen) Vergleich mit der ebenfalls sehr berührenden Leistung der Liu-Sängerin Frau Tenyakova, die mit einem wunderbar herzlichen, aber auch deutlich schlichteren Ton agiert, wird der Unterschied zwischen einer sehr schönen und einer ganz besonderen Stimme einmal mehr deutlich.
Herr Valiev als Kalaf bekommt standesgemäß für sein „Nessun Dorma“ eine kleine Bravo-Dusche. Er verfügt über den adäquaten Tenor-Stahl, wenn auch nicht von Gould’scher Durchschlagskraft oder Kaufmann’schem Schmelz. Dennoch mehr als solide. Darstellerisch ist er vielleicht am meisten von allen in das deskriptive Regiekonzept eingebunden. So zeigt er beispielsweise gestisch wie mimisch starkes Mitgefühl für das Schicksal seines Anwärter-Vorgängers oder zermartert sich kinnreibend mit tief in Falten gelegter Stirn bei den drei Rätseln das Hirn.
Dies mutet das ein ums andere Mal wie aus vergangener (Stummfilm-)Zeit an, fügt sich aber ebenfalls in den „illustrativen“ Ansatz. Die kleineren Rollen sind ordentlich besetzt, obgleich das Minister-Trio eine Spur spritziger hätte ausfallen können – so gehörten die an sich gewitzten, scherzoartigen Passagen zu den schwächeren der Aufführung. Dafür wurde gerade bei den Massenszenen nicht an Pathos gespart, und das Ergebnis hat definitiv Eindruck hinterlassen.
Was bleibt ist ein Abend ganz für die Musik, was ja nicht das Schlechteste ist angesichts dieser herrlichen Partitur. Es wäre wirklich interessant gewesen, Puccinis Lösung für diese im doppelten Sinne unwahrscheinliche Liebe zu hören – sofern er denn überhaupt eine ihn zufriedenstellende gefunden hätte. Alfanos Finale ist ganz sicher nicht ohne Wirkung, aber eben kein invertierter Liebestod. Aber vielleicht war es besser so, die Liebe aus dem Märchenland mit Glanz und Gloria zu feiern, wenn der Maestro selbst an der Suche nach dem Menschlichen auf den Trümmern des Unmenschlichen zu scheitern drohte. Turandot – faszinierend und letztlich unbarmherzig gegen alle, das passt doch.
Turandot, Oper in drei Akten
Musik – Giacomo Puccini
Libretto – Giuseppe Adami, Renato Simoni
Musikalische Leitung – Alexey Bogorad
Regie – Jean-Romain Vesperini
Chor – Elvira Gaifullina
Bühne – Dirk Hofacker
Licht – Christophe Chaupin
Video – Ilia Shusharov
Assistenz – Yaroslavia Kalesidis
Turandot – Anna Perkhurova
Kalaf – Ilham Valiev
Liu – Olga Tenyakova
Timur – Mikhail Korobeynikov
Ping – Valery Gordeev
Pang – Igor Leus
Pong – Sergey Osovin
Kaiser Altoum – Dmitriy Rozvizev
Mandarin – Yuriy Devin