19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 15
Nachdem ich vor einiger Zeit mittels Met-Liveübertragung – wenn auch zugegeben eher mit einem Ohr – den Gounodschen Faustklängen gelauscht hatte, stand nun der erste Selbstversuch vor Ort auf der Agenda. Als Konsument eher rechtsrheinisch beheimateten Liedgutes, vorgewarnt durch manch teutonische Schmähschrift über die Sirup-Sangesfreuden des vermeintlichen Goethe-Trivialisateurs, den Meyerbeer-Gegenbeweis im gedanklichen Reisegepäck, war ich dementsprechend auf alles vorbereitet. Nun ja, vielleicht auf alles mit Ausnahme der zäh dahinplätschernden Nichtigkeiten, die den Abend musikalisch dominieren sollten. Selten habe ich eine größere Diskrepanz zwischen äußerlichem, alle Ebenen der Darbietung durchwirkendem Glanz und innerer, will meinen musikalischer Hohlheit erleben dürfen.
Wo bei Meyerbeer die sauertöpfische Wagnerianer-Beckmesserei an der schieren Überfülle an melodischen, dramatischen und instrumentationstechnischen Genialitäten aus der Sicht eines jeden abprallen muß, der Musik fernab irgendwelcher konstruierten Dogmen und nationalen Sandkastenspiele liebt, läßt mich die lauwarme Langeweile der Faust-Musik angesichts ihrer unbestreitbaren Beliebtheit gleichsam verblüfft und befremdet zurück. Das ist sie also, die erfolgreichste Faustumsetzung, die je für die Opernbühne komponiert wurde – drei Stunden heiße Luft, in Hamburg offenbar noch gekürzt, wie ich dem Programmheft entnehmen konnte. Aber so genau möchte ich mich in diesem Fall gar nicht mit irgendwelchen Strichen oder Fassungen befassen, das macht den Pudel auch nicht fett. Insbesondere im ersten Teil säuselt die Musik dermaßen undramatisch am geneigten Ohr vorbei, daß ich von Glück sagen konnte, mit einer solch vollendeten Darreichung entschädigt worden zu sein.
Gleich ab den ersten Takten der Ouvertüre wird klar, daß Herr Eschwé willens und fähig ist, mit den Philharmonikern eine erstklassige Leistung abzurufen. Sensible Einsätze, zarte Phrasierungen, ein geschlossener, farbenreicher Klang, lassen mich beruhigt in meinen Sessel sinken. Dirigat und Orchesterleistung ließen an diesem Abend dann auch keine Wünsche offen. Ob Tutti oder Solo, die Ausformulierung feinster Nuancen oder der zupackende Elan in den Tableaus, der zarte, samtige Klang der gedämpften Streicher oder das sonor drohende Blech – heute paßte es einfach im Graben der Staatsoper. Woran das ungemein vielschichtige, stets regulierende und gestaltende Dirigat Eschwés sicher nicht unschuldig war. Einzig der in einigen Szenen etwas unpräzise agierende Chor war leider nicht immer gewillt, das Bild musikalischer Perfektion abzurunden. Sei’s drum.
Demgegenüber schlug die Sängerriege mit einer solch geschlossen starken Leistung zu Buche, wie sie für eine Nicht-Premierenbesetzung kaum besser zu denken ist. Da war der mitunter leicht hölzerne, etwas schmelzlose Tenor des titelgebenden Charakters angesichts der stückgemäß von ihm auszugehen habenden Suggestivkraft noch das größte Manko. Zugegeben ein Luxusproblem, verfügte er doch insgesamt über eine schöne Stimme und – schreibt man den einen, brutal verunfallten Spitzenton höherer Gewalt zu – das nötige Rüstzeug für eine solche Titelpartie. Besondere Erwähnung verdient noch der üblicherweise selten anzutreffende, in diesem Falle sehr gelungene Einsatz der Kopfstimme als behutsamste Äußerung des Liebenden.
Angesichts einer stimmlichen und darstellerischen Ausnahmeerscheinung, der Faust sich hier in Gestalt von Ailyn Pérez gegenüber sehen durfte, war das auch wohl das Mindeste! Margerite war nicht nur Dreh- und Angelpunkt, sondern Krone des Abends. Ein lyrischer Sopran, dessen zart verhauchte Stimmungsbilder in einer schon fast mezzohaften dunklen Fülle ein selten anzutreffendes Gegengewicht erhielten. Einzig mancher forcierte Spitzenton wollte dann doch nicht in ebenso scheinbar müheloser Weise gelingen. Aber was wiegt ein einzelner Ton verglichen mit dieser Doppelbegabung als Stimm- und Bühnendarstellerin? Margerites Sehnen, Schwanken, Lieben, ihre Verzweiflung, schließlich ihr Wahnsinn – Frau Pérez’ Spiel und ihre Stimme legten eindringliches Zeugnis darüber ab.
Peter Rose als Mephisto ist eine sichere Bank – auch wenn die Rolle, wie sie im Stück angelegt zu sein scheint, ihn fast unterfordert. Auch er verdient bekanntermaßen die Bezeichnung Sängerdarsteller, heute ließ er mit einer Mephisto-Arie darüber hinaus eine Flexibilität seiner Stimme aufblitzen, die ich in dieser Form bei ihm nie vermutet hätte. Der Sänger des Valentin hat mich besonders beeindruckt. Welch ein klangschöner, intensiver Bariton, der die Zerrissenheit und Verzweiflung des Charakters einem förmlich entgegen schleuderte. Und auch die weiteren Nebenfiguren waren ohne Schwäche besetzt, so hätte ich dem kurzen Auftritt Wagners gern eine Verlängerung bewilligt.
Die Inszenierung durch Andreas Homoki hat nach meinem Dafürhalten das Optimum aus dem Stück herausgeholt. Wie schon gesagt, hat mich das Werk musikalisch und auch vom Aufbau her über weite Strecken teilnahmslos gelassen, aber die Inszenierung würde ich ohne Zweifel den besten Ergebnissen, die ich bislang sehen durfte, an die Seite stellen. Ein die Handlung trotz seiner vordergründigen Kargheit stetig widerspiegelndes, sie mehr noch vorantreibendes Bühnenbild, klare, verständliche, aussagekräftige Bilder, sinnhafte Kostüme, subtil gesetzte Lichtstimmungen, eine Personenregie, die in Einzel-, Ensemble- und Chorführung eine planvolle, intelligente Handschrift offenbart – wie oft trifft all dies so glücklich zusammen?
Ich möchte nur einige Aspekte aus dieser Regiearbeit anreißen, die für sich genommen sicher keinen Anspruch auf Originalität im eigentlichen Sinne erheben können oder wollen, in der vorliegenden Gesamtkonzeption aber die vorbehaltlos gelungene von der nichtigen Inszenierung trennen: Mephisto als Spiegelbild des alten Faust; das Böse kommt gleichsam zur Tür herein, wie aus ihm selbst heraus. Im Folgenden Mephisto als Bilderbuchteufel mit Hörnern und blutunterlaufenen Augen – Karikatur, Klischee, (Opern-)Tradition? Die Puppe Margerite als Männerphantasie und -Spielzeug. Bei ihrem Erscheinen unbeseelt und manipulierbar, vollzieht sie doch als einzige Figur eine wirkliche Entwicklung. Die Akteure tragen Masken, die sie im Moment der Entäußerung (oder besser doch Verinnerlichung?) abstreifen. Und der Teufel ist auch nur ein Mensch. Küchenstuhl-Variationen: Orte der Geborgenheit, Orte des Verlusts, Orte der Überhöhung. Man spielt mit der Puppe, man reißt die Puppe in Stücke. Ein gewaltiger Puppenblick nach oben; ein naiver, unschuldiger Blick – ein hohler, monströser Blick. Und am Ende ist alles wie im Anfang.
Ein großer Abend, dem kleine Musik nichts anhaben kann.
Charles Gounod – Faust
Musikalische Leitung – Alfred Eschwé
Inszenierung – Andreas Homoki
Bühnenbild und Kostüme – Wolfgang Gussmann
Licht – Frank Evin
Chor – Christian Günther
Spielleitung – Petra Ingeborg Beyerlein
Faust – Giuseppe Filianoti
Méphistophélès – Peter Rose
Valentin – Ljubomir Puskaric
Wagner – Alexander Tsymbalyuk
Margerite – Ailyn Pérez
Siébel – Juhee Min
Marthe – Renate Spingler
Philharmoniker Hamburg
Chor der Staatsoper Hamburg