15:00 Uhr, Orchestersessel links, Reihe 2, Platz 50
Munteres Treiben in Düsseldorf. Gestern Eurovision Song Contest, heute CSD. Manga-Mädchen und blasse Burschen in der Stadt. Oder ist das noch eine andere Veranstaltung? Ein Ausflug des Hello Kitty Betriebsrates? In jedem Fall braucht es Perücken und Glöckchen – wozu auch immer.
Auch diese Produktion untermauert meine Vermutung, daß die Oper am Rhein, zumindest ihr Düsseldorfer Seitenarm, zu den ersten Häusern des Landes gezählt werden muß. Gäste und Ensemblemitglieder von erlesener Güte, ein wunderbares Orchester, eine starke Inszenierung. Zudem klingt die Scheune wirklich gut, die Sänger kommen problemlos über den Graben. Es wäre traurig, wenn diese Institution durch Einsparungen Schaden nähme – der obligate Appell an die Opernehe und -Ehre fehlte auch heute nicht.
Zwar entließ mich die Darbietung nicht wie gestern komplett von den Socken, mit den Einzelfaktoren hatte dies jedoch nichts zu tun. Vielleicht hätte das Dirigat hier und da etwas spritziger, virtuoser ausfallen können, aber dann hat es sich auch schon mit derlei „objektiven“ Verbesserungsvorschlägen. In Greifswald hatte das Werk über die Maßen Wirkung bei mir gezeigt, ein Ergebnis, das sich angesichts meines eher zwiespältigen Verhältnisses zu Strawinsky nicht zur Selbstverständlichkeit entwickeln muß. Nach Greifswald war ich der festen Überzeugung, das Werk inhaliert und ins Herz geschlossen zu haben, heute konnte ich dies Gefühl nur bedingt wiederbeleben. Nun ja, die nächste Gelegenheit zur emotionalen Überprüfung wird sicher kommen, wahrscheinlich in einigen Monaten an der Lindenoper.
Ja der Strawinsky. Für Feuervogel und Sacre geliebt, für Kopfgeburten à la Apollon Musagète begähnt, für seine Britten-Anfeindungen belächelt. Kaum ein anderer Komponist hat derlei Klopper im Köcher und läßt mich auf der anderen Seite häufig so kalt. Mein erster CD-Eindruck von The Rake’s Progress war dann auch ein ziemlich angestaubter. Doch peu à peu kam ich den Feinheiten der Partitur auf die Schliche, lernte das ganze Gezopfe zu schätzen, mehr noch, zu bewundern. Seinen Höhepunkt erlebte meine Strawinsky-Renaissance wie gesagt mit der seligmachenden Greifswalder Premiere. Daß heute die Säfte eher auf Sparflamme zum Kochen gebracht wurden, hätte den beherrschten Tonsetzer selbst wahrscheinlich erfreut, scheint er doch der Contenance Zeit seines Lebens zugeneigt gewesen zu sein.
Warum Matthias Klink und Bo Skuvhus regelmäßig auf den Besetzungszetteln nicht gerade unbedeutender Häuser zu finden sind, dürfte sich rumgesprochen haben, was an diesem Nachmittag weit mehr frohlocken ließ, war die zusätzlich bestechende Qualität der hiesigen Sänger. Zwei Beispiele: Wer eine Anne Trulove aus den eigenen Reihen mit einer Sängerin wie Anett Fritsch besetzen kann, braucht sich wohl auch sonst um die lyrischen Sopranpartien keine Sorgen zu machen. Neben aller technischen Finesse, Geschmeidigkeit, Wärme und Empathie kommt man einfach auch in den Genuß einer schönen Stimme. Vielleicht ist das ein gutes Fazit meines Düsseldorf-Abstechers – schöne Stimmen. Beispielorgan Nr. 2 gehört Bruce Rankin, der „nur“ die relativ kurze Episode des Auktionators Sellem zu bestreiten hat. Doch wieder: welch klangschöner Tenor für diese kleine Rolle! Nachgeschlagen: Ensemblemitglied seit 1998 – da muß es einem um Loge und Co. in Düsseldorf nicht bang sein. Die Liste ließe sich fortsetzen und ist bereits durch den gestrigen Abend eng beschrieben.
Die Inszenierung setzt in stimmungsvollen bis grellen Bildern den Niedergang Rakewells librettotreu um, wobei die einzelnen Szenen strikt durch Vorhänge getrennt werden. Für meinen Geschmack trotz (oder wegen?) manches Fleckens nackter Haut und schrillen Tuchs ein wenig zu brav. Das fängt beim letztlich doch geniert agierenden Bordellpersonal an und hört bei der ziemlich harmlosen Baba auf. Hier wie dort ein wenig Provokation light. Dann doch lieber ganz ohne, oder mit Andeutungen arbeiten. Aber bis auf Detailfragen dieser Art gab es nichts an der Regiearbeit auszusetzen. Am stärksten empfand ich gerade das Eingangsbild der ländlichen Idylle, auf die Nick seinen Schatten wirft, die unheilvolle Aura insbesondere durch seinen teilnahmslosen Hilfs-Homunculus generierend.
Bo Skuvhus ist schon ein Teufelskerl – wenn das allzu nahe liegende Bild erlaubt ist – stimmlich ein Orkan und darstellerisch nicht minder stürmisch. Matthias Klink zudem ein besonderer Tenor, eine seltene Kombination aus oratorienhafter, schlanker Lyrik und beachtlichem Stahl. Mir mitunter einen Tick zu weinerlich, auch wenn die Rolle diese Ausgestaltung nahe legt. Beide zusammen bilden naturgemäß das Zentrum auch dieser Inszenierung, wobei für mich die Sängerin der Anne zur heimlichen Heldin des Abend wurde, weil sie die Wandlung vom naiven Anhängsel zur selbstbestimmten, handelnden Frau in jedem Stadium absolut glaubhaft auf die Bühne brachte.
Ein besonders zwingender Kulisseneffekt sei an dieser Stelle noch erwähnt: Im Übergang zur Irrenhausszene wird auf den Vorhang verzichtet, stattdessen entschweben die Wände der prunkvollen Rakewell-Villa gen Schnürboden, wobei jedoch zwei bislang in das Raumgefüge integrierte korinthische Säulen an ihrem Platz bleiben und, nun freistehend, den Rahmen für das mythologisch verklärte Scheiden des Paares bilden. Ebenso subtil wie eindrucksvoll.
Mein Düsseldorfer Fazit hatte ich ja bereits formuliert, daher zur Abwechslung mal was schlecht Gereimtes: Am Flusse steht ein Musenhain, es ist die Oper (deutsch) am Rhein.
Igor Strawinsky – The Rake's Progress
Musikalische Leitung – Axel Kober
Inszenierung – Sabine Hartmannshenn
Bühne – Dieter Richter
Kostüme – Susana Mendoza
Licht – Volker Weinhart
Chorleitung – Christoph Kurig
Dramaturgie – Anne do Paco
Tom Rakewell – Matthias Klink
Anne Trulove – Anett Fritsch
Nick Shadow – Bo Skuvhus
Baba the Turk – Susan Maclean
Mother Goose – Bonita Hyman
Trulove – Sami Luttinen
Sellem – Bruce Rankin
Wärter des Irrenhauses – David Jerusalem
Nick Shadows Gehilfe – Harald Beutelstahl
Chor der Deutschen Oper am Rhein
Düsseldorfer Symphoniker