Es ist schon eine ganze Weile her, daß ich in der Kulturkirche Altona zu Gast war, das müßte ein Wagner/Liszt-Abend vor einigen Jahren gewesen sein. Konzept und Ambiente hatten mich damals sehr überzeugt, trotzdem sollte es mit dem Folgebesuch sträflicher Weise erst jetzt klappen. Die seltene Gelegenheit, eine der Kirchenparabeln Brittens einmal jenseits der Stereo-beschallten heimischen vier Wände hören, viel mehr noch, als nicht bloß konzertante Aufführung erleben zu dürfen, gab dafür den Ausschlag. Kirchenparabel in Kirche – könnte was werden. Daß, zumindest für den Premierentermin, nicht wenige Menschen diese Einschätzung offenbar teilten und den Weg ins unbeheizte Gestühl des Gotteshauses antraten, hat mich als Britten-Apologet und überzeugten Resterampen-Hörer sehr gefreut.
Und ich sollte mich nicht täuschen. Wobei für den großen Aha-Effekt weniger mein untrügliches Gespür, sondern vielmehr mein trübes Gedächtnis sorgte, welches mich erst ab dem unmittelbaren Erklingen des Werkes mit dem überraschenden Umstand erfreute, daß selbiges schon hübsch ordentlich in einer etwas angestaubten Akte der oberstüblichen Musikverwahrung abgelegt worden war, um dem heutigen Erst-Live-Erlebnis zugute zu kommen. Gelobt seien die Windungen des Archivs. Daß es durchaus von Vorteil sein kann, ein Opus zumindest einigermaßen zu kennen, zumal ein unüppiges wie dieses, konnte man eindrucksvoll am nervtötenden Zappelphilippgebaren meines Banknachbarn ablesen. Aber geschenkt, insgesamt war die Atmosphäre durchaus von Konzentration geprägt – nicht selbstverständlich bei diesen kargen Tönen.
Aber was heißt schon karg. Einmal mehr beweist sich Britten als Meister der intimen Form. Die Klänge, die er dem äußerst überschaubaren Ensemble entlockt, suchen Ihresgleichen. Neben der einfachen wie wirkungsvollen leitinstrumentalen Zuordnung kommt die für Britten typische, zartbittere Harmonik voll zur Geltung. Feines, Irisierendes, Reibendes, unerhört Ungehörtes – behutsam, zerbrechlich, verflüchtigend. Welch ein Glück, daß mit Michael Connaire auch das stimmliche Zentrum des Abends erstklassige Besetzung fand. Ich konnte diesen wunderbaren Sänger bereits 2005 einmal in einem Konzert der Hamburger Camerata kennenlernen – ebenfalls mit Britten, der Serenade für Tenor, Horn und Streicher, um genau zu sein. So muß ein Britten-Tenor klingen. Jenseits des üblicherweise gern auch von mir angestrengten Pears-Kultes ist Connaire ein Mann, bei dem man genau diese Partien in guten Händen weiß. Eine schlanke Stimme, rein und klar einerseits, andererseits mit dieser feinen Nuance ins brüchig Verletzliche, die Brittens Empathie für geschundene Seelen Ausdruck zu verleihen gestattet.
Und geschunden ist diese Seele. Daß es hier, in diesem sakralen Rahmen, mehr noch als auf der üblich weltlichen Bühne um Läuterung, um Erlösung als christliches Motiv geht, mag manchen Besucher befremden – auf mich machte die schlichte Konsequenz des Werkes immensen Eindruck. Die pessimistische Deutung des Schlusses durch die Regie mag diesen Anspruch zwar relativieren, ist aber gerade vor dem Hintergrund einer Zeit interessant, in der für gewöhnlich nicht mehr „geglaubt“ wird. Das Erlösung bringende Wunder verkommt zur Hysterie-Befriedigung der sich in einen Rausch hineinsteigernden Menge. Der gebrochenen Seele der trauernden Mutter hingegen bleibt Erlösung versagt, ausgedrückt im letzten Bild, das sie sich weiter unentwegt dem Spiegel nähernd und zurückweichend zeigt, in dem sie ihres verstorbenen Sohnes für die Dauer des Wunders noch einmal gewahr werden durfte.
Ich persönlich muß dieser Interpretation ja nicht folgen, plausibel umgesetzt war sie allemal. Schön zu sehen, wie auch mit sehr reduzierten Mitteln die Geschichte intensiv erzählt wurde. Ein angedeutetes Cape und ein langer Stab machen aus einem Darsteller den Fährmann, der wie die anderen Hauptpartien mit Ausnahme der Mutter dem Kollektiv der Brachvögel entstammt: Wie auch die Instrumentalisten und der Dirigent tragen sie zu Beginn die gleichen schnabelartigen Kapuzen, einige der Chorsänger sitzen anfangs gar unter den Zuhörern und kehren nach dem Ende des Mysterienspiels auf diese Plätze zurück. Ein einfaches wie zwingendes Prinzip – der Curlew River ist (auch) unser Fluß. Die Szenerie selbst wird durch von Laken verdeckte, ansteigende Kirchenbänke (die Wellenassoziation als Sinnbild für den Fluß ist gleich da) und einer Rampe bestimmt, an deren Ende die Mutter den Spiegel finden wird, der sie für einen Moment mit ihrem Sohn wiedervereint. Jener streift schon, bevor die Handlung überhaupt begonnen hat, durch das Kirchenschiff, ein kleines Bäumchen im Arm – Ein Baum markiert in der Erzählung das Grab des Verstorbenen.
Fazit: Ein eindringlicher Abend, der analog zur Akustik des Spielortes noch für einigen inneren Nachhall sorgte.
Benjamin Britten – Curlew River
Musikalische Leitung – Matthias Mensching
Regie – Rahel Thiel
Bühne – Frederike Malke
Kostüm – Imke Ludwig
Dramaturgie – Isabelle Becker
Madwoman – Michael J. Connaire
Ferryman – Andreas Heinemeyer
Traveller – Immanuel Klein
Abbot – Tim Maas
Spirit – Jonathan Langbein / Philipp Schlaak
Flöte – Francesca Gebauer
kyōkai-Orchester