19:00 Uhr, Parkett links, Reihe 3, Platz 60
Leporello spricht mir aus der Seele: „Die Musik kommt mir zu den Ohren raus!“ Zwei, drei schöne Stücke und ein brauchbarer Showdown, verteilt über mehr als drei Stunden Fluchtversuch-Variationen des Titelhelden – das ist also die „Oper der Opern“. Wenn die Häscher nur ein wenig mehr auf Zack gewesen wären, und Don Ottavio seine Knarre nicht bloß zur Zierde herumtrüge, hätte man sich den kompletten zweiten Akt und mir einen Sack voll Langeweile sparen können. Nun ja, alles in allem war es, abgesehen vom gebotenen Werk, an sich ein richtig guter Abend hier in Ulm, denn sowohl musikalisch wie szenisch durfte ich eine starke Produktion erleben.
Leporello spricht mir aus der Seele: „Die Musik kommt mir zu den Ohren raus!“ Zwei, drei schöne Stücke und ein brauchbarer Showdown, verteilt über mehr als drei Stunden Fluchtversuch-Variationen des Titelhelden – das ist also die „Oper der Opern“. Wenn die Häscher nur ein wenig mehr auf Zack gewesen wären, und Don Ottavio seine Knarre nicht bloß zur Zierde herumtrüge, hätte man sich den kompletten zweiten Akt und mir einen Sack voll Langeweile sparen können. Nun ja, alles in allem war es, abgesehen vom gebotenen Werk, an sich ein richtig guter Abend hier in Ulm, denn sowohl musikalisch wie szenisch durfte ich eine starke Produktion erleben.
Der Garten der Lüste wird ausgehoben – so könnte man den Grundgedanken der Inszenierung zusammenfassen. Exotische Flora dominiert anfangs die Bühne, ein kleiner Urwald, in dem die Pflanzen zum Teil den Wuchs weiblicher Rundungen angenommen haben. Ein sinnig-sinnliches Bild für den Bestäubungstrieb des Herzensbrechers. An eben diese gebrochenen Herzen gemahnen endlose Papiertaschentuch-Lianen, die vom Schnürboden herabhängen. Doch spätestens am Ende des ersten Akts kündigt sich die Zeitenwende an: in Form eines riesigen Bagger-Arms, der sich aus der Höhe bedrohlich auf die Szenerie senkt.
Mit Beginn des folgenden Aktes ist der Wandel vollzogen. Der Garten ist einer umzäunten Baustellengrube gewichen, über welcher der Bagger thront. Die Zeiten ändern sich – auch für adlige Schwerenöter – diese Erkenntnis greift nicht allein inhaltlich mit dem Fortschreiten der Handlung Raum, sondern eben auch äußerlich. Selbst die Erscheinung der Mitwirkenden zeugt davon. Hüllten sich jene im ersten Akt noch in schwarze, stilisierte Kostüme des Absolutismus, hat nach der Pause ein Garderoben- und Frisurenwechsel in Richtung Anfangsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Wobei sich die Standesunterschiede interessanterweise immer noch in Details der Kleidung äußern – so trägt Masetto nun einen schlichten Anzug, während unter anderem die kunstvollen Applikationen auf Don Ottavios Hemd weiterhin Hinweis auf dessen gehobene Stellung geben.
Don Giovanni selbst tritt barfuß auf, den freien Oberkörper unter einem langen schwarzen Rock verborgen, der die Frivolität seines Auftritts wie eine Art Bademantel unterstreicht, den er jederzeit abzustreifen gewillt ist. Genau so wie ihn dieses Auftreten als Freigeist und Sinnesmenschen charakterisiert, nimmt es ihn von dem allgemeinen Wandel der Mode aus – im optischen wie übertragenen Sinne. Er ist und bleibt ganz Relikt einer überkommenen Zeit – das Adelsprädikat „Don“ in seinem Namen darf für den Erfolg seiner „Karriere“ sicher nicht unterschätzt werden. So ist denn die Einordnung als romantischer Edelmann und Herzensbrecher oder Wüstling, der seine Privilegien mißbraucht, um notorische Triebhaftigkeit zu befriedigen, immer auch eine Frage der Perspektive und des Grades an Verklärung, den man solchen „Heldentaten“ einräumt.
Die Ulmer Inszenierung bezieht hier recht eindeutig Stellung. Ihr Don Giovanni ist zweifellos charismatisch, aber kein Übermann, eher allzu sehr von sich überzeugter Egomane, der den Bogen diesmal überspannt hat. Zu viele angefangene oder auch nur angestrebte Techtelmechtel verstricken den Macho in ein Netz, dem er sich eigentlich nurmehr pausenlos zu entwinden sucht, anstatt seiner unendlichen Eroberungsliste tatsächlich neue Einträge des Vollzugs hinzuzufügen. Diverse Türen mit darüber leuchtendem Notausgangsschild verweisen auf dieses Dilemma, doch der Flüchtige nimmt keine der Optionen wirklich wahr.
Die finale Freveltat der Toteneinladung ist dann der Sargnagel dieser Komme-was-wolle-Attitüde, zuvor mehrfach angedeutet im Auftreten immer weiterer Inkarnationen des Komturs, schwarze, gesichtslose Todesboten, die Don Giovannis Treiben beobachten und langsam einkreisen. Am Ende ist jeder ein Teil dieser Racheengel-Auflösung, während der Bagger als Symbol einer neuen Zeit die dekadente Tafel mitsamt des unbelehrbaren Gastgebers zertrümmert. Der Epilog beschert dem Verführer einen letzten bezeichnenden Auftritt: Don Giovanni steht am Bühnenrand und versucht, eine weitere junge Dame zu betören, indem er ihr eine exotische Blume – letztes Relikt seines Zaubergartes – entgegenstreckt. Doch die potenzielle Eroberung würdigt ihn keines Blickes und läßt ihn stehen, die Magie wirkt nicht mehr.
Was mir an der Ulmer Umsetzung besonders gefällt, ist die Liebe zum Detail, mit der auch die übrigen Rollen beleuchtet und ihre jeweiligen Beweggründe plausibel dargelegt werden. Dies wird in erster Linie durch eine intelligente Personenregie gelöst, welche die Protagonisten besonders auch in den ariosen Momenten narrativen Stillstandes abseits jeder Rampensteherei szenische Tiefe verleiht. Spannend, wie sich Don Ottavio beispielsweise seine – wohl gemerkt von Donna Anna – zur Faust geballte Hand ansieht, sich gewissermaßen mit dem Gedanken der Rache anzufreunden scheint, um in der darauf folgenden Arie, angesichts der notwendigen Konsequenzen, sein schwankendes Herz erst zur Entschlossenheit führen muss – illustriert durch die mittels akzentuierten Lichteinfall akzentuierte Waffe, die er erst zögerlich, dann mit festem Griff an sich nimmt.
Oder die ganze Anlage der Rolle der Donna Elvira, deren kugelrunder Bauch anfangs sehr deutlich ihre Motivation erklärt, den Womanizer so hartnäckig an seine Pflichten zu erinnern und andere Damen vor ihm zu warnen. Eine tragische Färbung bekommt dieser Charakter in dem Moment, da sie im zweiten Akt ein Kissen unter ihrer Kleidung hervorzieht und wir den Inhalt des Reisekoffers gewahr werden, den sie permanent mit sich führt: Ein transportabler Schrein für den Verflossenen. Diese Donna Elvira ist einerseits, wie die übrigen Verfolger, getrieben von Rachegelüsten gegen Don Giovanni, kann andererseits jedoch auch nicht von ihm und der Erinnerung an die gemeinsame Zeit lassen. Täuscht sie eine Schwangerschaft vor, um ihn zurückzugewinnen, oder hat sie gar ein gemeinsames Kind verloren? Letzteres könnte man vermuten, wenn sie einer weiteren Komtur-Inkarnation eine Säuglingspuppe aus ihrem Koffer überreicht. So oder so, diese Frau ist zerrissen, das wird in der Arbeit des Regieteams sehr deutlich und anrührend gestaltet.
Darüber hinaus muss ich sagen, dass Frau Rosendorfsky diese Gestalt auch durch die Kraft ihrer darstellerischen Präsenz sowie zauberhaften Stimme prägt und in meinen Augen daher das heimliche Zentrum des Abends darstellte. Gerade auch ihre innigen Momente boten – neben der Arie „Dalla sua pace“ Don Ottavios, hervorragend dargeboten durch Herrn Sigurdsson – die musikalischen Höhepunkte, Inseln wahrer Einbindung und Anteilnahme, beachtlich vor allem vor der Tatsache, dass mich dieses Werk, wie bereits erwähnt, weitgehend kalt lässt. Generell hat mir die Ulmer Besetzung gut gefallen, auch Kwang-Keun Lee überzeugt in der Titelpartie mit Wohlklang und Charisma, einzig I Chiao Shih wies als Zerlina hier und da eine leichte Schärfe in der Stimme auf, war aber nichts Dramatisches.
Das wirkliche Drama ist und bleibt mein Verhältnis zu Mozart. Nach all meinen mehr oder minder glücklosen Konzertbegegnungen mit diesem Komponisten hatte ich mir ein Herz gefasst, es noch einmal mit Musiktheater zu versuchen; Die wenigen Don Giovanni-Eindrücke von CD in die lebendige Wirkung der Bühne zu überführen – letztlich leider nur ein weiteres gescheitertes Experiment. Ich denke, ich belasse es fürs Erste dabei. Wenn nicht einmal diese Oper zündet, werde ich von den übrigen Figaros, Entführungen oder Così fan tuttes lieber die Finger lassen, gerade auch angesichts der Unmengen spannender, reichhaltiger Werke, die sich wohlbekannt oder noch unentdeckt in den Spielplänen tummeln. Der Kontrast zum gestrigen Meyerbeer in Karlsruhe hat mir da wieder die Augen geöffnet.
Wolfgang Amadeus Mozart – Don Giovanni
Musikalische Leitung – Hendrik Haas
Inszenierung – Matthias Kaiser
Bühne – Marianne Hollenstein
Kostüme – Angela C. Schuett
Licht – Marcus Denk
Choreinstudierung – Hendrik Haas
Dramaturgie – Benjamin Künzel
Don Giovanni – Kwang-Keun Lee
Il Commendatore / Masetto – Mario Klein
Donna Anna – Edith Lorans
Don Ottavio – Thorsten Sigurdsson
Donna Elvira – Maria Rosendorfsky
Leporello – Tomasz Katunzy
Zerlina – I Chiao Shih
Opernchor des Theaters Ulm
Statisterie des Theaters Ulm
Das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm
Alfredo Miglionico – Cembalo