Manchmal sollte man einfach mal die eigenen Unterlagen konsultieren, bevor es auf Tour geht. Man prüft ja gern Besetzung und Kapellmeister auf seine Vorlieben, mit ein wenig Recherche hätte es aber in diesem Fall beim Regieteam klingeln müssen – zeichneten Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier doch bereits beim genialen Bremer Rosenkavalier verantwortlich (Link). So überrascht es im Nachhinein wenig, daß diesem Team auch in Karlsruhe mit dem Propheten Außergewöhnliches gelingt.
Die Verlegung der Handlung in die Gegenwart einer französischen Banlieue gerät ebenso natürlich wie sinnfällig. Der soziale Brennpunkt der Vorstadt wird zum plausiblen Nährboden für die Heilsversprechen der religiösen Eiferer und den Aufstieg ihrer Leitfigur als manipulierbares Racheprodukt einer korrupten Staatsgewalt. Gerade vor dem Hintergrund aktueller religiöser und kultureller Ressentiments resultiert aus dieser Aktualisierung ein spannender, nachdenklich stimmender Perspektivenwechsel, der die Mechanismen und Folgen eines Fundamentalismus offenlegt, der sich hier – ganz dem Libretto folgend – nicht etwa auf den Halbmond, sondern das Kreuz beruft.
Wobei die Diktion der Wiedertäufer in erschreckender Weise ein Abbild der Phrasen darstellt, mit denen vorgeblich religiös motivierte Agitatoren auch heute die Welt in Atem halten. Das ganze Vokabular des Hasses ist vertreten: Die Abgrenzung zu den Ungläubigen und Fehlgeleiteten, der Ruf nach deren Blut, die Verheißung rechtmäßiger, paradiesischer Zustände schon auf Erden. Und für all das muss das große Wort Gott herhalten. Man kennt das. Es ist das Verdienst dieser Inszenierung, das Offensichtliche zu formulieren: Es spielt keine Rolle, in welchem Gewand die Volksverhetzer und Manipulatoren in Erscheinung treten, Hass bleibt Hass und Leid bleibt Leid, egal durch welche Ideologie sie verbrämt werden.
Kommen wir zu den einzelnen Faktoren, die diese Produktion zu etwas Besonderem werden lassen. Das Bühnenbild ist nicht allein stimmungsvoll, sondern vor allem sehr dienlich, da es in Kombination mit der Drehbühne die stetigen Wechsel zwischen intimen Momenten und Massenszenen nahtlos gewährleistet. Auf der einen Seite haben wir einen zweigeschossigen Komplex, unten die trostlose Einfahrt eines Parkhauses nebst Garage, darüber die einfachen Räumlichkeiten von Fidès und Jean mit der Gastwirtschaft bzw. in diesem Falle eine Café-Bar. Die Rückseite des Aufbaus beinhaltet zusätzlich eine urbane, von einer Straßenlaterne illuminierte Hinterhofszenerie mit großer Freifläche (aufsteigende Stufen rahmen ein Basketballspielfeld), die sich für die Tableaus bestens eignet.
Gerade in der Ausgestaltung der Massenszenen zeigt sich die besondere Qualität der Regiearbeit. Hier wird nicht bloß dekorativ herumgestanden, die Personenregie umfasst bis ins letzte Detail alle Beteiligten, Choristen und Statisten eingeschlossen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Aufwiegelung der Menge durch die drei Prediger. Der musikalischen Steigerungsdramaturgie folgend, in der sich mit dem unheilvollen Choral das Gift erst schleichend und sublim ausbreitet, ist es eine Wonne, den einzelnen Reaktionen der einfachen Leute zu folgen. Nicht alle gehen sofort auf die Bibeln verteilenden Fremden ein, manche machen sich lustig oder spielen weiter Basketball, andere begegnen ihnen mit sichtbarem Argwohn. Doch nach und nach wird die Menge von den Einflüsterungen erfasst und gerät schließlich ihrerseits in einen Taumel soghaften Fanatismus, wie ich ihn selten auf einer Bühne eindringlicher und bedrohlicher dargestellt erlebt habe.
Und auch an den Details der Ausstattung merkt man, wie viel Mühe man darauf verwendet hat, das Milieu und seine Bewohner treffend abzubilden. Angefangen bei der Kleidung, die mit der ganze RTL 2-Bandbreite von Jogginghose-Unterhemd-Kombi, Ghetto-Gangster-Style bis Ed Hardy-Billig-Chic aufwartet, zu den Chromhockern und bunten Reklameschildchen der Bar, in der natürlich auf dem obligatorischen TV Fussball flimmert, beweist das Regieteam hier ein ausgesprochenes Händchen für Lokalkolorit. Die biedere Erscheinung der drei Prediger in ihren kurzärmligen Hemden, irgendwo zwischen Zeugen Jehovas und Staubsaugervertreter angesiedelt, bildet dazu den passenden Kontrast.
Hinzu kommt der dramaturgisch bereichernde Einsatz von Videosequenzen und Live-Kamera. Besonders letztere sorgt vor allem durch die eingefangenen Close-Ups der Darsteller für eine deutliche Intensivierung bestimmter Schlüsselszenen, allen voran während des „Wunders“ respektive der Leugnung der Mutter, da die Kamera die erschütternde Verzweiflung Fidès’ einfängt. Aber auch für die Demaskierung des Schmierentheaters, das Jean unter der Mitwirkung seiner Prophetenmacher veranstaltet, eignet sich dieses Medium perfekt, wenn der Zuschauer dem lächerlichen Bruch zwischen der dem Volk vorgegaukelten, triefend kitschigen Blue-Screen-Aura und tatsächlich berechnend-ausgeklügelter Studio-Propaganda-Arbeit parallel beiwohnt. Demagogen von Format wissen die Medien halt für sich zu nutzen, und Heilsversprechen verbreiten sich in TV und sozialen Netzwerken heutzutage nun mal schneller als auf Büttenpapier.
Aber auch was die Choreographie der Tanzeinlagen anbelangt, ist diese Produktion im hier und heute angekommen – Breakdance statt Ballett. Und die jungen Herren verstehen ihr Hand- bzw. Tanzwerk, Szenenapplaus für eine beeindruckende virtuose wie athletische Leistung.
Musikalisch ist diese Oper eine wahre Fundgrube, wie ich es schon bei bis jetzt jedem Werk aus der Feder Meyerbeers erleben durfte. Der Prophet folgt in meiner persönlichen Kennenlern-Reihenfolge auf Robert der Teufel und Vasco da Gama/die Afrikanerin, die berühmten Hugenotten stehen noch aus. Ich muß gestehen, daß ich an dieser Musik einen Narren gefressen habe, Koloraturenseligkeit hin oder her, bietet sie doch eine Fülle großartiger Eingebungen und beeindruckenden Abwechslungsreichtum. Gerade aus Wagnerianer-Sicht eine erfrischende Alternative für all diejenigen, welche mit den Drehorgelmelodien Verdis nicht viel anfangen können, aber einfach mal einen Abend voll inspirierter Musik ohne mythologischen Setzkasten im Gepäck genießen wollen. Wobei das nicht heißen soll, das Meyerbeers Tonkunst von schlichterer Faktur sei, ganz gewiß nicht. Mir persönlich macht es einfach Spaß, von der dramaturgischen Achterbahnfahrt in Partitur und Handlung mitgerissen zu werden – eine gute Show ist eine gute Show.
Und die wird einem hier in Karlsruhe geboten. Darstellerisch und sängerisch, ohne dabei jemanden aus dem sehr homogenen Ensemble hervorheben oder gar die immense Leistung des Chores vernachlässigen zu wollen, und ebenfalls bezogen auf Orchester und Dirigat. Angesichts solcher Abende wird es mir weiter ein Rätsel bleiben, warum eine flächendeckende Meyerbeer-Renaissance noch immer nicht abzusehen ist. Und jetzt bitte nicht mit „Es gibt kaum Sänger für diese Rollen“ kommen – wenn es danach ginge, dürfte beispielsweise auch der Tristan deutlich mehr das Schicksal einer bedrohten Spezies fristen, als es sein tatsächliches Erscheinen in den Spielplänen landauf landab abstreitet. Mut zur Innovationskraft aus dem angeblich Überkommenen, Mut zu Meyerbeer!
Giacomo Meyerbeer – Der Prophet
Musikalische Leitung – Johannes Willig
Regie – Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme – Rainer Sellmaier
Video – Manuel Braun
Licht – Stefan Woinke
Choreografie – TruCru / Incredible Syndicate
Chor – Ulrich Wagner
Einstudierung Kinderchor – Anette Schneider
Dramaturgie – Boris Kehrmann
Jean van Leyden – Marc Heller a. G.
Fidès, seine Mutter – Giovanna Lanza a. G.
Berthe, seine Verlobte – Agnieszka Tomaszewska
Zacharias – Avtandil Kaspeli
Jonas – Matthias Wohlbrecht
Mathisen – Renatus Meszar
Graf Oberthal – Ks. Armin Kolarczyk
Wiedertäufer / 2. Offizier – Mehmet Altiparmak
1. Bäuerin – Maike Etzold
2. Bäuerin – Ursula Hamm-Keller
1. Bauer – Jan Heinrich Kuschel
2. Bauer – Marcelo Angulo
1. Wiedertäufer – Doru Cepreaga
2. Wiedertäufer – Alexander Huck
1. Bürger – Ks. Johannes Eidloth
2. Bürger – Peter Herrmann
3. Bürger – Wolfram Krohn
4. Bürger – Alexander Huck
Kinder – Markus Heinen, Gabriel Mende, Moritz Prinz, Lea Siegrist, Moritz Warnecke
1. Offizier – Andreas von Rüden
3. Offizier – Oliver Reichenbacher
Policier – Alhagie Cham
TruCru / Incredible Syndicate – Levent Gürsoy, Mohamad Khamis, Faton Kurtishaj, Michael Massa, Trung Dun Nguyen, Hakan Özer
Live-Kamera – Achim Göbel, Arne Grässer
Badische Staatskapelle, Badischer Staatsopernchor, Extrachor, Cantus Juvenum Karlsruhe e.V., Statisterie des Staatstheaters Karlsruhe